Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер

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Gesammelte Werke von Gottfried Keller - Готфрид Келлер


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dort einschreitend, nachhelfend und die gelehrtesten Dinge selbst beibringend. Jede halbe Stunde wurde mit dem Gegenstande gewechselt; der Oberlehrer gab ein Zeichen mit einer Klingel, und nun wurde ein treffliches Manöver ausgeführt, mittelst dessen die hundert Kinder in vorgeschriebener Bewegung und Haltung, immer nach der Klingel, aufstanden, sich kehrten, schwenkten und durch einen wohlberechneten Marsch in einer Minute die Stellung wechselten, so daß die früher funfzig Sitzenden nun zu stehen kamen und umgekehrt. Es war immer eine unendlich glückliche Minute, wenn wir, die Hände reglementarisch auf dem Rücken verschränkt, die Knaben bei den Mädchen vorbeimarschierten und unsern soldatischen Schritt gegen ihr Gänsegetrippel hervorzuheben suchten. Ich weiß nicht, war es eine artige herkömmliche Nachlässigkeit oder gar eine Absicht, daß es erlaubt war, Blumen mitzubringen und während des Unterrichts in den Händen zu halten, wenigstens habe ich diese hübsche Lizenz in keiner andern Schule mehr gefunden; aber es war immer gut anzusehen während des lustigen Marsches, wie fast jedes Mädchen eine Rose oder eine Nelke in den Fingern auf dem Rücken hielt, während die Buben die Blumen im Munde trugen wie Tabakspfeifen oder dieselben burschikos hinter die Ohren steckten. Es waren alles Kinder von Holzhackern, Tagelöhnern, armen Schneidern, Schustern und von almosengenössigen Leuten. Bessere Handwerker durften ihres Ranges und Kredits wegen die Schule nicht benutzen. Daher war ich der best und reinlichst gekleidete unter den Buben und galt für halb vornehm, obgleich ich bald sehr vertraulich war mit den buntscheckig geflickten armen Teufeln, ihren Sitten und Gewohnheiten, insofern sie mir nicht allzu fremd und unfreundlich waren. Denn obgleich die Kinder der Armen nicht schlimmer und etwa boshafter sind als die der Reichen oder sonst Geborgenen, im Gegenteil eher unschuldiger und gutmütiger, so haben sie doch manchmal grinsende Derbheiten in ihren Gebärden, welche mich bei einigen Mitschülern abstießen.

      Die Kleidung, welche ich damals erhielt, war grün, da meine Mutter aus den Uniformstücken des Vaters eine Tracht für mich schneiden ließ, für den Sonntag einen Anzug und für die Werktage einen. Auch fast alle nachgelassenen bürgerlichen Gewänder waren von grüner Farbe; bis zu meinem zwölften Jahre aber reichte der Nachlaß zur Herstellung von grünen lacken und Röcklein aus bei der großen Strenge und Aufmerksamkeit der Mutter für Schonung und Reinhaltung der Kleider, so daß ich von der unveränderlichen Farbe schon früh den Namen »grüner Heinrich« erhielt und in unserer Stadt trug. Als solcher machte ich in der Schule und auf der Gasse bald eine bekannte Figur und benutzte meine grüne Popularität zur steten Fortsetzung meiner Beobachtungen und chorartiger Teilnahme an allem, was geschah und gehandelt wurde. Ich drang mit den verschiedensten Kindern, je nach Bedürfnis und Laune, in die elterlichen Häuser und war als ein vermeintlich stilles gutes Kind gern gesehen, während ich mir genau den Haushalt und die Gebräuche der armen Leute ansah und dann wieder wegblieb, um mich in mein Hauptquartier bei der Frau Margret zurückzuziehen, wo es am Ende immer am meisten zu sehen gab. Sie freute sich, daß ich bald imstande war, nicht nur das Deutsche geläufig vorlesen, sondern auch die in ihren alten Büchern häufigen lateinischen Lettern erklären zu können sowie die arabischen Zahlen, die sie nie verstehen lernte. Ich verfertigte ihr auch allerlei Notizen in Frakturschrift auf Papierzettel, welche sie aufbewahren und bequem lesen konnte, und wurde auf diese Weise ihr kleiner Geheimschreiber. Schon sah sie, die mich für ein großes Genie hielt, einen ihrer zukünftigen, klugen Glückmacher in mir und war im voraus meiner glänzenden Laufbahn froh. Wirklich machte mir das Lernen weder Mühe noch Kummer, und ich war, ohne zu wissen wie, zu der Würde herangediehen, die kleineren Genossen unterrichten zu dürfen. Dieses geriet mir zu einer neuen Lust, vorzüglich weil ich, ausgerüstet mit der Macht zu lohnen und zu strafen, kleine Schicksale kombinieren, Lächeln und Tränen, Freund- und Feindschaft hervorzaubern konnte. Sogar die Frauenliebe spielte ihre ersten schwachen Morgenwölkchen dazwischen. Wenn ich in einem Halbkreise von neun bis zehn kleinen Mädchen saß, so war der erste ehrenvollste Platz bald zunächst meiner Seite, bald war es der letzte, je nach der Gegend in dem grollen Saale. So geschah es, daß ich die Mädchen, welche ich gern sah, entweder fortwährend oben hielt in der Region des Ruhmes und der Tugend oder aber sie stets niederdrückte in die dunkle Sphäre der Sünde und der Vergessenheit, in beiden Fällen immer zunächst meinem tyrannischen Herzen. Dieses aber wurde selbst reichlich mitbewegt, wenn ich oft von der ohne Verdienst erhobenen Schönen kein Lächeln des Dankes erhielt, wenn sie die unverdiente Ehre hinnahm, als ob sie ihr gebührte, und es mir durch mutwillige rücksichtslose Streiche unendlich erschwerte, sie auf der glatten Höhe zu halten ohne auffallende Ungerechtigkeit.

