Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
Читать онлайн книгу.einen nächtlichen Überfall planen! Gabriel gehörte nicht mehr Juliette und nicht mehr sich selbst. Er versuchte, sein fliehendes Wesen zu sammeln. Schweiß drang ihm aus den Poren. Als er Julietten ganz nahe kam, konnte er ihr seine Liebe nicht beweisen, das erstemal in ihrer Ehe.
Das Siegesfest in der Stadtmulde währte bis gegen Morgen. Es wurde mehr Harisa gegessen und Wein getrunken, als das Komitee für innere Ordnung gestattet hatte. Ter Haigasun aber drückte ein Auge zu. Der Held dieser Nacht war Tschausch Nurhan. Man verlieh ihm den Ehrennamen »Elleon«, das ist der Löwe. Dieses griechische Wort war als Auszeichnung für tapfere Männer aus ältesten Zeiten überliefert.
Zweites Kapitel
Die Taten der Knaben
Die vernichtende Niederlage der kriegsstarken Kompanie auf dem Musa Dagh rief im Hükümet von Antiochia die peinlichste Bestürzung hervor. Sie war und blieb ein Schandfleck auf dem türkischen Schilde. Die Macht jeder Militärrasse steht und fällt mit dem magischen Glauben an ihre eigene Unbesiegbarkeit, den sie zu erzeugen versteht. Durch einen unglücklichen Krieg werden derartige Rassen daher oft auf Jahrzehnte zurückgeschleudert, während andere Völker, die sich der reinen Wehrgesinnung weniger vorbehaltlos verschreiben, militärisches Mißgeschick viel leichter und fruchtbarer überstehen. Die schrecklichste Erniedrigung aber bedeutet es für eine kriegerische Oberklasse, durch den »inneren Feind«, durch eine minderwertige, das heißt handels-, handwerks- und bildungsbeflissene Minorität eine blutige Lehre verabfolgt zu erhalten. Damit verkehrt sich für die Waffenstolzen der ganze Lebenssinn, denn die Ehre des Kriegshandwerks gerät bedenklich ins Wanken, wenn eine weiche Intellektrasse die gewerbsmäßigen Helden gewissermaßen im Nebenberuf gründlich verbleut. Dies aber war in dem Gefecht vom vierten August unzweifelhaft der Fall. Recht besehen, übertraf diese Schlappe noch die Ungelegenheiten von Wan und Urfa. Denn dort handelte es sich um sehr volkreiche Armenierstädte, deren Insurrektion im Zeichen des russischen Vormarsches stand. Der verzweifelte Aufruhr von Wan war mit Rücksicht auf den vorrückenden Reichsfeind sogar außenpolitisch mehr als erwünscht, bot er doch vor der Welt die herrlichste Handhabe, das Verbrechen an der armenischen Millet a posteriori überzeugend zu rechtfertigen. Da habt ihr nun den klaren Beweis, daß die Armenier Hochverräter sind und daß wir uns von ihnen befreien müssen. Der Staatsräson ist es niemals darauf angekommen, eine anmutige Volte zwischen Ursache und Wirkung zu schlagen. Das schlechte, jedoch um so denkfaulere Gewissen der Welt, die Presse der jeweiligen Machtgruppen und das durch sie verschnittene Hirn ihrer Leser haben das Ding immer nur so gedreht und verstanden, wie sie es gerade brauchten. Über die Sache von Wan durfte man bestimmten Ortes empört schreiben und empörter lesen: »Die Armenier haben gegen das osmanische Staatsvolk, das sich in schwerem Krieg befindet, die Waffen erhoben und sind zu den Russen übergegangen. Die von Armeniern bewohnten Vilajets müssen daher von diesem Volke durch Deportation befreit werden.« Ähnliches konnte man in den türkischen Verlautbarungen lesen, nicht aber die Umkehrung, welche die Wahrheit enthielt: »Die Armenier von Wan und Urfa haben sich, in Verzweiflung über die längst im Gang befindliche Deportation, gegen die türkische Militärmacht so lange zur Wehr gesetzt, bis sie durch den Einmarsch der Russen erlöst worden sind.«
Was aber, Allah ist groß, konnte man über den Aufstand vom Musa Dagh schreiben und lesen? Er war politisch weit weniger verwertbar, als die Kunde davon gefährlich werden konnte. Es mußten sich nur an verschiedenen Orten, dem Beispiele gehorchend, ein paar Bagradians finden, um das Reich in ernsthafte Schwierigkeiten zu stürzen. Da der Tod über jede armenische Seele beschlossen war, da sich hier und dort noch immer Waffen befanden, so mußte man mit dergleichen Verwicklungen rechnen.
