Die wichtigsten Werke von Oscar Wilde. Оскар Уайльд

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Die wichtigsten Werke von Oscar Wilde - Оскар Уайльд


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Mein Kind!« rief Frau Vane und schaute zur Decke auf, als suchte sie in ihrer Einbildung eine Galerie.

      »Komm, Sibyl«, sagte ihr Bruder ungeduldig. Er konnte die Attitüden seiner Mutter nicht ausstehen.

      Sie traten hinaus in den flimmernden, windbewegten Sonnenschein und schlenderten die trostlose Euston Road hinab. Die Vorübergehenden blickten verwundert auf den unfreundlichen, schwerfälligen jungen Menschen in den groben schlechtsitzenden Kleidern, den ein so liebliches, fein aussehendes Mädchen begleitete. Er glich einem Gärtnerburschen, der eine Rose trägt.

      Jim runzelte von Zeit zu Zeit die Stirn, wenn er den forschenden Blick eines Fremden bemerkte. Er hatte jene Abneigung gegen das Angestarrtwerden, die Menschen von Geist erst spät im Leben bekommen und die den Herdenmenschen nie verläßt. Sibyl dagegen wußte nichts von der Wirkung, die sie ausübte. Ihre Liebe zitterte auf ihren lächelnden Lippen. Sie dachte an ihren Märchenprinzen, und damit sie um so besser an ihn denken könnte, sprach sie nicht von ihm, sondern plauderte nur von dem Schiff, mit dem Jim abfahren sollte, von dem Gold, das er sicher finden würde, von der wunderhübschen Millionenerbin, deren Leben er verruchten rotblusigen Buschräubern entreißen sollte. Denn er würde nicht Matrose bleiben oder Verfrachter oder was er jetzt fürs erste werden sollte. O nein! Solch Matrosendasein war schrecklich. Er solle nur daran denken, in ein schreckliches Schiff hineingepfercht zu sein, wenn die brüllenden, katzenbuckelnden Wellen immer eindringen wollen und ein schwarzer Wind die Masten umblase und die Segel in lange, klatschnasse Streifen zerreiße. Er sollte in Melbourne das Schiff verlassen, dem Kapitän höflich Lebewohl sagen und sich sofort in die Goldfelder begeben. Bevor noch eine Woche um sei, werde er auf einen großen Klumpen puren Goldes stoßen, auf den größten, der je gefunden worden sei, und werde ihn zur Küste schaffen in einem großen Wagen, den sechs berittene Polizisten bewachen sollten. Die Buschklepper überfielen sie dreimal, würden aber nach einem ungeheuren Gemetzel zurückgeschlagen werden. Oder nein! Er sollte überhaupt nicht in die Goldfelder wandern. Das sind schreckliche Örter, wo sich die Leute betrinken und einander in Kneipen totschössen und eine schreckliche Sprache führten. Er sollte ein friedsamer Viehzüchter werden, und eines Abends, wenn er heimritte, begegnete er der schönen Erbin, die gerade von einem Räuber auf einem Rappen entführt würde, und dann setzt er ihm nach und befreit sie. Natürlich würde sie sich in ihn verlieben und er in sie, und sie heirateten dann und kehrten heim und wohnten in einem großen Palais in London. Ja, entzückende Dinge warteten auf ihn. Aber er müsse auch sehr brav sein, nie die Geduld verlieren oder sein Geld vergeuden. Sie sei nur ein Jahr älter als er, aber sie wisse schon genügend mehr vom Leben. Er müsse ihr auch zuverlässig an jedem Posttag schreiben und jeden Abend, wenn er schlafen gehe, beten. Gott sei sehr gut und werde über ihn wachen. Auch sie werde für ihn beten, und in ein paar Jahren werde er reich und glücklich nach Hause kommen.

      Der Bursche hörte ihr brummig zu und gab keine Antwort. Ihm tat das Herz weh, weil er von der Heimat weg mußte.

      Aber es war nicht das allein, was ihn düster und verstimmt sein ließ. So unerfahren er war, fühlte er doch sehr die Gefahr, die in Sibyls Stellung lag. Dieser junge Stutzer, der ihr den Hof machte, konnte es nicht ehrlich mit ihr meinen. Es war ein vornehmes Herrchen, und das trug ihm seinen Haß ein, einen Haß, der aus einem sonderbaren Rasseinstinkt herrührte, von dem er sich keine Rechenschaft geben konnte und der ihn gerade deshalb um so stärker beherrschte. Er kannte auch die Oberflächlichkeit und Eitelkeit seiner Mutter und sah darin ungeheure Gefahren für Sibyl und Sibyls Glück. Kinder fangen damit an, ihre Eltern zu lieben; wenn sie älter werden, sitzen sie über ihnen zu Gericht, manchmal vergeben sie ihnen auch.

      Seine Mutter! Es brütete in ihm, sie über etwas zu fragen, was er viele schweigsame Monate hindurch mit sich herumgeschleppt hatte. Ein zufälliges Wort, das er im Theater aufgeschnappt hatte, ein hingeflüstertes Scherzwort, das er eines Abends auffing, als er an der Bühnentür wartete, hatte eine Flucht schrecklicher Gedanken entfesselt. Die Erinnerung daran schmerzte ihn wie der Hieb einer Reitpeitsche in sein Gesicht. Seine Brauen kniffen sich in eine tiefe Furche zusammen, und in schmerzlichem Krampf biß er sich auf die Lippen.

