Atheistischer Glaube. Dr. Paul Schulz

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Atheistischer Glaube - Dr.  Paul Schulz


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des Kindes gegen seine Außenwelt. Das Kind probiert die Kraft des Nein-Sagens und löst sich damit von der Notwendigkeit, immer Ja sagen zu müssen. Diesem Versuch gehen kleine, aber äußerst signifikante Stufen voraus:

      Erstes eigenes Erkennen im Spiegeltest. Er zeigt, dass sich ein Kleinkind auf allererster Stufe zum ersten Mal als Selbst erkennt. Es nimmt mit seinem Spiegelbild Kontakt auf – und lächelt. Es beginnt ganz langsam zu begreifen, dass es selbst da ist.

      Das erste Ich-Sagen. Kleinkinder sprechen von sich selbst zunächst in dritter Person: Weil Kolja nicht will, soll heißen, weil ich nicht will. Plötzlich sagt Kolja zum ersten Mal: Ich will nicht. Der große Philosoph Fichte hat sein einziges Glas Sekt in seinem Leben getrunken, als sein Sohn so zum ersten Mal Ich sagte. Diesen Augenblick nannte der Philosoph Fichte die eigentliche Ich-Werdung des Menschen, für ihn das hochwertigste Ereignis im menschlichen Leben überhaupt. Ich!

      Aus eben dieser Bewusstwerdung entsteht der erste massive Widerstand des Kindes, die Trotzphase. Die Natur gibt dieses Probierfeld des Widerspruchs vor. Doch wie ist gerade in diesen Lebensmonaten des natürlichen Ungehorsams auf Kinder eingedroschen worden. Väter in ihrer ganzen Manneskraft – auch autoritätsgepolte Mütter – gehen auf das kleine Kind los in der Absicht, den Willen und den Widerstand des Kindes von Anfang an zu brechen, indem sie es zum Gehorsam zwingen, und damit demonstrieren, wo die Autoritätsgewalt liegt. Dagegen ginge es um Förderung des erwachenden Selbst, um Gestaltung der ersten bewussten Willensäußerung des Kindes.

      Vom Trotzalter des Kleinkindes aus als wesentlicher Verselbstständigungsschritt sind hier jetzt nicht alle weiteren Stufenfolgen der Freisetzung des Kindes zu erklären. Im Gesamten gilt, genau zu beobachten und zu respektieren, in welcher Freisetzungsphase sich ein Kind auf seinem Weg flügge zu werden befindet. Die Unterstützung dieses Flüggewerdens, des Freiwerdens des Kindes, ist die Bringepflicht der Eltern.

      Deshalb definiere ich gegen das schon zitierte Kind-Gebot der Bibel

      Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren,

       auf dass es dir wohlgehe und du lange lebest auf Erden

      ein eigenes Eltern-Gebot:

      Eltern haben grundsätzlich die vorausgehende

      Verpflichtung gegenüber ihren Kindern,

       sie bestmöglich ins Leben freizusetzen, damit es

      ihren Kindern wohlergehe und sie lange leben auf Erden.

      Eltern haben sich dabei so zu verhalten, dass ihre

       Kinder ihnen vertrauen und sie respektieren können.

      Das Heranwachsen des Kindes verstehe ich als einen ständigen Befreiungsakt von nicht fertigen Lebenszuständen und damit als ein Hineinwachsen in eine höhere Lebensstufe, als ein immer komplexeres Werden des Ich. Das Kind muss dabei selber ständig loslassen, um weiterzukommen. Loslösungen sind somit für das Kind immer wieder Befreiungsakte zur Unabhängigkeit und damit zum Wachsen in seiner Eigenperson.

      Autoritäres Festhalten der Eltern aus vorgegebenen Prinzipien erzwingt deshalb notwendigerweise das Zuwiderhandeln der Kinder gegen das Festhalten am Vorgegebenen und damit gegen die Eltern. Ungehorsam ist das prinzipielle Anrecht der Kinder zur Selbsterfahrung! Bevormundungen zwingen Kinder folglich auch immer wieder zum Kampf um Freisetzung aus falschem Elternverhalten in autoritärer Vater- oder Mutterdominanz.

      Erziehung als Orientierungshilfe ist dagegen die elterliche Fähigkeit, das Kind in seinen Begründungen und Meinungen frühzeitig ernst zu nehmen und seine Widersprüche mit Sachüberzeugungen zu steuern mit dem Ziel, seine Fähigkeit zur Selbstständigkeit zu fördern und damit zur prinzipiellen Loslösung gerade auch von den Eltern. Die letzte Freisetzung durch die Eltern wäre das gewollte und erklärte völlige Loslassen des Kindes in die Eigenständigkeit.

