Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
Читать онлайн книгу.kurze Ansprache, Ter Haigasun aber machte das Kreuzzeichen über die Stirn der Jünglinge. Danach begleiteten der Priester und der Pastor die Schwimmer über den ersten Graben und die Sattelkerbung hinaus bis zu dem Punkt, wo die buschreiche Berglehne gegen Norden ansteigt. Verwehte Wolken des entfernten Waldbrandes schoben hier ihr dünnes Medium vor, das wie sonderbare Lauge das metallische Mondlicht in zittrige Schwaden zerlegte. Es sah wirklich so aus, als schickten sich die Schwimmer und ihre Begleiter in ein lichtgetränktes, aber unwiderrufliches Jenseits. Die Menge wollte nachströmen. Bewaffnete jedoch bildeten eine Kette, die nur die Angehörigen und Verwandten durchließ. Dies hatte Pastor Aram zu dem Zwecke angeordnet, damit der letzte Abschied nicht durch Unberufene gestört werde. Den Anfang machten die entfernteren Sippenglieder und die Taufpaten. Jeder von ihnen gab den jungen Leuten irgendein kleines Geschenk mit auf den Weg, einen Rest Tabak, ein kostbares Stückchen Zucker oder auch nur ein Heiligenbild oder Amulett. Die Geistlichen sorgten dafür, daß dieser Vorgang nicht in die Länge gezogen werde, und kaum hatten die Verwandten ihre Gabe dargebracht, mußten sie sogleich mit Ter Haigasun und Tomasian den Ort verlassen. Nur die Allernächsten blieben dann noch eine Weile bei den Schwimmern zurück. Eine kurze erstickte Umarmung! Einen Kuß auf die Vaterhand gedrückt! Ein schluchzendes Rückenkehren der Mutter. Ein halberfrorener Wink. Dann gingen auch die Eltern.
Dies und auch was jetzt geschah, erfüllte das Herz des vereinsamten Stephan mit bittersüßer Traurigkeit. Noch immer waren die Schwimmer nicht allein. Plötzlich standen zwei Mädchen neben ihnen. Sie glichen den Jünglingen wie Schwestern. Wahrscheinlich aber waren sie ihre Verlobten oder auch nur zarte Bekanntschaften. Der todesträchtige Anlaß hob den strengen Brauch auf, der es einer Braut verbot, mit ihrem Bräutigam allein zu bleiben. Die beiden Paare lösten sich voneinander und begannen, offensichtlich schweigend, die Höhe hinanzuwandern. Die Mädchen bekannten sich damit öffentlich zu ihrer Liebe, die menschlicher Voraussicht nach niemals ihre Erfüllung finden konnte. Auch die Menge schwieg, trotz aller Not durch den Anblick dieser jungen Menschen bewegt, die Hand in Hand in der unbestimmten und lichtdurchwirkten Rauchwehe verschwanden. Es dauerte aber nicht sehr lange und die Mädchen kehrten zurück, langsam die Lehne wieder hinabsteigend, jedes für sich.
Indessen hatte Ter Haigasun auch zu dem Aleppo-Läufer einige mahnende Worte gesprochen und ihn gesegnet und bekreuzigt. Der Abschied von dem Knaben spielte sich viel rascher und kühler ab. Witwe Schuschik, die Zugewanderte, besaß hierzulande weder eine Sippe noch auch hatte sie sich einen einzigen Freund geworben. Die Leute mieden bekanntlich das Häuschen der kaukasischen Riesin, das auf dem Wege zwischen Yoghonoluk und Azir lag. Obgleich ihr niemand etwas Böses nachsagen konnte, hatte sie doch einen unangenehmen Ruf als weiblicher Grobian und überhaupt als eine, die nicht dazugehörte. In dieser Hinsicht bleibt sich die eingeborene Gesellschaft der ganzen Welt gleich. Zugewanderte sind immer verdächtig. Auch hatte Witwe Schuschik bisher keinerlei Annäherungsversuche an die Menschheit des armenischen Tales unternommen, sondern mit ihren großen Arbeiterhänden immer einsam gewirtschaftet. Die Folge war, daß nur Ter Haigasun und Pastor Aram sie begleiteten, als sie ihr ein und alles dahingab, ihren Haik.
In Stellvertretung des Vaters umarmte und segnete Ter Haigasun den Jungen und empfing von ihm den Sohnes-Handkuß. Er und Aram Tomasian beschenkten den Läufer auch mit einer Geldsumme, damit er sich unter Umständen vom Tode loskaufen könne. Dann ließen sie Mutter und Sohn allein. Witwe Schuschik aber streichelte mit ihren schweren Händen nur flüchtig verlegen Haiks Kopf und folgte unverzüglich den Priestern. Stephan aber bemerkte, daß sie sich nicht unter das Volk mischte, das schon in breiten Haufen nach Hause strömte, sondern mit unentschlossenem Schritt auf die Felsbarrikaden zuging.
