Retromania. Simon Reynolds

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Retromania - Simon  Reynolds


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neuer Indie-Bands an Shoegaze, Grunge und Britpop deutete sich schon früh ein 90er-Revival an.

      Das Wort »Retro« hat eine konkrete Bedeutung: Es meint die selbstreflexive Fetischisierung eines bestimmten Zeitraums (in der Musik, Mode oder im Design), die durch Nachahmung und Zitat kreativ ausgedrückt wird. Im engeren Sinne ist Retro die Domäne von Ästheten, Connaisseuren und Sammlern, also von Leuten mit beinahe akademischem Wissenshorizont und einem scharfen Sinn für Ironie. Aber das Wort ist inzwischen in einer viel weiter gefassten Bedeutung gebräuchlich und dient dazu, so ziemlich alles zu beschreiben, was irgendeinen Bezug zur jüngeren Geschichte hat. Im Sinne dieser weiter gefassten Verwendung des Wortes untersucht Retromania die gesamte Bandbreite des gegenwärtigen Gebrauchs und Missbrauchs der Vergangenheit von Pop. Die Gegenwärtigkeit der alten Popkultur wurde immer deutlicher spürbar: Komplette Backkataloge sind weiterhin verfügbar, auf YouTube ist ein riesiges kollektives Archiv entstanden. Gleichzeitig hat sich die Art und Weise, wie wir Musik konsumieren, verändert, nicht zuletzt dank eines Geräts wie dem iPod, der oft als persönlicher »Oldies«-Radiosender dient. Dazu kommt noch, dass Rockmusik nach etwa 50-jähriger Geschichte auf natürliche Weise ergraut ist: Es gibt Musiker, die immer noch touren und Alben aufnehmen, genauso wie Künstler, die nach langer Zeit des Schweigens wieder ein Comeback starten. Und schließlich gibt es »neue alte« Musik von jungen Leuten, die sich stark an der Vergangenheit orientieren, häufig auf eine allzu deutliche, überzogene Weise.

      Auch frühere Epochen waren von der Vergangenheit besessen – angefangen bei der Ehrfurcht, die man in der Zeit der Renaissance vor der römischen und griechischen Antike hatte, bis hin zur Verehrung des Mittelalters während der englischen Romantik. Jedoch gab es bisher in der Geschichte der Menschheit keine Gesellschaft, die so von den kulturellen Artefakten ihrer eigenen jüngsten Vergangenheit besessen war. Das ist es, was Retro von der Begeisterung für Antiquitäten oder Historisches unterscheidet: die Faszination für Moden, Trends, Sounds und Stars, die man noch lebhaft in Erinnerung hat. Gemeint sind Phänomene, die man bereits bei der ersten Begegnung bewusst als Bestandteil der Popkultur wahrgenommen hatte – im Unterschied zu den Sachen, die unbemerkt an einem vorüberzogen, als man noch ein kleines Kind war.

      Diese Form der Retromanie ist in unserer Kultur zu einer vorherrschenden Kraft geworden, es fühlt sich fast nach einer Trendwende an. Hindert die Nostalgie unsere Kultur daran, voranzupreschen, oder verfallen wir der Nostalgie, weil unsere Kultur keinen Fortschritt produziert und wir deshalb unweigerlich auf Zeiten zurückblicken, die uns bedeutsamer und rasanter erscheinen? Aber was passiert, wenn wir die Vergangenheit zur Gänze abgegrast haben? Bewegen wir uns auf eine Art kultur-ökologische Katastrophe zu, wenn der Flöz der Popgeschichte ausgebeutet ist? Und was von all dem, was sich in diesem Jahrzehnt ereignet hat, kann den Nostalgie-Wahn und die Retro-Trends der Zukunft bedienen?

      Ich bin nicht der einzige, der diesen Perspektiven ratlos gegenübersteht. Ich habe aufgehört, die Kolumnen und Blogs zu zählen, die besorgt und händeringend fragen, was mit Innovationen und Umbrüchen in der Musik geschehen ist. Wo sind die bedeutenden neuen Genres und Subkulturen des 21. Jahrhunderts? Manchmal sind es die Musiker selbst, die an den ermüdenden Déjà-vus leiden. 2007 verkündete Sufjan Stevens in einem Interview: »Rock’n’Roll ist ein Museumsexponat … Es gibt heute großartige Rockbands – ich liebe die White Stripes, ich liebe die Raconteurs, aber sie sind reif fürs Museum. In die Clubs zu gehen, wo deren Musik gespielt wird, ist wie den Geschichtssender anzusehen. Sie wiederholen nur eine vergangene Stimmung. Sie beschwören die Geister dieser Epoche herauf – The Who, Punk Rock, die Sex Pistols, was auch immer. Aber das ist vorbei, die Rebellion ist vorbei.«

