Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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Bestien. Es ist sogar anzunehmen, daß die Mehrzahl aus durchschnittlich guten Menschen bestand. Doch was soll er tun, der Saptieh? Er hat den scharfen Befehl, mit der ganzen Herde zu dieser und dieser Stunde dort und dort gestellt zu sein. Sein Herz begreift die brüllende Mutter ganz gut, die ihr Kind aus dem Graben reißen will, die sich auf die Straße hinwirft und in die Erde krallt. Kein Zureden hilft. Es dauert schon Minuten und die Station ist noch zwölf Kilometer entfernt. Der Zug stockt. Alle Gesichter verzerren sich. Aus tausend Mündern bricht ein Wahnsinnsgeschrei. Warum wirft sich diese Menge, so entkräftet sie auch ist, nicht auf den Saptieh und seine Kameraden, entwaffnet sie und zerreißt sie in der Luft? Vielleicht fürchten die Gendarmen einen solchen Wutausbruch, der ihr Ende wäre. Da gibt einer von ihnen einen Schuß ab. Die andern ziehen den Säbel und schlagen mit den scharfen Klingen auf die Wehrlosen ein. Dreißig, vierzig Männer und Frauen wälzen sich in ihrem Blut. Von diesem Blut aber kommt ein anderer Rausch über die erregten Saptiehs, die alte Gier nach den Weibern der verhaßten Rasse. In den preisgegebenen Frauen vergewaltigt man mehr als menschliche Wesen, man nimmt in ihnen den Gott des Feindes in Besitz. Nachher wissen die Saptiehs kaum mehr, wie sich all das zugetragen hat.

      Ein wandernder Teppich, aus blutigen Schicksalsfäden gewoben. Es ist immer dasselbe. Nach dem ersten Marschtag werden alle Männer im kräftigen Lebensalter von den übrigen Scharen getrennt. Da ist ein sechsundvierzigjähriger Mensch in guten Kleidern, ein Ingenieur; man kann ihn von seiner Familie nur mit Kolbenstößen wegtreiben. Sein jüngstes Kindchen ist erst anderthalb Jahre alt. Er soll bei einer Straßenbaukompanie eingeteilt werden. In dem langen Männerzug torkelt er wie ein Schwachsinniger, immer vor sich her lallend: »Ich habe doch den Bedel pünktlich bezahlt ... den Bedel bezahlt.« Plötzlich hält er seinen Nachbarn fest. Schwärmerischer Schmerz schüttelt ihn: »So ein schönes Kind hast du noch nie gesehen. Augen wie Teller groß hat das Mädel. Wenn ich nur könnte, wie eine Schlange wollt ich ihr auf dem Bauch nachkriechen.« Dann torkelt er weiter, ganz vereinsamt und umschlossen von seinem Weinen. Am Abend wirft man sich auf einem Berghang hin. Auch der Ingenieur scheint zu schlafen. Lange nach Mitternacht weckt er denselben Nachbarn. »Nun sind sie alle schon tot«, sagt er und ist ganz ruhig. – Da wandert in einem andern Transport ein Brautpaar. Sie sind noch sehr jung. Dem Bräutigam färbt kaum noch ein leichter Flaum die Oberlippe. Die Stunde droht heran, da die kräftigen Männer ausgeschieden werden sollen. Die Braut kommt auf den guten Einfall, ihren Geliebten in Frauenkleider zu stecken. Die List gelingt. Schon lachen die beiden Kinder in ihrer Seligkeit über die glückliche Verwandlung. Die andern aber warnen vor übereiltem Triumph. In der Nähe einer größeren Stadt kommen ihnen fremde Tschettehs, bewaffnete Freischärler, entgegen. Sie sind auf lustiger Frauenjagd begriffen. Die Wahl trifft unter anderen die Braut. Sie klammert sich an den Bräutigam: »Um Gottes willen laßt mich bei ihr! Meine Schwester ist taubstumm. Sie braucht mich!