Anna Karenina. Лев Толстой
Читать онлайн книгу.es zwischen Vater und Mutter einen Streit gegeben hatte, und daß die Mutter nicht vergnügt sein konnte, und daß der Vater das wissen mußte, und daß er sich verstellte, wenn er so leichthin danach fragte. Und sie errötete für ihren Vater. Er verstand das sofort und errötete nun gleichfalls.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Sie hat gesagt, wir sollten heute keinen Unterricht haben, sondern mit Miß Hull zu Großmama gehen«
»Na, dann geh, meine liebe kleine Tanja! Ja so, warte noch mal«, sagte er, indem er sie doch noch zurückhielt und ihr zartes Händchen streichelte.
Er nahm vom Kaminsims eine Schachtel Konfekt herab, die er gestern dahin gestellt hatte, und gab ihr zwei Stückchen; er wählte solche, die sie am liebsten aß: eine Schokoladenpraline und einen Fruchtbonbon.
»Für Grigori?« fragte das Kind und zeigte auf die Praline.
»Ja, ja!« Nochmals streichelte er ihr die Schulter und küßte sie auf die Stirn beim Haaransatz und auf den Hals; dann ließ er sie fort.
»Der Wagen steht bereit!« meldete Matwei. »Es ist auch eine Bittstellerin da«, fügte er hinzu.
»Ist sie schon lange hier?« fragte Stepan Arkadjewitsch.
»Etwa ein halbes Stündchen.«
»Wie oft habe ich dir befohlen, mir die Leute sofort zu melden!«
»Sie müssen doch Ihren Kaffee in Ruhe trinken können«, erwiderte Matwei in einem freundlich-groben Tone, über den sein Herr nicht zornig werden konnte.
»Na, dann bitte sie jetzt schnell herein«, sagte Oblonski, ärgerlich die Augenbrauen zusammenziehend.
Die Bittstellerin, eine Frau Hauptmann Kalinina, bat um etwas ganz Unmögliches und Unvernünftiges; aber nach seiner Gewohnheit ersuchte Stepan Arkadjewitsch sie, Platz zu nehmen, hörte ihr, ohne sie zu unterbrechen, aufmerksam zu und gab ihr ausführliche Ratschläge, an wen sie sich zu wenden habe und wie sie es angreifen müsse, und schrieb sogar in gewandtem, bündigem Stile mit seiner großen, sperrigen, hübschen, klaren Handschrift einen Brief für sie an die Persönlichkeit, die ihr behilflich sein konnte. Nachdem er die Frau Hauptmann entlassen hatte, nahm er seinen Hut und stand noch einen Augenblick da, um zu überlegen, ob er auch nichts vergessen habe. Er überzeugte sich, daß er nichts vergessen hatte außer dem einen, was er gern vergessen wollte, – seine Frau.
›Ach ja!‹ Er ließ den Kopf sinken, und sein hübsches Gesicht nahm einen sorgenvollen Ausdruck an. ›Soll ich zu ihr hingehen oder nicht?‹ erwog er. Und eine innere Stimme sagte ihm, es sei zwecklos, hinzugehen, es liefe doch alles nur auf Lüge hinaus; ihre gegenseitigen Beziehungen wiederherzustellen und in Ordnung zu bringen, sei unmöglich, weil es weder möglich sei, Dolly wieder zu einem anziehenden, reizenden Weibe noch sich selbst zu einem alten, der Liebe unfähigen Manne zu machen. Es war jetzt alles notwendigerweise voller Lüge und Unwahrhaftigkeit; Lüge und Unwahrhaftigkeit aber waren seiner Natur zuwider.
›Indessen, irgendeinmal muß es doch geschehen; so kann die Sache ja nicht bleiben‹, sagte er zu sich, bestrebt, sich Mut zu machen. Er reckte die Brust heraus, holte eine Zigarette hervor, zündete sie an, rauchte ein paar Züge, warf sie in das Aschenschälchen aus Perlmutter, durchmaß mit schnellen Schritten den Salon und öffnete die Tür zum Schlafzimmer seiner Frau.
