Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
Читать онлайн книгу.und starken Geißen. Der Klara kam es so köstlich vor, so ganz allein auf einem Berge zu sitzen, nur mit einem zutraulichen Geißlein, das ganz hilfsbedürftig zu ihr aufsah. Ein großer Wunsch stieg auf in ihr, auch einmal ihr eigener Herr zu sein und einem andern helfen zu können und nicht nur immer sich von allen anderen helfen lassen zu müssen. Und es kamen der Klara jetzt so viele Gedanken, die sie gar nie gehabt hatte, und eine unbekannte Lust, fortzuleben in dem schönen Sonnenschein und etwas zu tun, mit dem sie jemand erfreuen konnte, wie sie jetzt das Schneehöppli erfreute. Eine ganz neue Freude kam ihr ins Herz, so als ob alles, was sie wußte und kannte, auf einmal viel schöner und anders sein könnte, als sie es bis jetzt gesehen hatte, und es wurde ihr so schön und wohl zumute, daß sie das Geißlein um den Hals nehmen und ausrufen mußte: »O Schneehöppli, wie schön ist es hier oben; wenn ich nur immer da bei euch bleiben könnte!«
Das Heidi war unterdessen an dem Blumenplatze angekommen. Es stieß einen Freudenschrei aus. Von leuchtendem Golde bedeckt lag die ganze Halde da. Das waren die schimmernden Ziströschen. Dichte, dunkelblaue Büsche von Glockenblumen wiegten sich darüber, und ein so starker gewürziger Duft wogte um die sonnige Halde, als wären die köstlichsten Balsamschalen da oben ausgeschüttet worden. Der ganze Wohlgeruch kam aber von den kleinen braunen Kolbenblümchen her, die ihre runden Köpfchen da und dort bescheiden zwischen den Goldkelchen emporstreckten. Das Heidi stand und schaute und zog den süßen Duft in langen Zügen ein. Auf einmal kehrte es um und kam außer Atem vor Erregung zu Klara zurück.
»Oh, du mußt gewiß kommen«, rief es ihr schon von weitem zu. »Sie sind so schön, und alles ist so schön, und am Abend ist es vielleicht nicht mehr so. Ich kann dich vielleicht tragen, meinst du nicht?«
Klara schaute das erregte Heidi mit Verwunderung an; sie schüttelte aber den Kopf.
»Nein, nein, was denkst du, Heidi; du bist ja viel kleiner als ich.
Oh, wenn ich nur gehen könnte!«
Jetzt schaute das Heidi suchend um sich, es mußte etwas Neues im Sinne haben. Dort oben, wo der Peter vorher auf dem Boden gelegen hatte, saß er jetzt und starrte auf die Kinder herunter. So hatte er schon seit Stunden gesessen und immerzu herabgestarrt, so als könne er nicht fassen, was er vor sich sah. Er hatte den feindlichen Stuhl zerstört, damit alles aufhören und die Fremde sich gar nicht mehr bewegen könne, und eine kurze Weile nachher erschien sie da oben und saß vor ihm auf dem Boden neben dem Heidi. Das konnte ja nicht sein, und doch war es immer noch so, er konnte hinsehen, wann er wollte.
Jetzt schaute das Heidi zu ihm auf.
»Komm hier herunter, Peter!« rief es sehr bestimmt.
»Komme nicht«, rief er zurück.
»Doch, du mußt; komm, ich kann es nicht allein machen, du mußt mir helfen; komm schnell!« drängte das Heidi.
»Komme nicht«, ertönte es wieder.
Jetzt sprang das Heidi eine kleine Strecke den Berg hinan, dem
Angeredeten entgegen.
Da stand es mit flammenden Augen und rief hinauf:
»Peter, wenn du nicht auf der Stelle kommst, so will ich dir auch etwas machen, das du dann gewiß nicht gern hast; das kannst du glauben!«
Diese Worte gaben dem Peter einen Stich, und eine große Angst packte ihn an. Er hatte etwas Böses getan, das kein Mensch wissen sollte. Bis jetzt hatte es ihn gefreut, aber nun redete das Heidi, wie wenn es alles wüßte, und was es wußte, sagte es alles seinem Großvater, und vor dem fürchtete der Peter sich ja wie vor keinem andern. Wenn er nun vernähme, was mit dem Stuhl vorgegangen war! Den Peter würgte die Angst immer ärger. Er stand auf und kam dem wartenden Heidi entgegen.
»Ich komme, aber dann mußt du das nicht machen«, sagte er, so zahm vor
Furcht, daß das Heidi ganz mitleidig wurde.
