Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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leicht ausnehmen konnte. Ter Haigasun schien als einziger die Fassung bewahrt zu haben. Seine Stimme klang ruhig und bedächtig:

      »Wir haben nur eine Nacht vor uns, das heißt, acht Stunden Finsternis ...«

      Er wurde mißverstanden. Selbst Aram Tomasian, dessen Herz durch den Gedanken an Howsannah, Iskuhi und das Kind zerrissen war, erwog heute allerlei nervöse Pläne. Er sprach allen Ernstes davon, daß es vielleicht am besten wäre, das Lager zu räumen und in den Felsrissen, Kalkhöhlen und Grotten der Steilseite Schutz zu suchen. Diese Anregung aber fand nur wenig Parteigänger. Es zeigte sich, daß die Menschen unsinnigerweise zu ihrem neuen Wohnort Liebe gefaßt hatten und ihn bis zur letzten Möglichkeit verteidigen wollten. Man begann hin und her zu streiten. Mit leeren Phantastereien drohte von den wenigen Stunden der Finsternis Minute um Minute fruchtlos abzubröckeln. Aus der ringsum gelagerten Volksmenge drangen dann und wann unterdrückte Frauenschreie und krampfhaftes Aufschluchzen. Dieser Tag hatte den Tod über mehr als hundert Familien gebracht, wenn man die Verwundeten mit einrechnete, die den Türken in die Hände gefallen waren. Auch wußte niemand, wie viele Schwerverletzte noch draußen in den Stellungen lagen, die bisher noch nicht ins Lager hatten gebracht werden können. Die schwere Nacht drückte wie eine niedrige Zimmerdecke auf den Musa Dagh. Als das Geflüster immer leerer und wirrer rann, wurde Gabriel Bagradian von Ter Haigasuns Stimme gewichtig getroffen:

      »Es bleibt uns nur mehr diese einzige Nacht, Bagradian Effendi! Müssen wir diese Nacht, diese acht kurzen Stunden nicht ausnützen?«

      Gabriel hatte sich, die Arme unterm Kopf, zurückgelegt und starrte in das schwarze Oben. Er konnte sich gegen den Schlaf kaum wehren. Alles versank. Sinnlose Worte plätscherten an sein Ohr. Ihm fehlte in dieser Sekunde die Energie, dem Priester auch nur eine Antwort zu geben. Er murmelte etwas Unverständliches in sich hinein. Da fühlte er auf einmal eine kleine eiskalte Hand, die sein Gesicht abtastete. Es war so finster, daß er Iskuhi nicht sehen konnte. Sie hatte ihn nach langer Irrfahrt von Stellung zu Stellung endlich gefunden. Nun setzte sie sich, als sei das selbstverständlich, mitten in den Kreis der Führer an seine Seite. Nicht einmal vor ihrem Bruder schien sie angesichts dieser einzigen und letzten Nacht Scham zu empfinden. Iskuhis kalte Hand wirkte auf Gabriel weckend und belebend wie frisches Wasser. Die Erstarrung begann von ihm zu weichen, sein Denken wieder zu keimen. Er setzte sich auf und nahm ihre Hand in die seine, ohne dessen zu achten, ob in der Finsternis jemand diese Zärtlichkeit bemerkte oder nicht. Iskuhis Hand schien ihn aus der stolprigen Wirrnis seiner Ermattung zu sich selbst zurückzuführen. Er atmete tief. Sein Zwerchfell straffte sich. Ein körperlicher Frohmut regte sich, wie ihn ein Durstiger empfindet, der sich satt getrunken hat. Der Führerrat verstummte plötzlich. Fremde Stimmen nahten. Alles sprang erschrocken auf die Beine. Türken? Mehrere Blendlaternen schwankten. Es war eine Abordnung der Komitatschis, die zurückkehrte. Sie wollten Befehl für morgen entgegennehmen. Die Komitatschis meldeten, daß von ihnen nur ein Mann gefallen und zwei gefangen worden seien und daß sie ihre Posten nach wie vor besetzt hielten. Zugleich berichteten sie, daß die türkischen Kompanien bis auf kleine Reserven die meisten Höhenabschnitte heimlich räumten, um in der Steineichenschlucht zusammenzuströmen. Die Verbindung zwischen dem eroberten Graben und der Hauptmacht werde durch Postenketten und Patrouillen aufrechterhalten. Die Absicht sei sonnenklar.

