Leichen, die auf Kühe starren. Tatjana Kruse
Читать онлайн книгу.Ahnung, wie es in der Suite aussah. Aber als sie dem Araber jetzt über die Schulter schaute, erblickte sie ordnungstechnisch das genaue Gegenteil von der Suite der beiden Fitnessfreaks. Die fünf Knirpse durften offenbar tun und lassen, was sie wollten. Überall lag Spielzeug und Naschkram verstreut, Schubladen waren aufgerissen, Schranktüren standen offen, Kleidungsstücke hingen heraus. Alle der insgesamt drei Fernsehgeräte in der Suite liefen, jedes auf einem anderen Sender. Am lautesten hörte man die Kindersendung im zweiten Schlafzimmer. Im Bad rauschte Wasser in die Wanne.
„Verzeihen Sie bitte die Störung.“ Neuveille räusperte sich.
„Laafamm?“, sagte der Araber. „Mathalonli?“
Neuveille räusperte sich und wollte es auf Englisch versuchen, obwohl er sich zu erinnern meinte, dass er mit dem Gast bei dessen Ankunft auf Deutsch kommuniziert hatte, da rief eine Frauenstimme streng aus dem Nebenzimmer: „Habib!“
Der Araber guckte verwirrt, dann strahlte die sprichwörtliche Glühbirne über seinem Kopf auf, und er hob in entschuldigender Geste beide Hände. „Oh, verzeihen Sie, ich hatte gerade eine Konferenzschaltung mit meinem Büro zu Hause und war noch ganz in meiner Muttersprache. Was kann ich für Sie tun?“ Sein Deutsch hatte eine Mannheimer Färbung.
„Wir wurden informiert, dass es einen … ungewöhnlichen Vorfall gegeben haben soll. Bei Ihnen in der Suite“, meinte Neuveille geflissentlich lächelnd. „Ist … äh … vielleicht einer von Ihnen verletzt?“
Der Mann hatte in Deutschland Betriebswirtschaftslehre studiert, man konnte sich problemlos mit ihm auf Deutsch unterhalten. Man hätte es auch auf Englisch, Italienisch und Russisch tun können, er war vielsprachig. Aber in jeder Sprache, auch in seiner Muttersprache, wäre die Antwort gleich ausgefallen: „Nein, wieso? Bei uns ist alles in bester Ordnung.“
In der Tür zum Nebenzimmer tauchten jetzt die drei Frauen auf, alle in Burka. Vermutlich hatten sie sich erst verhüllen müssen. Deswegen hatte es mit dem Öffnen der Tür so lange gedauert. Sie hätten auch einfach im Nebenzimmer bleiben können, aber Neugier, dein Name ist Weib. Allüberall auf der Welt.
Der Mann sagte etwas auf Arabisch, es klang sehr herrisch. Vielleicht befahl er: „Macht, dass ihr wieder in den Nebenraum kommt!“ Aber das Arabische klang ja für ungeübte, westeuropäische Ohren gern etwas harsch. Vielleicht sagte er auch nur: „Mädels, ich hab euch lieb. Gleich bin ich wieder ganz für euch da.“
Die fünf Kleinkinder bauten sich der Größe nach hinter ihrem Papa auf.
Alles in allem bot sich das bukolische Bild familiärer Glückseligkeit. Mit einem Hauch Exotik.
„Das freut mich zu hören. Dann kann ich nur noch einmal wiederholen: Verzeihen Sie bitte die Störung.“ Neuveille und Leo wollten gerade den strategischen Rückzug antreten, da gellte eine vertraute Stimme: „Das ist er!“
Sie fuhren herum.
Hinter ihnen stand die Panikfrau aus der Infrarotkabine. Das blaue Licht schien sie nicht beruhigt zu haben. Im Gegenteil, sie schien vor Empörung Funken zu schlagen. „Lassen Sie sich nicht einlullen. Ich sage Ihnen, das ist er!“
Ihr Gatte stand neben ihr und zuckte bedauernd mit den Schultern.
Neuveille zeigte auf den arabischen Gast. „Er hier? Sind Sie sicher?“
„Doch nicht er. ER!“ Sie zeigefingerte auf die mittlere der Burka-Frauen, die gedrungener wirkte und deutlich kleiner war als die beiden anderen. Die aber auch sehr klein waren.
„Das ist eine Frau“, sagte Leo.
Der Araber nickte.
„Das ist definitiv keine Frau, unter der Burka steckt ein Kerl. Ein Kerl mit einem blutigen Messer!“ Die Panikfrau bekam einen hysterischen Schluckauf. Ihr Ehemann tätschelte ihr unbeholfen die Schulter.
„Lass mich!“, kreischte sie und schüttelte seine Hand ab. „Ich weiß, was ich gesehen habe!“
Neuveille sah zu Leo, dann zu dem arabischen Gast. Das waren so die Momente im Leben eines Hoteldirektors, auf die einen die Hotelfachschule nicht vorbereitete. „Sie haben möglicherweise mitbekommen, dass es hier in der Nähe einen … äh … Vorfall gegeben hat. Ein Mensch kam gewaltsam ums Leben.“
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