Finnische Träume | Roman. Joona Lund

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Finnische Träume | Roman - Joona Lund


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als Mädchen.

      Als sie Jan das Mikrofon hinhielt, wurde er nicht wie die anderen vor Aufregung abwechselnd blass und rot, sondern antwortete auf ihre Fragen über Themenwahl und Umsetzung, über das Verhältnis zur Schulleitung und zu den Lehrern oder wie das monatlich erscheinende Blättchen bei den Mitschülern ankomme, gefasst. Er gab Fragen an Mitschüler weiter und bezog sie so geschickt ein. »Ich glaube«, sagte er etwa, »Ero, du kannst das besser beantworten.«

      Der einen halben Kopf größere Junge akzeptierte die Anweisung ohne Zögern, man spürte, Jan war der Kopf. Die Jugendlichen zwischen fünfzehn und achtzehn schauten, ehe sie antworteten, zu ihm und er nickte ihnen aufmunternd zu, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Die Situation unterschied sich grundlegend von den anderen Schulen, wo Eifersüchteleien und das Bestreben, sich zu profilieren, die Teamarbeit behindert hatten.

      Lia spürte jenes Kribbeln im Bauch, das sich meldete, wenn sie merkte, dass sich eine Story weit besser anließ als erhofft. Häufig lag das nicht am Inhalt, sondern an den die Geschichte tragenden Hauptfiguren. Oft bekam ein langweiliges Thema durch die handelnden Personen den besonderen Drall, ihr schwante, mit der Rückreise würde es heute nichts werden. Wie zur Bestätigung schlug der Jüngste im Team vor, Lia sollte mit Jan und Inku zu deren Hof fahren. Er warf Jan einen fragenden Blick zu und dieser nickte bedächtig.

      »Dann können Sie sich ein besseres Bild von uns hier machen.«

      Das bedeutete, hierzubleiben. Lehnte sie aber ab, brachte sie sich um die Chance, eine gute Geschichte einzufangen. »Klingt nicht übel. Und wie komme ich ins Hotel zurück?«

      Das wäre kein Problem, meinte Jan, auf dem Hof wäre Platz genug, sie könnte im Schulbus mitfahren und bei ihnen übernachten. Jetzt hätte sie noch Zeit, sich in der Schule umzusehen und Sachen für die Nacht aus dem Hotel zu holen. Die Umsicht des Jungen verblüffte sie, es hörte sich an, als wäre er gewohnt, in der Welt herumzureisen.

      In der großen Pause schlenderte sie über den weitläufigen Schulhof. Der allgemeine Geräuschpegel unterschied sich nicht von anderen Schulen. Ihr Augenmerk richtete sich auf Jan. Ihr fiel sein wiederholter Blickkontakt zu einem jüngeren Mädchen auf, das nicht in der Zeitungsgruppe gewesen war.

      Lia fragte eine Schülerin, wer das wäre.

      »Das ist Inku, seine Schwester, sieht doch ein Blinder!«

      Lia schlenderte zu der Mädchengruppe. »Hätte mir selbst auffallen müssen«, murmelte sie.

      »Haben Sie was zu mir gesagt?«, fragte ein vorbeigehender Junge.

      Sie griente. »Nein, ich führe Selbstgespräche.«

      Lachend drehte sich der Junge weg.

      Sie beobachtete die Geschwister, die aufeinander zugingen. Die Ähnlichkeit war trotz des Altersunterschieds unverkennbar. Gesten, Kopfhaltung und Bewegungen stimmten überein als wären sie Zwillinge. Jan lächelte der Schwester zu und sie lachte fröhlich zurück. Lia gewann den überraschenden Eindruck, das Mädchen begrüßte ihn geradezu kokett. Und da war noch etwas, das sie wie ein unsichtbarer Vorhang von den anderen trennte, als stünden sie auf einer Insel. Vielleicht war es Einbildung, doch die beiden schien etwas zu verbinden, das über die Zugehörigkeit zur gleichen Familie hinausging. Gewohnheitsmäßig speicherte Lia die Beobachtung ab, bei der Nachbearbeitung war sie über jede zusätzliche Information froh. Es läutete, die Schüler trotteten in die Klassen zurück.

      Lia bummelte durch den Ort, trank im einzigen Café eine braune als Cappuccino angeschriebene Brühe, aß eine Kleinigkeit. Im Hotel steckte sie Kulturbeutel und Wäsche in die Umhängetasche, hing sich das Bandgerät über die Schulter. Aus dem Vorhaben, im Bus mit den Geschwistern Vorgespräche zu führen, wurde nichts, sie saßen mit ihren Freunden zusammen. Überdies war Lia hundemüde.

      Jan rüttelte sie wach. »Lia, wir sind da.«

      Der Busfahrer gab Jan Post mit. Es sei nicht weit, beruhigte Jan sie und hängte sich den Rekorder um. Auf ihre Frage, was er einmal werden wollte, antwortete er ohne Zögern: Journalist. Spontan bot sie ihm an, in den Ferien bei ihrer Zeitung zu praktizieren, war enttäuscht, als der Junge nicht wie erwartet begeistert reagierte, sondern einwandte, er müsste mit Vater sprechen, am Hof gäbe es viel zu tun.