      »Wir werden diese Nacht benützen, Ter Haigasun«, rief Gabriel so laut, daß die ganze Menge es hören konnte. Im selben Augenblick schien auch die Lähmung der anderen Führer überwunden zu sein. Alle Köpfe durchblitzte der gleiche Gedanke, ehe Bagradian noch ein Wort gesagt hatte. Nur ein gewaltiger Überfall auf das türkische Nachtlager konnte den Untergang abwenden. Doch um den Überfall zu vollbringen, reichten die erschöpften Kämpfer dieses endlosen Bluttages nicht hin. Das ganze Volk, Frauen und Kinder mußten in irgendeiner Weise teilnehmen und mit der körperlichen Wucht von Tausenden dem Handstreich Nachdruck verleihen. Alles redete jetzt mit lauter Stimme durcheinander. Jeder Muchtar und Lehrer suchte seinen Vorschlag anzubringen, bis Gabriel mit scharfer Stimme Ruhe gebot. Man dürfe über diese Frage nicht laut verhandeln. Es sei nicht unmöglich, daß sich türkische Spione ins Lager geschlichen hätten. Gabriel Bagradian sandte Nurhan Elleon in seinen Abschnitt zurück, damit er von den zwanzig Zehnerschaften, die ihn besetzt hielten und die durch die Kämpfe verhältnismäßig wenig gelitten hatten, hundertfünfzig Krieger in tiefer Stille heranführe. Der Rest konnte und mußte genügen, um die dortigen Gräben und Felsbarrikaden im Falle eines Gegenangriffes zu behaupten. Desgleichen hatten die Südbastion und die Abschnitte des Bergrandes insgesamt zwanzig Zehnerschaften zu stellen, die auch wirklich im Laufe von zwei Stunden sich lautlos auf dem Altarplatz versammelten. Mit den Komitatschis und seiner fliegenden Garde brachte Bagradian eine Macht von mehr als fünfhundert Männern zusammen. Alle Bewegungen kosteten sehr viel Zeit, da nicht das leiseste Geräusch gemacht und kein Befehlswort gesprochen werden durfte, sondern nur das Notwendigste in knappen Silben geflüstert wurde. In der dichten Finsternis war es sehr schwer, die Einteilungen zu treffen. Nur die Kenntnis jedes einzelnen Mannes ermöglichte es Bagradian, in dem stumpfen und müden Haufen die beiden Gruppen zu organisieren. Die erste, größere wurde der Führung des Komitatschi-Häuptlings unterstellt. Nachdem sie etwas Proviant gefaßt und ihre Patronen ergänzt hatte – was in der Dunkelheit wiederum ein schwieriges und langwieriges Werk war –, zogen diese Männer ein Stück gegen Süden, um sich dann auf einem abgelegenen Wildpfad unendlich vorsichtig, mit traumhafter Schwerelosigkeit gleichsam, in Wald und Dickicht, über Lichtungen und Freihalden hinabzuschleichen und dem Türkenlager zu nähern. Nicht nur die schmiegsame Ortsvertrautheit kam ihnen zu Hilfe, sondern auch die Lagerfeuer der Kompanien, die der Jüsbaschi am Rande der Steineichenschlucht hatte anzünden lassen. Diese Feuer wurden auf kahlen oder felsigen Stellen unterhalten, weil sonst, obgleich die große Schlucht selbst dumpfig und feucht war, durch die Trockenheit des Waldwuchses leicht ein Brand hätte entstehen können. Trotz der Lagerfeuer aber gelang es den Komitatschiführern, die ganze ellipsenförmige Schlucht einzukreisen. In den Baumkronen saßen die erstarrten Armeniersöhne, hinter den dichten Arbutusbüschen lagen sie versteckt, da und dort schmiegten sie sich auch ohne rechte Deckung zwischen knorrige Wurzeln. Mit unbewegten Augen beobachteten sie das Lager, das allmählich zur Ruhe kam. Sie hielten ihre Gewehre in Bereitschaft, obgleich es noch mehr als eine Stunde dauern konnte, bis der Feuerüberfall oben auf dem Berg ihnen das Zeichen gab. Bagradian hatte Tschausch Nurhan Elleon beauftragt, mit der anderen Gruppe, die aus hundertundfünfzig Kämpfern bestand, diesen Überfall auf den verlorenen Abschnitt auszuführen. Nurhan schob seine Leute aus den Steinschanzen vor und an den Hauptgraben mit den Flankensicherungen heran. Nicht nur die Finsternis, auch ein wohlwollend singender Wind deckte diese kriechende und huschende Bewegung derart vollständig, daß die Armenier die Gräben von beiden Seiten ein Stück überholen konnten und sie somit umfaßt hielten. Ein besonderer Umstand begünstigte sie dabei. Die türkische Besatzung, eine der stark hergenommenen Kompanien, hatte unsinnigerweise ein paar Karbidlampen angezündet, die mit ihrem scharfen Licht die Soldaten grell erleuchteten, während es die Umgebung in tiefstes Dunkel tauchte. Die Armeniersöhne konnten auch hier in einer schier unendlichen Spanne und Ruhe das überdeutliche Ziel suchen. Es war, als ob niemand atme. Kein Glied rührte sich. Jedes Leben schien im stollenlosen Bergwerk dieser Nacht verschüttet zu sein.

      Wo der Saumpfad zwischen eingestürzten Mauern den Vorberg verläßt, um in die breite Rinne der Schlucht aufzusteigen, standen der Kaimakam und der Major am unteren Rande des Truppenlagers. Ein paar Soldaten mit Laternen und Fackeln warteten abseits, um ihnen zu leuchten. Der Jüsbaschi betrachtete seine sehr moderne Armbanduhr, die ein leuchtendes Zifferblatt besaß:

      »Höchste Zeit! ... Ich werde nämlich schon eine Stunde vor Sonnenaufgang wecken lassen.«

      Der Kaimakam schien um das körperliche Wohl des Majors sehr besorgt zu sein:

      »Wollen Sie nicht lieber die Nacht in unserem Quartier verbringen, Jüsbaschi? Sie haben einen schweren Tag hinter sich. Das Bett wird Ihnen wohltun.«

      »Nein, nein! Ich habe zum Schlafen keine Ruhe.«

      Der Kaimakam empfahl sich, ging, von den Laternenträgern gefolgt, zwei Schritte hinab, kehrte wieder zurück:

      »Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Jüsbaschi. Kann ich sicher sein, daß in den nächsten Stunden nichts Unerwartetes geschieht?«

      Der


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