Toni der Hüttenwirt Paket 1 – Heimatroman. Friederike von Buchner
Читать онлайн книгу.Vielleicht gibt er’s ja wieder zurück.«
Toni schaute Jörg an.
»Was sagst du dazu?«
»Ich bin zu allem bereit. Schaden kann es nichts. Probieren wir es eben! Hast eine Ausrüstung für mich? Einen Helm gegen Steinschlag brauche ich auch.«
»Ja, hinten im Lager sind Sachen, das weißt du ja. Sind net die modernsten, aber besser als nix.«
»Gut, dann packen wir es morgen an.«
Mehr sprachen sie nicht mehr. Sie saßen vor der Berghütte, bis die Dunkelheit alles verbarg. Jeder hing seinen Gedanken nach. Dann gingen sie schlafen.
Am nächsten Morgen brachen sie auf. Alois schaute ihnen nach und wünschte ihnen alles Gute.
»Auch wenn du nix finden tust, genieß die Berge. Lausche der Natur! Die Berge und die Natur sind ewig, auch wenn sie sich ständig verändert. Kein Tag ist wie der andere. Jeden Tag verwelken Blumen und andere sprießen hervor.«
Wenn es möglich war, gingen die Männer nebeneinander her. War der Weg schmal, dann wechselten sie sich ab, mal ging Jörg voraus, mal Toni. Sie kamen an eine Gabelung.
»Jetzt müssen wir uns entscheiden, wo wir hingehen. Da geht’s hinüber zum ›Höllentor‹ und hier den Weg nennen wir ›Hirtenweg‹. Er verzweigt sich weiter oben, dort beginnt der ›Pilgerweg‹.«
»Schöne Namen!«
»Ja, die sind schon sehr alt. Die stehen auch in keinem Buch, auf keiner Karte. Die sind nur mündlich überliefert. Der ›Hirtenweg‹ führt zu einem Punkt, den nennen die Einheimischen ›Paradiesgarten‹. Der ›Pilgerweg‹ führt fast ganz hinauf bis ein paar hundert Meter unterm Gipfel. Dort ist der ›Engelsplatz‹.«
Jörg schaute Toni an.
»Dann gehen wir dahinauf. Ich muß immer daran denken, was der Alois uns alles aus seinem langen Leben erzählt hat. Wenn er Probleme hatte, dann ist er hinaufgegangen zum ›Engelsplatz‹. Dort hat er sich hingesetzt, bis wieder die Ruhe und der Frieden in sein Herz gezogen waren. Es ist zwar nicht der Weg, den ich gegangen bin, aber ich hab’ so ein Gefühl, daß ich das machen sollte. Was dem Alois immer genutzt hat, kann mir nicht schaden.«
»Dann aufi! Packen wir es an! Gehen wir!«
Der »Hirtenweg« schlängelte sich den Berg hoch. Er lag in der Morgensonne. Die Alpenröschen drehten ihre Blüten den Sonnenstrahlen entgegen. Ein Zitronenfalter flatterte von Blüte zu Blüte und saugte Nektar. Zwischen Felsbrocken konnten sie Murmeltiere sehen. Es waren zwei Jungtiere, die spielten. Ihre wachsame Mutter behielt sie aus einiger Entfernung in den Augen. Jörg blieb stehen und schaute zu. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen.
»Das ist ganz herzig anzusehen. Was denkst du, Toni? Sind das zwei Brüder, zwei Schwestern oder Bruder und Schwester?«
»So, wie die balgen! Des sind zwei Brüder, denk i mir.«
Jörg drehte sich um und schaute Toni an. An seinem Blick erkannte Antonius Baumberger, daß er ihn nicht wirklich ansah. Er schaute durch ihn hindurch, wie in eine andere Welt. Jörg schwankte.
Mit zwei Schritten war Toni bei ihm. Er fing ihn auf und setzte ihn behutsam auf einen Felsbrocken am Wegesrand. Jörg stützte das Gesicht in die Hände. Er zitterte immer noch. Dann bemerkte Toni, daß er weinte. Er legte dem Freund die Hand auf die Schulter. Er sprach ihn aber nicht an. So verging eine ganze Weile.
Dann hob Jörg seinen Kopf und sah Toni an. Toni blickte in zwei Augen, in deren Blick sich Freude, Trauer und Angst mischten. Wortlos reichte Toni dem Freund sein Taschentuch.