      »Du hörst auch nicht ein einziges Wort, das ich sage, Jim!« rief Sibyl, »und ich schmiede die entzückendsten Pläne für deine Zukunft. Sag' doch mal was!«

      »Was soll ich denn sagen?«

      »Oh, daß du ein braver Bursche sein willst und uns nicht vergessen«, antwortete sie und lächelte ihn an.

      Er zuckte die Schultern. »Es wäre eher möglich, daß du mich vergißt, als daß ich dich vergesse, Sibyl.«

      Sie errötete. »Wie meinst du das, Jim?« fragte sie.

      »Du hast einen neuen Freund, wie ich höre. Wer ist es? Warum hast du mir nicht von ihm erzählt? Er meint es nicht gut mit dir.«

      »Hör' auf, Jim«, rief sie aus. »Du darfst nichts gegen ihn sagen. Ich liebe ihn.«

      »Was, und du weißt nicht mal seinen Namen?« erwiderte er. »Wer ist es? Ich habe ein Recht, das zu wissen.«

      »Er heißt der Prinz Märchenschön. Gefällt dir der Name nicht? Oh, du törichtes Jungchen! du solltest ihn nie vergessen. Wenn du ihn nur ein einzigesmal sähest, müßtest du ihn für den entzückendsten Menschen auf Erden halten. Eines Tages wirst du ihn kennenlernen: wenn du von Australien zurückkommst. Er wird dir sehr gefallen. Allen Menschen gefällt er, und ich ... ich liebe ihn. Ich wollte, du könntest heute abend ins Theater kommen. Er wird kommen, und ich spiele die Julia! Oh, wie ich sie spielen werde! Denk dir, Jim, lieben und die Julia spielen! Wissen, daß er dasitzt! Zu seiner Freude spielen! Ich fürchte, ich werde meine Kollegen erschrecken, erschrecken oder hinreißen. Lieben heißt, hinauswachsen über sich selbst. Der gräßliche Herr Isaacs wird seinen Kumpanen am Schenktisch zuschreien, ich sei ein Genie. Er hat mich wie ein Dogma ausposaunt; heute abend wird er mich als Offenbarung verkündigen. Ich fühle das. Und all das ist sein Werk, nur sein, des Prinzen Märchenschön, meines wunderbaren Geliebten, meines Musengottes. Aber ich bin ein armes Ding neben ihm. Arm. Was liegt daran? Schleicht Armut in ein Haus, fliegt Liebe durchs Fenster hinaus. Unsere Sprichwörter müssen umgeändert werden. Sie sind im Winter erdacht worden, und jetzt ist Sommer, für mich freilich Frühling, ein Tanz von Blüten unter blauem Himmel.«

      »Er ist ein Herr der feinen Gesellschaft«, sagte der Bursche finster.

      »Ein Prinz!« rief sie mit melodischer Stimme. »Was willst du mehr?«

      »Er wird dich zu seiner Sklavin machen^«

      »Ich erschrecke bei dem Gedanken, frei zu sein!«

      »Ich rate dir, dich vor ihm zu hüten.«

      »Ihn sehen, heißt ihn anbeten, ihn kennen, heißt ihm vertrauen!«

      »Sibyl, deine Liebe macht dich verrückt.«

      Sie lachte und nahm seinen Ann. »Du lieber, alter Jim, du sprichst, als wärest du hundert Jahre alt. Eines schönen Tages wirst du selbst lieben. Dann wirst du wissen, was das heißt. Guck mich nicht so brummig an. Du solltest dich freuen in dem Bewußtsein, daß du mich, obwohl du gehst, glücklicher zurückläßt, als ich je gewesen bin. Das Leben ist bisher hart für uns gewesen, furchtbar hart und schwer. Aber jetzt wird's anders. Du gehst in eine neue Welt, und ich habe eine neue gefunden. – Da sind zwei Stühle frei, wir wollen uns setzen und die eleganten Leute Revue passieren lassen.«

      Sie setzten sich mitten in eine Menge von Zuschauern. Die Tulpenbeete längs des Weges flammten wie beschwörende Feuerglocken. Ein weißer Dunst wie eine zitternde Wolke von Veilchenpuder hing in der schwülen Luft. Die hellfarbigen Sonnenschirme tanzten auf und ab wie Riesenschmetterlinge.

      Sie brachte ihren Bruder dazu, daß er von sich, seinen Aussichten und seinen Plänen sprach. Er redete zögernd und mühsam. Sie ließen ihre Worte langsam aufeinanderfolgen, wie sich Spieler ihre Points ansagen. Sibyl fühlte sich niedergedrückt. Sie konnte ihre Freude nicht mitteilen. Ein schwaches Lächeln, das seinen vergrämten Mund umspielte, war die einzige Antwort, die sie erhielt. Nach einiger Zeit verstummten sie beide. Plötzlich erblickte sie den Schimmer goldenen Haares und lachende Lippen, und in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei Damen vorbei.


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