Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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Woche ausbleiben. Sein ältester Sohn begleitete ihn zum Wagen des Kaimakams. Das Einsteigen fiel ihm wegen seiner kranken Hände und Füße schwer. Der Jüngling stützte ihn. Während Tschausch den einen Fuß aufs Trittbrett hob, sagte er gelassen und leise, damit der Kutscher nichts höre:

      »Oglum, bir, daha gelmem. Mein Sohn, ich werde nicht wiederkehren.«

      Er behielt recht. Der Mutessarif von Marasch machte mit Nazareth Tschausch nicht viel Federlesens. Trotz des warmen Geleitbriefes wurde er als Träger einer ihm verhüllten Schuld empfangen, scharfen Kreuzverhören unterzogen und schließlich als Hochverräter und als Mitglied einer staatsumstürzenden Verschwörung in das Gefängnis von Osmanije geworfen. Da man auch bei weiteren Versuchen nichts über die geheime Organisation der armenischen Verratsbewegung aus ihm herausbekommen konnte, ja nicht einmal etwas über die Deserteure von Zeitun erfuhr, verabreichte man ihm die Bastonnade schärfsten Grades. Nachher wurden seine blutigen Füße mit einer ätzenden Säure übergossen. Dem war sein Körper nicht mehr gewachsen. Er starb nach einer Stunde unfaßbarer Qual. Vor den Fenstern des Gefängnisses spielte Janitscharenmusik. Sie sollte mit Trommeln und Pfeifen die Schreie der Gefolterten hinter den Fenstern zudecken.

      Auch der Märtyrertod des Nazareth Tschausch hatte nicht die erwarteten Folgen. Es geschah vorerst nichts. Nur die Trauer und dumpfe Verzweiflung des Volkes nahm eine fast stoffliche Greifbarkeit an. In der finsteren Bergstadt brütete nun auch menschliche Finsternis, die den Atem verschlug wie schwarzer Nebel. Der März mußte kommen, damit zwei Vorkommnisse der Regierung endlich die Gelegenheit gaben, ihre Absichten zu verwirklichen. Das erste Geschehnis war ein Schuß aus dem Fenster. Ein Gendarmerieposten, der im Stadtbezirk Yeni Dünya vor dem Hause des hingerichteten Muchtars Tschausch vorbeischritt, wurde aus eben diesem Hause beschossen und leicht verwundet. Anstatt nun eine regelrechte Untersuchung durchzuführen, erklärte der Kaimakam lediglich, sein Leben sei in Zeitun bedroht, und verlegte, nach allen Richtungen Telegramme sendend, seine Residenz in eine außerhalb der Stadt gelegene Kaserne. Auch diese Handlungsweise entsprang deutlich seinem Wesen, das aus Dummschlauheit und ängstlichem Ruhebedürfnis gemengt war. Zugleich ließ er zum Schutze der mohammedanischen Bevölkerung eine »Bürgerwehr« ausrüsten, das heißt einige rasch zusammengetrommelte Hooligans bekamen ganz nach abdulhamidischem Muster je eine grüne Binde um den Arm und ein Mausergewehr in die Hand geliefert. Die guten türkischen Bürger, die in Zeitun lebten, rechtlich-würdige Menschen, waren die ersten, die sich über diesen Schutz empörten, den man ihnen angedeihen ließ. Sie gingen zum Kaimakam und forderten die sofortige Abschaffung der Wache. Es half nichts. Die Behörde war unerbittlich um ihre Sicherheit besorgt. Die Bürgerwehr gab nun endlich den sauberen Anlaß für jenen zweiten Vorfall, der die Entscheidung brachte. In einem kleinen öffentlichen Garten der Neustadt, Eski Boston genannt, pflegten sich am Nachmittag armenische Frauen und Mädchen gerne zu ergehen. Um einen schönen Brunnen standen ein paar Bänke im Schatten alter Platanen. Kinder spielten vor dem Brunnen. Die Frauen plauderten und handarbeiteten auf den Bänken. Ein Scherbetverkäufer schob seinen Wagen im Kreis. Dieser Garten wurde nun von den verlumptesten Mitgliedern der neuen Bürgerwehr überfallen. Die keuchenden Gesellen warfen sich auf die Armenierinnen, würgten sie und begannen ihnen die Kleider vom Leibe zu reißen. Denn ebenso groß wie die Mordlust an den Männern der verfluchten Rasse war die Tollheit nach ihren Weibern, diesen zartgliedrigen Geschöpfen mit ihren schwellenden Lippen und ihren fremden Augen. Wehgekreisch und Kinderschrillen erfüllte die Luft. Doch im Nu war Hilfe da. Eine Übermacht von armenischen Männern, die, Böses ahnend, den Stadtschützlern nachgeschlichen waren, schlug sie mit nackten Fäusten, Riemen und Stöcken krumm und lahm und nahm ihnen, zum eigenen Verderben freilich, sämtliche Gewehre und Bajonette ab.

      Offener Aufruhr gegen die Staatsgewalt! Der Tatbestand ließ sich nach dieser Entwaffnung der Hilfspolizei durch Aufständische nicht mehr leugnen. Noch am selben Abend wurde vom Kaimakam eine Auslieferungsliste herausgegeben, in der all diejenigen Einwohner namentlich angeführt waren, welche vom Gemeinderat selbsttätig der verhaftenden Behörde zuzuführen seien. In ihrer rasenden Erbitterung traten die betroffenen Männer zusammen, taten einen großen Schwur und verschanzten sich in einem alten Tekkeh, in einem verlassenen Derwisch- und Wallfahrtskloster, eine halbe Stunde östlich der Stadt. Als ihnen davon die Kunde ward, stieg vom Ala Kaja und andern Punkten des nahen Gebirges ein Teil der Deserteure nieder und vereinigte sich mit den Geflüchteten. In der kleinen Festung lagen alles in allem ungefähr hundert Mann.