« – »Das ist kein Grund, dschanum, mein Seelchen! Die Hübsche da kommt auch mit.« Das Paar wird in ein schmutziges Haus verschleppt. Dort entpuppt sich die Wahrheit schnell. Die Tschettehs töten den Jüngling augenblicklich. Der Geschlechtsteil wird ihm abgeschnitten und in den Mund gesteckt, dessen Lippen noch mit Henna rotgefärbt sind, damit er mehr nach einer Frau ausschaue. Nach dem grauenhaftesten Mißbrauch wird das Mädchen nackt an die Leiche des Bräutigams gebunden, und zwar Kopf an Kopf, so daß sie das blutige Glied mit ihrem Gesicht berühren muß. – Wandernder Teppich, aus Schicksalen gewoben, die niemand entwirrt. Da ist immer wieder die Mutter, die tagelang ihr verhungertes Kind in einem Sack auf dem Rücken trägt, bis sie ihre eigenen Verwandten bei den Saptiehs anzeigen, weil sie den Geruch nicht mehr ertragen können. Da sind die wahnsinnigen Mütter von Kemach, die hymnensingend ihre Kinder von einem Felsen herab in den Euphrat werfen, mit leuchtenden Augen, als sei dies ein gottgefälliges Werk. Und da ist immer wieder ein Bischof, ein Wartabed. Und er schürzt seine Kutte, wirft sich nieder vor dem Müdir, weint: »Hab Erbarmen, Effendi, mit diesen Unschuldigen.« Der Müdir aber muß eine vorschriftsmäßige Antwort geben: »Mische dich nicht in Politik! Mit dir habe ich nur in kirchlichen Fragen zu verhandeln. Die Regierung achtet die Kirche.« – In manchen Transporten ereignet sich oft auch gar nichts Besonderes, keine bemerkenswerten Greuel, außer Hunger, Durst, Fußwunden und Krankheit. Aber es stand einmal eine deutsche Diakonissin vor dem Krankenhaus in Marasch, wo sie eben zur Dienstleistung eingetroffen war. Eine lange stumme Armenierschar trabte an dem Haus vorbei, in das sie eben treten wollte. Sie vermochte sich nicht zu rühren, bis die letzte Gestalt verschwunden war. In der Schwester ging etwas vor, was sie selbst nicht verstand: kein Mitleid, nein, auch kein Grauen, sondern etwas Unbekannt-Großes, eine Erhebung fast. Am Abend schrieb sie ihren Angehörigen: »Mir begegnete ein großer Zug von Ausgewiesenen, die erst kürzlich ihre Dörfer verlassen hatten und noch in recht guter Verfassung waren. Ich mußte lange warten, um sie vorüberziehen zu lassen, und nie werde ich den Anblick vergessen. Einige wenige Männer, sonst nur Frauen und Kinder. Viele darunter mit hellem Haar und großen blauen Augen, die uns so todernst und mit solch unbewußter Hoheit anblickten, als wären sie schon Engel des Gerichts.« Und diese armen Engel des Gerichtes zogen aus Zeitun, Marasch und Aïntab und dem Vilajet Adana; sie zogen aus dem Norden herab, aus den Provinzen von Siwas, Trapezunt und Erzerum; sie kamen aus dem Osten, aus Karputh und dem kurdenbewohnten Diabekir, aus Urfa und Bitlis. Jenseits des Taurus, noch vor Aleppo, verwoben sich all diese Transporte zu dem unendlichen, schleichenden Menschenteppich. In Aleppo selbst aber geschah nichts und in den wimmelnden Sandschaks und Kasahs des Vilajets geschah ebensowenig. Friedlich und unberührt lag die Küste, ruhte der Musa Dagh. Er schien die grausige Wanderung nicht zur Kenntnis zu nehmen, die in mäßiger Ferne an ihm vorüberrückte.