Die Bürger von Antiochia, vor denen man die Schmach vorläufig noch verborgen hielt, sahen das Sitzungszimmer des Kaimakams bis tief in die Nacht hell erleuchtet und ahnten daher Schlimmes. Der Landrat saß der großen Bezirkskonferenz vor, die ungefähr aus vierzehn Herren bestand. Sein aufgeblähter Leib schien bei jedem Atemzug den Sitzungstisch von sich schieben zu wollen. Das leberkranke Gesicht des Kaimakams mit den schwarzbraunen Augensäcken war in dem mattversöhnlichen Petroleumlicht noch gelber als sonst. Die Räte ereiferten sich in weitschweifigen Reden. Er aber schwieg in sorgenvoller Versunkenheit. Die schlaffen glattrasierten Wangen hingen ihm in den weitausgeschnittenen Kragen, und der Fez war über die linke Schläfe gerutscht, ein Zeichen mißgelaunter Schläfrigkeit. Rechts vom Kaimakam saß der Militärkommandant von Antiochia, ein graubärtiger Oberst, ein Bimbaschi alten Stils mit kleinen Augen und roten Kinderwangen, dem man es von weitem ansah, daß er seine Ruhe und Bequemlichkeit mit Heldenmut bis zum letzten Blutstropfen verteidigen wollte. Neben ihm sein Stellvertreter, ein jüngerer Jüsbaschi, Major von kaum zweiundvierzig Jahren, war sein scharfer Gegensatz, wie es ja bei solchen militärischen Zweigespannen meist üblich ist. Ein schlanker Mann mit ausgemergelten Willenszügen und tiefliegenden Augen, deren verhaltener Blick der Runde hie und da zur Kenntnis brachte: Es ist ein Unglück, daß ich diesen alten Trottel von Oberst mit mir schleppen muß. Ihr kennt mich ja und wißt, daß ich zu allem fähig bin und alles durchführe, was ich mir vornehme. Denn ich gehöre zur Ittihad-Generation. Einer der Zugsoffiziere der geschlagenen Kompanie, der einzige Mülasim, welcher den vierten August überlebt hatte, derselbe, der von Gabriel Bagradian mit seiner Botschaft nackt nach Antakje gesandt worden war, stand vor der Bezirkskonferenz, um Bericht abzulegen. Man konnte es ihm nicht übelnehmen, daß er zur Rechtfertigung des Unglücks die Verteidigungskraft der Armenier mit den wildesten Farben malte. Es müßten sich ihrer zehn-, ja zwanzigtausend auf den Höhen des Musa Dagh in den stärksten Befestigungen verborgen halten. Auch hätten sie wohl schon seit Jahren so viel Waffen, Munition und Proviant gesammelt, daß sie ohne jede zeitliche Begrenzung Widerstand leisten könnten. Er, der Mülasim, habe mit eigenen Augen zwei eingebaute Maschinengewehre gesehen, die außer der zehnfachen Übermacht den unheilvollen Ausgang entschieden hätten. Der Kaimakam sagte kein Wort, stützte den Kopf in seine rechte Hand und warf einen Blick auf die Kriegskarte des Ottomanischen Reiches, die auf dem Konferenztisch lag, obgleich so große Dinge hier niemand angingen. Die Beamten des Hükümets aber vergnügten sich oft damit, die Fronten mit Fähnchen auszustecken. Trotz der wohlwollenden Künste der Beamten sah das Zukunftsbild nicht rosig aus. Die Fähnchen rückten immer weiter ins türkische Fleisch vor. Die Kriegslage unter Enver Paschas Führung rechtfertigte seinen Ruhm nicht. Die Kaukasusarmee, die besten Korps, bedeckten als unbegrabene Skelettfelder die Pässe und Täler des weglosen Gebirges. Die Russen aber standen schon an der Grenze Persiens, mit dem Gesicht gegen Mossul, und jagten Djewded Pascha, den bekannten Massakergeneral und Schwager Envers, vor sich her. Die Engländer mit ihren Hindus und Gurkhas bedrängten Mesopotamien. Die großartige Suez-Expedition Dschemals war im wahrsten Sinne des Wortes im Sande verlaufen. Der Wüstensand hatte Männer und Material verschluckt. Währenddessen aber drückten die Alliierten auf der Halbinsel Gallipoli, von den Riesengeschützen ihrer Flotten unterstützt, fast schon die Tore Stambuls ein. Unendliche Mengen von Mordmitteln und anderem Kriegsgerät waren bei all diesen Gelegenheiten bereits vergeudet worden. Die Türkei aber besaß keine oder beinahe keine Rüstungsindustrie. Sie war von der Gnade Krupps in Essen und Skodas in Pilsen abhängig. Diese Erzeugungszentralen des Todes konnten die ihnen näherstehende Kundschaft und deren unermeßlichen Verbrauch kaum mehr kulant bedienen. Nur spärlich tröpfelte von der Riesenmasse der täglich erzeugten Kanonen, Haubitzen, Mörser, Maschinengewehre, Hand- und Gasgranaten ein Bruchteil für die Türkei ab, mußte aber dann mit möglichster Eile an die verschiedenen Fronten befördert werden. Daher kam es, daß die riesigen Etappengebiete des Reiches nicht nur von Mannschaften, sondern auch von Waffen und Gerät in hohem Grade entblößt waren. Vielleicht stand es im Etappenbereich der Vierten Armee, in Syrien, deshalb am schlimmsten, weil Dschemal Pascha seine zweite Suez-Expedition vorbereitete und alle verfügbaren Kräfte langsam in Palästina zusammenzog. Jedenfalls trafen aus Damaskus und Jerusalem unausgesetzt dringende Anforderungen von Männern, Kriegsmitteln und Proviant in den syrischen Städten ein. Maschinengewehre gar waren unerschwingliche Träume. Als der Kaimakam dieses Wort aus dem Munde des armen Mülasims hörte, sah er ihn mit seinen schweren Augen geistesabwesend an und murmelte versunken: »Maschinengewehre?!«
Der alte gutmütige Bimbaschi mit den roten Kinderwangen setzte