      Der Mutessarif in Marasch und die Regierungsspitzen in Stambul sahen sich am Ziel ihrer Wünsche. Die Zeit der kleinen Herausforderungen war vorüber und der effektvolle Aufruhr in schönster Blüte. Nun durften die neutralen und verbündeten Konsuln ihre Augen vor den armenischen Umtrieben nicht mehr verschließen. Schon zwei Tage später traf in Zeitun militärische Assistenz ein, vorläufig zwei Kompanien von Linieninfanterie. Der Jüs-Baschi, der kommandierende Major, begann sofort mit der Belagerung. Aber mochte er nun ein wirklicher Held sein oder nur ein Schwachkopf – als er ungedeckt hoch zu Roß an der Spitze einer Abteilung auf das Tekkeh zusprengte, um die Festung auf diese sehr offenherzige Art im Handstreich zu erobern, wurde er nebst sechs seiner Soldaten durch sichere Schüsse niedergestreckt. Das war in der Tat mehr, als man verlangt hatte. Der Heldentod des Majors wurde sogleich in allen Städten des Reiches mit Posaunenstößen verkündet. Ittihad arbeitete fieberhaft, um dem Aufschrei der Empörung den rechten Nachdruck zu verleihen. Keine halbe Woche verging und Zeitun hatte sich in ein Heerlager verwandelt. Eine Streitmacht von vier Bataillonen und zwei Batterien war aufgeboten worden, um eine Rotte Verzweifelter und Fahnenflüchtiger auszuheben. Und dies geschah zu einem Zeitpunkt, da Dschemal Pascha jeden Mann und jede Kanone für seine vierte Armee brauchte. Trotz des gewaltigen Heerbanns aber wurde in das belagerte Kloster ein Parlamentär gesandt, um die Verlorenen zur Übergabe aufzufordern. Er bekam die antike Antwort:

      »Da wir schon sterben müssen, so sterben wir lieber im Kampf.«

      Das ganz und gar Überraschende jedoch war, daß sie nicht sterben mußten. Denn, kaum hatte die Belagerungsartillerie vier nutzlose Granaten gegen den verfallenen Bau abgegeben, als das Feuer auf irgendeine geheimnisvolle Einflußnahme hin plötzlich eingestellt wurde. Waren die wenigen Moslems, die sich unter den Eingeschlossenen befanden, ein zureichender Grund für solche ungehörige Menschlichkeit? Was aber auch immer damit geplant war, die lächerlich starke Streitmacht lag von Stund an untätig gegen das Häuflein von Deserteuren und Frauenverteidigern zu Felde und beschäftigte sich nach müßiger Soldatenart lediglich mit Menagieren, Pferdetränken, Rauchen und Kartenspielen. Die Einwohner von Zeitun sahen in dieser beklemmenden Ruhe mit Recht das Anzeichen eines besonders raffinierten Unheils. In ihrer Todesangst schickten sie eine Abordnung zum Kaimakam und baten, die tapferen Truppen möchten sie nur schnell von den verfluchten Rebellen befreien. Sie hätten mit ihnen nichts zu schaffen. Sollte einer der Missetäter in die Stadt flüchten, sie würden ihn erbarmungslos der Behörde übergeben. Wehmütig klagte der Kaimakam, die Vernunft komme zu spät. Das militärische Platzkommando fälle nunmehr alle Entscheidungen. Er selbst sei nur noch eine geduldete Nebensache. Die Abgesandten flehten, ob es nicht möglich sei, die Vermittlung Seiner Exzellenz des Wali Djelal Bey in Aleppo anzurufen. Wenn jemand die Verwicklung zum allgemeinen Besten lösen könne, so dieser würdige und wohlwollende Mann. Der Kaimakam verzog den Mund. Er könne nur raten, den Namen Djelal Bey aus dem Spiel zu lassen. Der Mutessarif habe ganz andere Verbindungen. Und Seine Exzellenz in Aleppo sei in dieser Hinsicht ein toter Mann. Das komme daher, wenn man der armenischen Millet zuviel Güte erweise. Er persönlich wisse ein Lied davon zu singen.

      An einem strahlenden Märzmorgen verbreitete sich das schreckliche Gerücht in der Stadt, die Belagerten seien in der Nacht mit Zurücklassung von zwei Toten, die sie aber unkenntlich gemacht hätten, entkommen und im Gebirge verschwunden. Wer von den Zeitunlis nicht wundergläubig war, fragte: Wie, hundert zerlumpte, höchst auffällige Gestalten können spurlos durch eine Kette von mehr als viertausend geschulten Soldaten verschwinden? Und der Frager wußte wohl, was es zu bedeuten habe. Das Gefürchtete traf schon um die Mittagsstunde dieses Tages ein. Der Militärkommandant und der Kaimakam machten die Gesamtbevölkerung für den Ausbruch der hundert verantwortlich. Die hochverräterischen Zeitunlis hätten auf irgendeine teuflisch verschlagene Weise die Belagerten durch den sanft schlummernden Truppenring an den Wachtposten vorüber entwischen lassen. Auf die Nachricht dieses Verbrechens hin eilte der Mutessarif höchstselbst


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