»Danke, geht schon.«
Jörg zog sein eigenes Taschentuch aus der Tasche der altmodischen mit Fell gefütterten Lodenjacke, die ihm Toni geliehen hatte. Es war eine ganz besondere Jacke. Sie war uralt. Alois hatte sie einst getragen. Jörg hatte es als ganz besondere Ehre empfunden, daß er sie anziehen durfte. Sie war an vielen Stellen geflickt. Hätte der Janker erzählen können, hätte er bestimmt viele Geschichten aus den Bergen erzählt, genau wie der alte Alois, Geschichten von schönen Wanderungen und Bergbesteigungen, Geschichten von fröhlichen Zeiten. Aber es gab auch anderes zu berichten, von der Suche nach Verschütteten und Abgestürzten. Dann hatte Alois zusammen mit den Kameraden nur noch die sterbliche Hülle hinunterbringen können. Jörg war sich bewußt, daß er drüben am »Höllentor« dem Tod selbst ganz nah gewesen war.
Er trocknete sich die Tränen und putzte sich die Nase. Dann sagte er leise:
»Toni, ich denke, daß auch ich einen Bruder habe. Wir sind Zwillinge, Jens und Jörg.«
Antonius Baumberger schaute ihm in die Augen.
»Dann kannst dich jetzt erinnern?«
»Noch nicht an alles. Aber ich habe einen Zwillingsbruder, den Jörg. Da bin ich mir jetzt ganz sicher. Du Toni! Ich bin nicht Jörg, ich bin Jens!«
Er wischte sich wieder die Augen.
»Ich habe immer zwei Bilder vor mir gesehen, die mich am Leben erhalten haben, Franzi – und da war der kleine Junge. Ich konnte mich nicht erinnern, wer er war. Aber ich wußte, es hatte etwas zu bedeuten. Als ihr mich dann gefragt habt, wie ich heiße, da fiel mir der Name Jörg ein, weil ich im Fieber all die einsamen Stunden nach dem Namen gesucht hatte. Ich hatte auch nie das Gefühl, daß ich Jörg bin, daß Jörg mein Name ist.«
Toni richtete seinen Blick gegen den Himmel und schickte ein stummes Dankgebet hinauf.
»Hier, meine Hand, Jens! Willkommen in den Bergen, Jens!«
Toni und Jens schüttelten sich die Hände und umarmten sich. Auch Toni hatte jetzt feuchte Augen.
»Wollen wir weitergehen, Jens?«
»Nein, laß uns hier sitzen bleiben und den beiden Murmeltieren zusehen, wie sie spielen und balgen.«
Toni konnte diesen Wunsch gut verstehen. Sie nahmen die Rucksäcke ab. Alois hatte ihnen reichlich Wegzehrung eingepackt und zwei Thermoskannen mit süßem Milchkaffee. So machten sie eine Jause am Berg. Danach zündeten sie sich ihre Pfeifen an und rauchten. Sie sprachen wenig. Es bedurfte keiner Worte.
Die Murmeltiere spielten und schienen sich an ihrer Anwesenheit gar nicht zu stören.
Irgendwann ertönte ein scharfer Pfiff der Mutter. Die beiden Jungen rannten davon und verschwanden hinter Felsen.
»Schau, da kreist ein Adler! Die Mutter hat den Greifvogel eher bemerkt als wir. Sie brachte ihre Jungen in Sicherheit.«
»Was ist mit meiner Mutter, mit meinem Vater? Daran kann ich mich noch nicht erinnern.«
»Das wird schon noch kommen. Mußt Geduld haben. Ich bin mir sicher, daß dir noch mehr einfallen tut. Wie ist es? Gehen wir weiter? Willst noch rauf?«
Sie packten zusammen und gingen weiter. Unterwegs erzählte Jens von seinem Bruder. Immer mehr Bruchstücke fielen ihm ein. Er erinnerte sich an Begebenheiten aus dem Kindergarten und der Schulzeit. Alles was drumherum lag, war immer noch im Dunkeln.
»Mußt Geduld haben, Jens! Schau dir die Berge an. Sie sind ewig. Was bedeutet dagegen Zeit? Was sind im Vergleich eine Sekunde, Minute, Stunde, Woche, Monat, Jahr, ja, ein ganzes Leben?«
»Ja, ja! Hier in den Bergen bestimmt die Natur alles. Es gibt Tag und Nacht, Frühling, Sommer, Herbst und Winter. So geht es Jahr für Jahr, seit dem Bestehen der Welt. Irgendwann haben die Menschen die Uhr erfunden und sich zum Sklaven der Zeit gemacht. Sie dachten, sie gewinnen Zeit dadurch. Bei diesem Gedanken verfingen sie sich in einen Selbstbetrug. Auch ich war einmal so, wollte immer möglichst viel in möglichst kurzer Zeit schaffen, denke ich. Als ich die ersten Tage bei der Franzi vor der Almhütte saß, nach dem Unfall, da hat sie mir das klar gemacht. Ich ließ die Berge auf mich wirken und habe losgelassen von aller Hetze, die ich in meinem Inneren spürte. Ich grübelte und wollte mich zwingen, mich zu erinnern. Das war sinnlos und der falsche Weg.«
»Wenn du in die Berge gehst,