      Lange Wochen! In Yoghonoluk nahm, wie man so sagt, das Leben ruhig seinen Lauf. Freilich war hier die Redensart kaum im oberflächlichen Sinne zutreffend. Die Leute sprachen wohl nicht viel »davon«, aber das Unheimliche war, daß sie nahezu überhaupt nichts sprachen. Die Arbeit in den Feldern und Gärten, am Webstuhl und an der Drehbank wurde geleistet wie immer, unermüdlicher vielleicht, ja fieberhafter denn je. Die Verkäufer zogen sogar auch zu den Wochenmärkten nach Antiochia und brachten ihre Ware in gewohnter Weise los. Ebenso kamen nach altem Brauch die türkischen Einkäufer in die Dörfer und handelten gemächlich um jeden Para, als wäre nichts Besonderes im Gange. Alles war wie immer und doch ganz anders. Es lag auf den Menschen wie ein hypnotischer Schlaf, in dem man seinem regelmäßigen Geschäft nachgehen kann, ohne bei Sinnen zu sein. Jeder wußte alles. Jeder wußte, daß sein Leben vielleicht nur mehr eine Frage von Wochen war. Er wußte das und wußte es auch wieder nicht. Konnte denn die Gefahr an den Kindern des Musa Dagh nicht vorübergehen, da sich bis jetzt noch nichts gerührt hatte? Lud die abseitige Lage des Bezirkes die Machthabenden nicht ein, ihn zu vergessen? Verbarg sich unter der tiefen Stille nicht ein gutes Zeichen? So kam es auch, daß jeder diese Stille noch durch sein eigenes Schweigen steigerte, um die Geister nicht zu wecken, daß jeder sich in den geschäftigen Lebensschlaf seines Alltags verbohrte, um so zu tun, als wandle er in ewiger Sicherheit. Das Vorbild für diese Verhaltungsweise gaben Arzt Altouni, Apotheker Krikor und sogar Ter Haigasun. Der alte Doktor stattete auf dem Rücken seines Reitesels weiter Krankenbesuche ab, indem er auf sein verpfuschtes Lebenslos schimpfte, als könne es gar nicht mehr schlimmer kommen. Krikor versammelte die Lehrer zu nächtlich sokratischen Spaziergängen um sich und nannte die Sterne samt ihren Entfernungen mit sicheren Namen und Zahlen, gegen die es keinen Widerspruch gab. Wenn die Billionen Meilen durch die Luft schwirrten, war auch das leiseste Echo des Unglücks nicht vernehmbar. Krikor zog sich auf den Flügeln der Lichtgeschwindigkeit zu den von ihm eigenmächtig getauften Sternen zurück. Ein Blick empor genügte, und die Ausstoßung wurde zu einem müßigen Gerücht. Vielleicht glaubte er wirklich nicht an sie. Schwarz auf weiß stand darüber nichts zu lesen. Armenische Zeitungen trafen nicht mehr ein, und die türkischen hatten bisher nur zweimal sanft-offizielle Andeutungen gebracht. Auch Ter Haigasun entfaltete, ohne rechts und links zu schauen, die gleiche Tätigkeit wie stets. Er gab in der Schule Unterricht, er las die feierlichen Messen, er unternahm die gewohnten Diözesanreisen. Der Priester hatte darauf bestanden, daß auch in diesem Jahre die altheilige Wallfahrt zum Thomaskloster begangen werde, wobei seit Menschengedenken das Madach-Opfer in Gestalt eines Lämmchens dargebracht wird. Nur das große Volksfest, das man nachher mit Musik und Tanz bis in den nächsten Morgen hinein zu feiern pflegte, war diesmal abgesagt worden, doch ohne jede Begründung durch Ter Haigasun.

      Es konnte demnach nicht fehlen, daß bei solch ruhigem Betragen der einheimischen Geisteshäupter die beiden


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