Es war das erstemal, daß Gabriel Bagradian eine ganze Nacht nicht unter den Verteidigern der Nordstellung verbrachte. Der Führerrat hatte für diese Nacht Tschausch Nurhan Elleon mit dem Oberbefehl betraut. Ein türkischer Angriff lag glücklicherweise so gut wie außerhalb aller Möglichkeiten. Die Truppen hatten zwar das Quartier in den Ortschaften noch nicht verlassen. Da aber der verwundete Jüsbaschi von seinem Krankenbett in der Villa Bagradian keine neuen Befehle erließ, so benützte der Rest der aufgeriebenen Kompanien diese Tage zur müßigen Erholung. Die Beobachter meldeten keinerlei bedrohliche Bewegung, sondern nur friedliches Soldatenleben auf den Dorfwegen zwischen Wakef und Kebussije. Die Zehnerschaften und das Lagervolk waren sicherer denn je. Die brennende Brustseite des Damlajik beschützte sie. Manchmal wetterleuchtete und blitzte es von der großen Lohe taghell herüber. Dann hatte es den Anschein, als wolle sich der Brand bis hierher zum Nordsattel ausbreiten. In Wirklichkeit aber war er schon längst auf einen unüberwindlichen Damm gestoßen, auf die vorspringende Felsnase oberhalb von Bitias mit ihren beiden Geröllbändern. Das Gefühl ungefährdeter Sicherheit beherrschte nicht nur die Besatzung, sondern auch Nurhan, der mit einigen älteren Leuten Karten spielte. Alles ließ sich gehen. Es roch fast nach der Deserteurwirtschaft auf der Südbastion. Jeden Augenblick verließ eine der Wachen den Posten, um sich an der Unterhaltung der Kameraden zu beteiligen. Der Befehlshaber, mit dem sich sonst doch nicht spaßen ließ, duldete es sogar, daß die Kämpfer eines der strengsten Verbote überschritten und mehrere Reisigfeuer anzündeten. Sichtbar fehlte Bagradians Person, jene Mischung aus geistigem Vorrang, Unnahbarkeit und verständnisvoller Milde, die überall Plan und Ordnung schuf. Der Unterschied war eben der, daß man sich in Gabriels Gegenwart nicht gehenließ.
Der Stimmenlärm und die frisch entzündeten Reisigfeuer ermöglichten es Stephan, die jenseitige Berglehne rasch zu erklimmen, ohne gesehen und angerufen zu werden. Er wollte sich beeilen, denn Haik hatte gewiß schon einen weiten Vorsprung gewonnen. Der Bagradiansohn lief, so schnell er konnte. Der Rucksack, den er geschultert hatte, war nicht gerade schwer: fünf Sardinenbüchsen, einige Tafeln Schokolade, ein paar Biskuits, ein wenig Wäsche. Die von Papa im Zelt vergessene Thermosflasche hatte er sich von Kristaphor mit Wein füllen lassen. Dies und noch eine Decke waren die ganze Ausrüstung, wenn man von dem Kodakapparat absieht. Von diesem Weihnachtsgeschenk des letzten Pariser Jahres konnte sich Stephan nicht trennen, obgleich er keine Filmrolle mehr besaß. Es war die reinste Kinderei. Hingegen hatte er die Absicht, ein Gewehr von den Pyramiden zu rauben, wieder aufgegeben, da auch Haik keine Waffe bei sich trug. In wenigen Minuten war die Gegenhöhe des Sattels erreicht. Vor dem Knaben erstreckte sich die lange breite Lichtung, über die – oh, wie lange war jene Nacht schon dahin – die türkischen Haubitzen mit wildem Getümmel und Gerassel auf den Damlajik geschleppt worden waren. Er setzte schon zum Laufen an, um in der langen Rinne Haik einzuholen, ehe dieser im Weglosen verschwunden sein mochte. Angst packte ihn, ob es überhaupt noch möglich sei, den Boten zu erreichen. Doch Stephan hatte den ersten Sprung noch nicht getan, als ihn, keine zehn Schritte entfernt, ein starres Bild bannte und hinter den nächsten Busch zwang.
Steif im abnehmenden Mond, der durch keine Rauchwehe mehr zerlöst war, saß die Witwe Schuschik aufrecht. Die langen Beine der Kaukasierin in den ausgebreiteten Röcken bedeckten mitsamt ihrem mondgroßen Schatten ein gutes Erdstück des Musa Dagh. Haik aber, der Sohn, selbst knochig und groß, hatte sich in die Mutter eingewühlt wie ein Säugling. Er saß ihr halb und halb auf dem Schoß und hielt den Kopf an ihre Brust gepreßt. In dem marmornen Licht hätte man glauben können, die Frau habe ihre Brüste entblößt, um dieses schon erwachsene Kind noch einmal von ihrem Blute trinken zu lassen. Haik, der kalte, höhnische Armenierjunge, schien in der Mutter ganz und gar verschwinden zu wollen. Sein Atem ging kurz und schluchzend. Hier und da entrangen sich auch dem Munde der Riesin gestockte Jammerlaute, wenn sie den Körper dieses hingeopferten Kindes abtastete. Stephan stand ganz umpanzert von Schmerzlichkeit in seinem Versteck. Er schämte sich seiner Zeugenschaft und konnte doch nicht genug davon bekommen. Als Haik aber plötzlich aufsprang und der Mutter hochhalf, da ging es Stephan wie ein Schnitt durch den eigenen Körper. Der Sohn der Witwe Schuschik sagte noch ein paar trocken mahnende Worte und zum Schluß nur mehr: »Jetzt aber geh!«
Die ungeschlachte Schuschik gehorchte sofort, ohne sich und den Jungen noch einmal der Qual der Umarmung zu unterwerfen. Mit unbeholfener Eile schritt sie dahin, um nur rasch ein Ende zu machen. Haik sah ihr regungslos nach. Wenn sie sich umwandte, verzerrte er sein Gesicht, erhob aber die Hand nicht zum Wink. Als Schuschiks großer Schatten verschwunden war, seufzte er glücklich auf und machte sich langsam auf den Weg. Stephan wartete an seinem Ort, um Haik einen kleinen Vorsprung zu lassen. Der Gefährte sollte den Abschied vergessen haben, ehe er zu ihm stieß. Doch der junge Bagradian hatte nicht mit Hagop gerechnet.