4
Er fand Darja Alexandrowna in der Nachtjacke, die Flechten ihres bereits recht dünn gewordenen, früher so dichten schönen Haares am Hinterkopf aufgesteckt, mit verfallenem, hagerem Gesicht und großen, erschrockenen Augen, die infolge der Hagerkeit des Gesichts stark hervortraten. Sie stand mitten unter allerlei Sachen, die im Zimmer umhergeworfen waren, vor einem offenen Wäscheschrank, aus dem sie einzelnes heraussuchte. Als sie die Schritte ihres Mannes hörte, hielt sie inne und blickte nach der Tür, wobei sie sich ohne Erfolg bemühte, ihrem Gesichte einen strengen, verächtlichen Ausdruck zu verleihen. Sie fühlte, daß sie vor ihm Furcht hatte und sich vor der bevorstehenden Aussprache ängstigte. Eben erst hatte sie von neuem versucht, das zu tun, was sie schon zehnmal in diesen drei Tagen zu tun versucht hatte: von den Sachen der Kinder und von ihren eigenen das Notwendigste herauszusuchen, um es zu ihrer Mutter bringen zu lassen. Und wieder konnte sie sich nicht endgültig dazu entschließen; aber auch jetzt sagte sie sich ebenso wie bei den früheren Versuchen, daß dieser Zustand nicht fortdauern könne; sie müsse irgend etwas unternehmen, ihren Mann bestrafen, bloßstellen, sich an ihm rächen, indem sie ihm wenigstens einen kleinen Teil des Schmerzes antäte, den er ihr zugefügt habe. Sie sagte sich immer noch, daß sie ihn verlassen wolle, fühlte aber, daß das unmöglich sei; unmöglich aber war es deswegen, weil sie nicht davon lassen konnte, ihn als ihren Gatten zu betrachten und zu lieben. Außerdem sah sie voraus, daß, wenn sie schon hier, im eigenen Hause, mit der Pflege und Beaufsichtigung ihrer fünf Kinder kaum fertig wurde, diese dort, wohin sie sich mit ihnen allen begeben wollte, noch schlechter versorgt werden würden. War doch schon in diesen drei Tagen der Jüngste von schlechter Fleischbrühe, die er bekommen hatte, krank geworden, und die übrigen hatten gestern fast gar kein Mittagessen gehabt. Sie fühlte, daß es ihr unmöglich sei, von hier wegzugehen; aber sie täuschte sich trotzdem selbst etwas vor, suchte die Sachen zusammen und tat, als ob sie weg wolle.
Als sie ihren Mann erblickte, versenkte sie die Hände in ein Fach des Wäscheschrankes, als ob sie etwas suchte, und sah sich nach ihm erst um, als er ganz dicht an sie herangetreten war. Aber ihr Gesicht, dem sie einen strengen, entschlossenen Ausdruck verleihen wollte, sprach nur von Ratlosigkeit und tiefem Leide.
»Dolly!« sagte er mit leiser, schüchterner Stimme. Er hatte den Kopf in die Schultern hineingezogen und wollte sich gern ein klägliches, demütiges Aussehen geben, aber dabei strahlte er doch von Frische und Gesundheit. Mit einem schnellen Blicke überschaute sie vom Kopf bis zu den Füßen seine prächtige, lebensfrohe Gestalt. ›Ja, er ist glücklich und zufrieden!‹ dachte sie. ›Aber ich? ... Und diese widerwärtige Gutmütigkeit, um derentwillen ihn alle lieben und loben; ich hasse an ihm diese Gutmütigkeit.‹ Ihr Mund preßte sich zusammen; die Wangenmuskeln auf der rechten Seite ihres bleichen, nervösen Gesichtes zuckten.
»Was wünschen Sie?« fragte sie schnell in unnatürlich klingendem Tone.
»Dolly«, sagte er noch einmal, und seine Stimme zitterte dabei. »Anna kommt heute her.«
»Was geht es mich an? Ich kann sie nicht empfangen!« schrie sie auf.
»Aber es wird doch nötig sein, Dolly ...«
»Gehen Sie weg, gehen Sie weg!« rief sie, ohne ihn anzublicken, als wäre dieser Aufschrei durch einen körperlichen Schmerz hervorgerufen.
Stepan Arkadjewitsch hatte wohl ruhig sein können, solange er an seine Frau nur dachte; da hatte er hoffen können, es werde sich alles, nach Matweis Ausdruck, wieder einrenken, und hatte in dieser Hoffnung ruhig seine Zeitung lesen und seinen Kaffee trinken können; als er aber jetzt ihr abgehärmtes Märtyrergesicht vor sich sah und diesen Ton ihrer Stimme hörte, aus dem ihre Ergebung in das Schicksal und ihre Verzweiflung herausklangen, da war es ihm, als wenn er ersticken müßte; es stieg ihm etwas in die Kehle, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Mein Gott, was habe ich getan, Dolly! Um Gottes willen! Ich habe ja ...« Er konnte nicht weiterreden; ein Schluchzen verschloß ihm die Kehle.
Sie schloß die Schranktür und blickte ihn an.
»Dolly, was kann ich sagen? Nur das eine: Verzeih mir! Denke zurück; können denn nicht neun Jahre des Zusammenlebens einige wenige Augenblicke aufwiegen, in denen ...«
Sie hatte die Augen auf den Boden gerichtet und hörte ihm zu, als warte sie, was er wohl sagen werde, als flehe sie ihn an, sie irgendwie von seiner Schuldlosigkeit zu überzeugen.
»... einige wenige Augenblicke, in denen ich mich hinreißen ließ ...«, fuhr er fort und wollte weitersprechen; aber bei diesen Worten preßten sich ihre Lippen wieder wie infolge eines körperlichen Schmerzes zusammen, und wieder zuckten die Muskeln ihrer rechten