Die wichtigsten Werke von Oscar Wilde. Оскар Уайльд
Читать онлайн книгу.der Gardine vor und sah mich im Hause um. Es war ein schäbig-elegantes Ding, gestopft voll mit Amoretten und Füllhörnern, wie auf einem Hochzeitskuchen billigster Sorte. Galerie und Stehparterre waren leidlich voll, aber die zwei Reihen schmieriger Fauteuils vorne waren ganz leer und auf dem Platze, den sie vermutlich ersten Rang titulierten, saß kaum ein Mensch. Weiber gingen mit Orangen und Ingwerbier herum, und eine unglaubliche Masse von Nüssen wurde verknackt.«
»Es muß ganz wie in der Glanzzeit des britischen Dramas gewesen sein.«
»Ganz so, vermute ich, und sehr niederdrückend. Ich begann, zu überlegen, was um Himmels willen ich da anfangen sollte, als mein Blick auf den Theaterzettel fiel. Was glaubst du, was sie spielten, Harry?«
»Ich vermute, der ›kleine Kretin‹ oder ›Blödsinnig, aber unschuldig‹. Unsere Väter liebten diese Art Stücke, glaube ich. Je länger ich lebe, Dorian, je stärker fühle ich, daß alles, was für unsere Väter gut genug war, für uns noch lange nicht gut genug ist. In der Kunst wie in der Politik les grandpères ont toujours tort.«
»Das Stück war gut genug für uns, Harry. Es war ›Romeo und Julia‹. Ich muß zugeben, daß mich der Gedanke, Shakespeare in einer so elenden Spelunke zu sehen, ärgerte. Und doch interessierte es mich irgendwie. Jedenfalls entschloß ich mich, den ersten Akt abzuwarten. Es spielte da ein schauderhaftes Orchester, das ein junger Hebräer dirigierte, der an einem schnarrenden Klavier saß, was mich beinah zum Davonlaufen brachte; aber schließlich ging doch der Vorhang in die Höhe und das Stück fing an. Romeo war ein hahnebüchener älterer Herr mit dick gemalten Brauen, einer versoffenen Tragödenstimme und einer Falstaffgestalt wie eine Biertonne. Mercutio war fast ebenso arg. Er wurde vom Komiker gespielt, der Mätzchen eigener Improvisation einstreute und in der verwandtschaftlichsten Beziehung zur Galerie stand. Sie waren beide genau so grotesk wie die Szenerie, und die sah aus, als käme sie vom Jahrmarktsrummel. Aber Julia! Harry, stell dir ein Mädchen vor, kaum siebzehn Jahre alt, mit einem blumenhaften Gesichtchen, einem schmalen griechischen Kopf mit dunkelbraunen Zöpfen, mit Augen, wie veilchenblaue Brunnen heißer Leidenschaft, mit Lippen wie Rosenblätter. Das entzückendste Geschöpf, das ich je im Leben gesehen habe. Du sagtest mal zu mir, Pathos ergreife dich nicht, aber Schönheit, keusche Schönheit an sich, könnte deine Augen wohl mit Tränen füllen. Ich sage dir, Harry, ich konnte dieses Mädchen kaum sehen, von dem Tränenflor über meinen Augen. Und ihre Stimme – ich habe so eine Stimme nie gehört. Zuerst sehr leise in tiefen, vollen Molltönen, die langsam und jeder für sich allein ins Ohr zu träufeln schienen. Dann etwas lauter und erklingend wie eine Flöte oder eine ferne Hoboe. In der Gartenszene hatte sie jene zitternde Inbrunst, die man hört, wenn die Nachtigallen singen vor Tag und Tau. Es gab dann Augenblicke, wo ihre Stimme die verhaltene Leidenschaftsglut von Geigentönen hatte. Du weißt, wie eine Stimme einen erschüttern kann. Deine Stimme und die Stimme von Sibyl Vane, die beiden werde ich nie vergessen. Wenn ich meine Augen schließe, höre ich sie, und jede von ihnen sagt etwas anderes. Ich weiß nicht, welcher ich folgen soll. Warum sollte ich sie nicht lieben? Harry, ich liebe sie. Sie ist alles in meinem Leben. Abend für Abend gehe ich hin, um sie spielen zu sehen. An einem Abend ist sie Rosalinde, am nächsten Imogen. Ich habe sie im Düster eines italienischen Grabgewölbes sterben sehen, wie sie das Gift von den Lippen des Geliebten trinkt. Ich bin ihrer Wanderung durch die Ardennen gefolgt, wie sie als hübscher Knabe mit Hose, Wams und einem kleinen Barett verkleidet war. Sie war wahnsinnig und ist vor einen schuldbewußten König hingetreten und ließ ihn Rauten tragen und bittere Kräuter kosten. Sie war unschuldig, und die schwarzen Hände der Eifersucht haben ihren zarten Hals zusammengepreßt. Ich habe sie in jedem Jahrhundert und in jeder Tracht gesehen. Gewöhnliche Frauen sagen unserer Phantasie nichts. Sie sind in ihre Zeit hineingebannt. Kein Zauber kann sie umwandeln. Man kennt ihren Geist ebenso schnell wie ihre Güte. Man kennt sie immer heraus. Es gibt kein Geheimnis in ihnen. Sie reiten morgens in den Park und schnattern nachmittags beim Tee. Sie haben ihr stereotypes Lächeln und ihre eleganten Modemanieren. Aber eine Schauspielerin! Wie anders solche Schauspielerin! Harry! Warum hast du mir nicht gesagt, daß nichts geliebt zu werden verdient als eine Schauspielerin?«
»Weil ich so viele von ihnen geliebt habe, Dorian.«
»Oh, gewiß, gräßliche Geschöpfe mit gefärbten Haaren und geschminkten Gesichtern.«
»Schmähe nicht gefärbtes Haar und geschminkte Gesichter. Es liegt zuweilen ein ganz besonderer Reiz darin«, sagte Lord Henry.