      Nur zwei Dinge waren mir in dieser Schule quälend und unheimlich und sind eine unliebliche Erinnerung geblieben. Das eine war die düstere kriminalistische Weise, in welcher die Schuljustiz gehandhabt wurde. Es lag dies teils noch im Geiste der alten Zeit, an deren Grenze wir standen, teils in einer Privatliebhaberei der Personen und harmonierte übel mit dem übrigen guten Ton. Es wurden ausgesuchte peinliche und infamierende Strafen angewendet auf dies zarte Lebensalter, und es verging fast kein Monat ohne eine feierliche Exekution an irgendeinem armen Sünder. Zwar wurden meistens wirkliche Bösewichte betroffen; es war aber immerhin verkehrt, indem es die Kinder zu einem frühen geläufigen Verdammen hinführte; so schon ist es eine seltsame Erscheinung, daß die Kinder, selbst wenn sie das Bewußtsein des gleichen Fehlers in sich haben, aber verschont geblieben sind, ein bestraftes und bezeichnetes verachten, verfolgen und verhöhnen, bis die letzten Wirkungen verklungen oder die Verfolger selbst in das Netz gefallen sind. Solange das Goldene Zeitalter nicht gekommen, müssen kleine Buben geprügelt werden; allein einen widerlichen Eindruck machte es, wenn ein unglücklicher Sünder nach gehaltener Standrede in ein abgelegenes Zimmer geführt, dort ausgezogen, auf eine Bank gelegt und abgehauen wurde; oder als einmal ein ziemlich großes Mädchen mit einer umgehängten Tafel auf einem hohen Schranke sitzen mußte, einen ganzen Tag lang. Ich hatte tiefes Mitleid mit ihr, obgleich sie etwas Großes begangen haben mochte. Vielleicht war sie auch unschuldig verurteilt! Ein paar Jahre später ertränkte sich das gleiche Mädchen während des Konfirmationsunterrichtes, ich weiß nicht mehr weshalb, erinnere mich aber noch der trauernden Teilnahme, welche ich für die Tote hegte, als ich sie zu Grabe tragen sah, gefolgt von einer großen Schar weißgekleideter Mädchen zwischen fünf-und sechszehn Jahren, welche Blumen trugen. Man erwies ihr, ungeachtet ihres unchristlichen Todes, diese Ehre ihrer Jugend wegen, weil man zugleich das grelle Ereignis damit verhüllen und mäßigen konnte.

      Die andere peinliche Erinnerung an jene Schulzeit sind mir der Katechismus und die Stunden, während deren wir uns damit beschäftigen mußten. Ein kleines Buch voll hölzerner, blutloser Fragen und Antworten, losgerissen aus dem Leben der biblischen Schriften, nur geeignet, den dürren Verstand bejahrter und verstockter Menschen zu beschäftigen, mußte während der so unendlich scheinenden Jugendjahre in ewigem Wiederkäuen auswendig gelernt und in verständnislosem Dialoge hergesagt werden. Harte Worte und harte Bußen waren die Aufklärungen, beklemmende Angst, keines der dunklen Worte zu vergessen, die Anfeuerung zu diesem religiösen Leben. Einzelne Psalmstellen und Liederstrophen, ebenfalls aus allem Zusammenhange gezerrt und deshalb unlieber einzuprägen als ein ganzes organisches Gedicht, verwirrten das Gedächtnis, anstatt es zu üben. Wenn man diese, gegen die verwilderte Sündhaftigkeit ausgewachsener Menschen gerichteten, vierschrötigen nackten Gebote neben den übersinnlichen und unfaßlichen Glaubenssätzen gereiht sah, so fühlte man nicht den Geist wehen einer sanften menschlichen Entwicklung, sondern den schwülen Hauch eines rohen und starren Barbarentums, wo es einzig darauf ankommt, den jungen, zarten Nachwuchs auf der Schnell- und Zwangbleiche so früh als möglich für den ganzen Umfang des bestehenden Lebens und Denkens fertig und verantwortlich zu machen. Die Pein dieser Disziplin erreichte ihren Gipfel, wenn mehrere Male im Jahre die Reihe an mich kam, am Sonntage in der Kirche, vor der ganzen Gemeinde, mit lauter vernehmlicher Stimme das wunderliche Zwiegespräch mit dem Geistlichen zu führen, welcher in weiter Entfernung von mir auf der Kanzel stand und wo jedes Stocken und Vergessen zu einer Art Kirchenschande gereichte. Viele Kinder schöpfen zwar gerade aus dieser Sitte die Kunst, mit Salbung und Zungengeläufigkeit, wohl gar mit ihrer Frechheit zu prunken, und der Tag geriet ihnen immer zu einem Triumph- und Freudentag. Gerade bei diesen erwies es sich aber jederzeit, daß alles eitel Schall und Rauch gewesen. Es gibt geborene Protestanten, und ich möchte mich zu diesen zählen, weil nicht ein Mangel an religiösem Sinne, sondern, freilich mir unbewußt, ein letztes feines Räuchlein verschollener Scheiterhaufen, durch die hallende Kirche schwebend, mir den Aufenthalt widerlich machte, wenn die eintönigen Gewaltsätze hin-und hergeworfen


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