      Das meint in allem nicht eine Selbstaufgabe der Eltern zugunsten der Kinder. Ganz im Gegenteil. Die elterliche Position ist in sich sowohl in allem notwendig autonom als glaubhaftes Gegenüber zum Kind auch als Widerspruchs- und Reibungsfläche. Das Eigenrecht der Eltern ist unantastbar. Das Ziel ist dabei statt einer romantischen Liebesabhängigkeit eine ehrliche Partnerschaft, in der Eltern wie Kinder zunehmend zu Freunden werden und sich gegenseitig achten: Der Vater Freund des Sohnes, der Sohn Freund des Vaters, ebenso Mutter und Tochter, Mutter und Sohn, Vater und Tochter – sich in jeweiliger Eigenständigkeit gegenseitig respektierende Freunde fürs Leben.

      Denken und Handeln der Eltern sind Teil der Kultur, in der sie leben. Sie sind so ganz automatisch Vermittler der Kultur. Insofern ist ein Kind vom ersten Augenblick an eingebunden in den tradierten Kulturrahmen der Gesellschaft. Es beginnt schon mit der Art der Nahrung, mit der Sprache, mit den Erziehungsmethoden, mit allem, was die Eltern und die Familie in Inhalt und Form auf das Kind hin praktizieren. In dem Maß, in dem sich das Kind bewusst wird, nimmt es teil an der Kultur der Familie und damit an der Kultur überhaupt.

      Wenn das Kind dann die ersten Schritte über die Familie hinaus macht, etwa in den Kindergarten, in die Schule, in den Sportverein, in den Kindergottesdienst oder auch nur zu Freunden in die Wohnung über die Straße, erfährt es Kultur im erweiterten Rahmen. Es trifft auf neue, abweichende Formen, die über das hinausgehen, was es von zu Hause kennt. Die Vielfalt der Kultur ist eine entscheidende Erweiterung seines Erfahrungshorizontes.

      Zum einen erkennt das Kind dabei zunächst eher unbewusst Kultur als tragende Grundlage der Kommunikation. Es lernt soziales Verhalten in immer neuen Situationen und andersartigen Gruppen. Notwendig ist das schon, weil das Kind natürlich die Fähigkeit zum sozialen Verhalten in Gruppen und Situationen erwerben und ausprobieren muss. Zugleich muss es geltende Wertigkeiten in ihrer inneren Logik und in ihren Zusammenhängen und natürlich in ihren äußeren Folgen und Konsequenzen einschätzen lernen. Mit dem Begriff Sozialisation wird dieser Eingliederungsprozess des Kindes in den offenen Kulturraum beschrieben und dabei weitgehend als ein positiver Vorgang verstanden, nämlich als Anpassung des Individuums an allgemein geltende Normen und Regeln. Ohne derartige Erfahrungen würde ein Kind von Anfang an fremd zur Gesellschaft stehen.

      Zum anderen aber erfährt das heranwachsende Kind gerade dabei Kultur zunehmend als Begrenzung des Ich. Es unterliegt immer stärker den Zwängen der sozialen Anpassung, indem es als natürliches Wesen mit seinen Wünschen und Bedürfnissen auf das kollektive Bewusstsein der Gesellschaft trifft und so ganz gezielt reglementiert und eingeschränkt wird. Speziell Kinder sind dem Prozess der Sozialisierung fast wehrlos ausgeliefert, weil sie schon von früh an ohne alternatives Bewusstsein unter dem Zwang fremdbestimmender Konditionierungen stehen.

      Grundsätzlich besteht ein Urkonflikt zwischen der Kultur und den Interessen des Individuums von klein auf:

      – Die Werte der Gesellschaft stehen gegen die Bedürfnisse des Ich. Ein Kulturraum bündelt die geistigen und sozialen Strömungen seiner Gesellschaft zu festgefügten Standards. Werte und Normen, Konventionen, Rituale und Umgangsformen sind allgemeine Direktiven des herrschenden kollektiven Bewusstseins. Sie schleifen dem Individuum die scharfen Ecken und Kanten so ab, dass es in der Gemeinschaft möglichst wenig aneckt. Dadurch entsteht eine widerspruchslosere Gesellschaft, in der das Gemeinschaftsleben kontrollierbarer abläuft.

      – Die Bedürfnisse des Ich stehen gegen die Werte der Gesellschaft. Der Einzelne prallt immer wieder mit seinen Bedürfnissen und Wünschen auf die Festlegungen der Gesellschaft. Seinem persönlichen Spielraum werden dabei durch kollektive Normen Grenzen gesetzt. Individuelle Abweichungen vom Kollektiven werden stigmatisiert. Damit wird der Mensch in seiner persönlichen Entfaltung auf ein gewolltes Mittelmaß beschränkt, ja, notfalls sogar mit Gewalt unterdrückt, verfolgt, eliminiert.

      Solche Zwänge sind in unterschiedlichen Gesellschaften äußerst verschieden, ohne dass sie für den Einzelnen je ganz ohne Gefahr sind. Zum Beispiel sind sie in unserer Gesellschaft heute viel liberaler als in der deutschen Gesellschaft vor einhundert Jahren:

      Die wilhelminische


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