»Nein, nein, das tu ich nun schon nicht«, versicherte es. »Komm jetzt nur mit mir, es ist nichts zum Fürchten, was du tun mußt.«
Bei Klara angelangt, ordnete nun das Heidi an, auf der einen Seite sollte der Peter, auf der andern wollte es selbst Klara fest unter den Arm fassen und aufheben. Das ging nun ziemlich gut, aber jetzt kam das Schwierigere. Klara konnte ja nicht stehen, wie sollte man sie nun festhalten und vorwärts bringen? Das Heidi war zu klein, um ihr mit seinem Arm eine Stütze zu bieten.
»Du mußt mich jetzt um den Hals nehmen, ganz fest, so. Und den Peter mußt du am Arm nehmen und ganz fest darauf drücken, dann können wir dich tragen.«
Aber der Peter hatte noch nie jemandem den Arm gegeben. Klara umfaßte diesen wohl, der Peter aber hielt ihn ganz steif am Leibe herunter wie einen langen Stecken.
»So macht man es nicht, Peter«, sagte das Heidi sehr bestimmt. »Du mußt mit dem Arm einen Ring machen, und dann muß die Klara mit dem ihrigen durchfahren, und dann muß sie ganz fest aufdrücken, und du mußt um keinen Preis nachgeben, dann kommen wir schon vorwärts.«
Das wurde nun so ausgeführt. Man kam aber nicht gut vorwärts. Klara war nicht so leicht, und das Gespann zu ungleich in der Größe. Auf der einen Seite ging es herab und auf der andern hinauf, das gab eine ziemliche Unsicherheit in den Stützen.
Klara probierte es abwechselnd ein wenig mit den eigenen Füßen, zog aber einen nach dem andern immer bald wieder zurück.
»Stampf einmal recht herunter«, schlug das Heidi vor, »dann tut es dir gewiß nachher weniger weh.«
»Meinst du?« sagte Klara zaghaft.
Sie gehorchte aber und wagte einen festen Schritt auf den Boden und dann mit dem zweiten Fuß; sie schrie aber ein wenig auf dabei. Dann hob sie den einen wieder und setzte ihn leiser hin.
»Oh, das hat schon viel weniger weh getan«, sagte sie voller Freude.
»Mach's noch einmal«, drängte eifrig das Heidi. Klara tat es und dann noch einmal und noch einmal, und auf einmal schrie sie auf:
»Ich kann, Heidi! Oh, ich kann! Sieh! Sieh! Ich kann Schritte machen, einen nach dem andern.«
Jetzt jauchzte das Heidi noch viel mehr auf.
»Oh! Oh! Kannst du gewiß selbst Schritte machen? Kannst du jetzt gehen? Kannst du gewiß selbst gehen? Oh, wenn nur der Großvater käme! Jetzt kannst du selbst gehen, Klara, jetzt kannst du gehen!« rief es ein Mal ums andere in jubelnder Freude aus.
Klara hielt sich wohl fest an auf beiden Seiten, aber mit jedem
Schritt wurde sie ein wenig sicherer, das konnten alle drei empfinden.
Das Heidi kam ganz außer sich vor Freude.
»Oh, nun können wir alle Tage miteinander auf die Weide gehen und auf der Alp herum, wo wir wollen«, rief es wieder aus, »und du kannst dein Lebtag gehen, wie ich, und mußt nie mehr im Stuhl gestoßen werden und wirst gesund. Oh, das ist die größte Freude, die wir haben können!«
Klara stimmte mit dem ganzen Herzen ein. Gewiß kannte sie gar kein größeres Glück auf der Welt, als auch einmal gesund zu sein und herumgehen zu können wie die anderen Menschen und nicht mehr elend die ganzen Tage lang in den Krankensessel gebannt zu sein.
Es war nicht weit zu der Blumenhalde hinüber. Dort sah man schon das
Glitzern der Goldröschen in der Sonne. Jetzt waren sie bei den Büschen
der blauen Glockenblumen angekommen, wo zwischendurch der sonnige
Boden so einladend aussah.
»Können wir nicht hier niedersetzen?« fragte Klara.
Das war ganz nach Heidis Wunsch, und mitten in die Blumen hinein setzten sich die Kinder, Klara zum erstenmal, auf den trockenen, warmen Alpenboden hin; das gefiel ihr unbeschreiblich wohl. Und nun rings um sie die wiegenden blauen Glockenblumen, die schimmernden Goldröschen, das rote Tausendgüldenkraut und um und um der süße Duft der braunen Kolbenblümchen, der würzigen Prünellen. Alles war so schön! So schön!
Auch das Heidi neben ihr meinte,