»Ich wollte, ich hätte dir nie etwas von Sibyl Vane gesagt.«
»Du hättest gar nicht anders können, Dorian. Dein ganzes Leben lang wirst du mir alles sagen, was du tust.«
»Ja, Harry, ich glaube, es ist so. Ich bin geradezu gezwungen, dir alles zu sagen. Du hast eine seltsame Macht über mich. Wenn ich je ein Verbrechen beginge, käme ich gleich zu dir und beichtete es dir. Du würdest mich verstehen.«
»Menschen wie du – die kühnen Sonnenstrahlen des Lebens – begehen keine Verbrechen, Dorian. Aber ich danke dir trotzdem für dein Kompliment. Und nun sag' mir – bitte gib mir mal die Streichhölzer herüber; danke – wie sind deine wirklichen Beziehungen zu Sibyl Vane?«
Dorian Gray sprang mit geröteten Wangen und blitzenden Augen auf. »Harry! Sibyl Vane ist mir heilig.«
»Nur heilige Dinge sind wert, sie anzurühren, Dorian«, sagte Lord Henry mit einem merkwürdigen pathetischen Ton in seiner Stimme. »Aber warum fühlst du dich verletzt? Ich vermute, sie wird dir eines Tages gehören. Wenn man verliebt ist, fängt man immer damit an, sich selbst zu betrügen, und hört immer damit auf, andere zu betrügen. Das nennt die Welt eine Liebesgeschichte. Auf jeden Fall denke ich, du kennst sie?«
»Natürlich kenne ich sie. Schon am ersten Abend im Theater kam der gräßliche alte Jude nach der Vorstellung in meine Loge und bot mir an, mich hinter die Kulissen zu führen und ihr vorzustellen. Ich war wütend und sagte ihm, daß Julia seit Hunderten von Jahren tot sei und daß ihr Körper in einem Marmorgrabe zu Verona liege. Nach dem bestürzten Ausdruck in seinem Gesicht vermute ich, daß er glaubte, ich hätte zuviel Champagner oder Ähnliches getrunken.«
»Kein Wunder!«
»Dann fragte er mich, ob ich für irgendeine Zeitung schreibe. Ich sagte ihm, daß ich nicht mal eine lese. Das schien ihn furchtbar zu enttäuschen, und er vertraute mir an, alle Theaterkritiker hatten sich gegen ihn verschworen und jeder einzelne von ihnen wäre käuflich.«
»Es sollte mich nicht wundern, wenn er ganz recht hätte. Andererseits aber, nach ihrem Aussehen zu schließen, können sie meistens gar nicht teuer sein.«
»Einerlei, sie schienen über seine Mittel zu gehen«, sagte Dorian lachend. »Inzwischen aber wurden die Lichter im Theater ausgedreht und ich mußte fort. Er bat mich noch, einige Zigarren zu probieren, die er mir sehr warm empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend ging ich natürlich wieder hin. Als er mich sah, machte er eine tiefe Verbeugung und versicherte mir, ich sei ein edelmütiger Kunstmäzen. Er ist eine höchst abstoßende Kreatur, obwohl er eine außerordentliche Leidenschaft für Shakespeare hegt. Er erzählte mir mal mit einem Anflug von Stolz, seine fünf Bankrotte verdanke er nur dem ›Barden‹; so nannte er nämlich hartnäckig Shakespeare. Er schien das für ein Verdienst zu halten.«
»Es ist ein Verdienst, lieber Dorian – ein großes Verdienst. Die meisten Leute werden bankrott, weil sie zuviel in der Prosa des Lebens angelegt haben. Sich mit Poesie ruiniert zu haben, ist eine ehrenvolle Auszeichnung. Aber wann hast du Fräulein Sibyl Vane zum erstenmal gesprochen?«
»Am dritten Abend. Sie hatte die Rosalinde gespielt. Ich mußte hinter die Bühne gehen. Ich hatte ihr ein paar Blumen zugeworfen, und sie hatte zu mir hingesehen, wenigstens bildete ich es mir ein. Der alte Jude war beharrlich. Er schien entschlossen, mich mit nach hinten zu nehmen, und so gab ich nach. Es war sonderbar, daß ich sie nicht kennenlernen wollte, nicht wahr?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Warum, lieber Harry?«
»Ich erkläre dir das ein andermal. Jetzt möchte ich gern von dem Mädchen hören.«
»Von Sibyl? Oh, sie war so schüchtern und lieb. Sie ist