      Aber freilich krankt nicht allein die Popmusik an der Vergangenheit: Man muss sich nur die Manie verdeutlichen, mit der Hollywood Remakes von Blockbustern macht, die ein paar Jahrzehnte zurückliegen: Alfie, Ocean’s Eleven, Die Bären sind los, Casino Royale, Der rosarote Panther, Hairspray, Reise zum Mittelpunkt der Erde, Fame, Tron, True Grit … Für die nahe Zukunft sind Remakes von Die Fliege (ja, er wird zum dritten Mal gedreht), Die unglaubliche Geschichte des Mister C., Das dreckige Dutzend … versprochen, während Russell Brand in Remakes von Mein böser Freund Fred auftreten wird. Wenn sie nicht bewährte Kassenschlager der Vergangenheit aufmotzt, adaptiert die Filmindustrie beliebte »Kult«-Fernsehserien für die Leinwand, wie Ein Duke kommt selten allein, Drei Engel für Charlie und Mini-Max, ebenso wie längst vergangene Kinder-Cartoons wie Yogi Bär und Die Schlümpfe. Irgendwo dazwischen liegt Star Trek, das Mitte 2009 auf die Leinwand zurückkehrte: Es handelte sich dabei nicht im engeren Sinne um ein Remake, sondern um ein Prequel (der Untertitel fiel ungewollt ironisch aus: »Die Zukunft hat begonnen«) mit Spock und Kirk in ihren jungen Jahren. Dieser Film versucht, zwischen der generationenübergreifenden, zunehmenden Begeisterung für die Originalfernsehserie aus den 60ern, den Filmen der 80er und der darauf folgenden Fernsehserie Star Trek: The Next Generation zu versöhnen.

      Im Theater gibt es eine lange Tradition, kanonische Stücke und populäre Musicals wiederzubeleben. Aber auch hier setzen sich Remakes und Spinoffs mit Produktionen wie Spamalot (basierend auf Monty Python und die Ritter der Kokosnuss) und »Jukebox Musicals« durch, zusammengesetzt aus den Golden Oldies legendärer Bands oder aus klassischen Genres: We Will Rock You (Queen), Good Vibrations (Beach Boys), The Times They Are A-Changin’ (Bob Dylan) und Rock of Ages (80er-Hair-Metal). Es gibt sogar »Jukebox-TV« mit Sendungen wie Glee oder Pop Idol/American Idol (mit Beatles-Nächten, Stones-Nächten etc.), die Rock und Soul auf die harmlose Tradition des Showbusiness / leichter Unterhaltung / des Varieté herunterbrechen. Auch das Fernsehen ist mit Remakes auf den Zug aufgesprungen, allerdings für gewöhnlich mit weniger Erfolg als Hollywood. Die Leute in diesem Bereich beschreiben die zeitgenössischen Versionen klassischer Fernsehserien als ein »gut verkäufliches Konzept«, aber bisher haben sich die Versuche – glamouröse Remakes von Nummer 6, Detektiv Rockford, Drei Engel für Charlie, Polizeibericht, The Twilight Zone, Auf der Flucht, Kojak, Die Sieben-Millionen-Dollar-Frau, Hawaii Fünf-Null, Beverly Hills 90210, Dallas und beliebte Britcoms wie Der Aufpasser, Reggie Perrin und The Likely Lads –, gemessen an den Einschaltquoten, nicht besonders gut »verkauft« (tatsächlich werden diese Remakes in Amerika noch häufig vor dem Ende einer Staffel abgesetzt). Trotzdem versuchen sie es immer weiter: Es scheint eine unwiderstehliche Versuchung zu sein, das Altbewährte neu aufzubereiten, den Kultstatus des Originals immer weiter zu melken.

      Dann gibt es da noch die Mode. Hier ist das Durchstöbern des Kleiderschranks seit längerer Zeit wesentlich für die Industrie, aber auch die Wiederverwertung alter Ideen hat im letzten Jahrzehnt ihren wahnwitzigen Höhepunkt erreicht. Designer wie Marc Jacobs und Anna Sui wühlten sich durch die Stile vergangener Epochen, sobald diese vorbei waren. Der Markt für Vintage-Klamotten boomte (»vintage« meint mittlerweile schon die 80er, denn heute ist die Nachfrage nach Designern dieser Zeit wie Azzedine Alaia groß) und gleichzeitig fand eine »Antikisierung« von Möbeln und Artefakten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt, da die Magazine für Innendesign und Architektur wie wild auf die modernen Möbel dieser Zeit abfuhren.

      Das sind nur einige der sichtbarsten Schauplätze der Retromanie. Es gibt natürlich noch Retro-Spielzeuge (die Trends umfassen alles vom View-Master bis zur Blythe-Puppe aus den frühen 70ern) und Retro-Spiele (das Spielen und Sammeln von alten Computer-, Video- und Arcade-Spielen aus den 80ern). Es gibt Retro-Essen (die Sandwich-Kette Pret A Manger bietet »Retro Prawn on Artisan« an, eine aufgemotzte Version des in den 70ern beliebten Krabbencocktails) und es gibt genauso Retro-Inneneinrichtungen, Retro-Süßigkeiten, Retro-Klingeltöne, Retro-Reisen und Retro-Architektur. Es gibt sogar ab und an Werbung in Retro-Manier, wie etwa die für Heinz Baked Beans, die unzählige Schnipsel aus alten britischen Werbespots der 60er, 70er und 80er vermischt, gekrönt von dem unverwüstlichen Slogan »Beanz Meanz Heinz«. Am verrücktesten ist die Nachfrage nach Retro-Pornos: Sammler, die sich auf Erotik- und Sex-Magazine aus bestimmten Epochen spezialisieren; Websites mit Kategorien wie »Retro Face-Sitting«, »Retro Big Tits« und »Vintage Hairy« (gemeint sind Pornos vor der Brazilian-Waxing-Ära). Telefonsexwerbung im Kabelfernsehen wird hin und wieder von schwarz-weißen Pornos und Nacktfilmen aus den 50ern (oder früher) unterbrochen, die einen zu der Vorstellung verleiten, dass die lasziven Darstellerinnen mittlerweile entweder in


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