      Da meldete sich Inku zu Wort, die missgelaunt hinter ihnen hergetrottet war. Es missfiel ihr offensichtlich, plötzlich die zweite Geige zu spielen. »Das geht nicht, Vater braucht ihn!« Sie sagte es unwirsch. Lia verstand. Inku wollte wohl nicht, dass Jan fortging.

      »Ein Praktikum bei der Zeitung«, ging er nun auf das Angebot ein, »würde mich schon reizen, sehr sogar. Aber Vater ist tatsächlich auf meine Hilfe angewiesen, gerade im Sommer.«

      Lia fragte seine Schwester, warum sie nicht in der Schülerzeitung mitarbeitete, doch Inku tat, als hätte sie die Frage nicht gehört. Jan erläuterte, sie dürfte erst mit fünfzehn mitmachen, außerdem machte sich Inku nicht viel aus der Schreiberei.

      Das Mädchen reagierte mürrisch: »Ich helfe dir doch jetzt schon bei der verdammten Zeitung!«

      Es hatte den Anschein, Inku befürchtete, die Fremde aus der Stadt könnte einen Keil zwischen sie und den Bruder treiben. Er drehte sich zu ihr. »Stimmt. Und ich bin froh, dass du hilfst und mir den Kleinkram abnimmst.«

      Jan hatte mit Feingefühl auf Inkus Einwand reagiert – selten bei Jungen in dem Alter – und sie war beschwichtigt.

      Er wies auf ein massives, behaglich wirkendes Bauernhaus aus Holzbohlen in einer Mulde. »Da sind wir. Mutter wird Augen machen, wenn wir Besuch aus der Stadt mitbringen, noch dazu eine Journalistin. Sie freut sich auf jeden Gast, das kommt selten vor hier draußen.«

      Während die Geschwister den Vater holen gingen, erklärte die Mutter im Gespräch in der Wohnküche auf Lias Fragen, Jan und Inku litten nicht unter den Entfernungen zu Nachbarn oder zur Stadt, und den weiten Schulweg wären sie von klein auf gewohnt. »Sie haben viel miteinander gespielt, stecken oft zusammen. Inku hängt an Jan.« Und dann erzählte sie Lia, wie Jan Inku gerettet hatte, und das nie vergessen würde. Er hatte sie auf Skiern zu einer Schulfreundin begleitet, obwohl Vater gewarnt hätte, das Wetter könnte umschlagen. Prompt wären sie beim Zurücklaufen in einen Schneesturm geraten und hatten sich verirrt. Inku wäre völlig erschöpft gewesen, hätte sich hinsetzen wollen, wäre eingeschlafen, doch er wäre vor ihr gegangen, hatte sie mit den Stöcken gezogen und mit letzter Kraft nach Hause geschleppt. Bei dem Sturm wären sie kaum zu finden gewesen, die Schneeverwehungen hätten jede Spur verwischt und die Temperatur wäre ständig weiter gefallen. »Er hat ihr das Leben gerettet.« Nachdenklich schloss die Mutter: »Inku hat grenzenloses Vertrauen zu Jan.«

      Lia bemerkte das winzige Zögern, als wollte sie ein Aber hinzufügen. Sie hatte sehr plastisch erzählt. Lia sah die beiden im Sturm vor sich. »Woher hat Jan die Informationen für den Aufsatz und wer hat ihm den Stil beigebracht?«

      Stolz antwortete die Mutter: »Er hat immer viel gelesen, besitzt ein gutes Gedächtnis und war immer neugierig, konnte einem ein Loch in den Bauch fragen.«

      Gedankenvoll erkundigte sich Lia, wie das mit den beiden, die so sehr aufeinander eingespielt waren, werden würde, wenn sie sich aus der Familie lösten oder einen von beiden die große Liebe überkäme. Die Mutter schwieg lange, Lia nahm schon an, sie wollte nicht antworten.

      »Das bereitet mir auch Sorge, vor allem für Inku. Sie sind in jeder freien Minute zusammen, eigentlich schon zu viel.« Versonnen fügte sie hinzu: »Für ihr Alter.«

      Der Vorschlag der Journalistin, Jan könnte in den Ferien bei ihrer Zeitung ein Praktikum machen, gefiel ihr. Sie hätte mit ihm darüber gesprochen, fuhr Lia fort, er hatte aber Bedenken, weil er Vater am Hof helfen müsste.

      Der kam eben mit den Kindern zur Tür herein. Beim Essen stellte er die wirtschaftliche Situation der Bauern im Norden dar, wies darauf hin, dass der Ertrag Jahr für Jahr zurückginge, obwohl sie weit mehr Arbeit investierten als die im Süden: Die Böden wären sauer und vertorft, für den Ackerbau nicht geeignet und der massive Einsatz von Düngekalk verteuerte die Produktion. Viele Familien wären in die Stadt gezogen, dort


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