Der Weg der verlorenen Träume. Rebecca Michéle
Читать онлайн книгу.eine wunderbare Lehrmeisterin.«
Der Anflug eines Lächelns zuckte um die Lippen der Schneiderin.
»Du bist noch jung, Hedwig, aber du solltest darüber nachdenken, den Meisterbrief zu machen. Du hast das Wissen und das Können dafür.«
»Ich? Den Meisterbrief?«
Erna Ballnus nickte bekräftigend. »Die nächste Schule ist in Allenstein. Ich schätze, in zwei oder drei Jahren bist du soweit, um die Aufnahmeprüfung abzulegen und die Ausbildung zu bewältigen.«
»Selbst wenn ich die Prüfung bestehen sollte«, entgegnete Hedwig, »wovon sollte ich das Schuldgeld bezahlen oder meinen Unterhalt in Allenstein bestreiten?« Hedwig lachte bitter. »Sie wissen, dass meine Eltern es nicht unterstützen würden. Solange ich Geld verdiene und dieses meinem Vater aushändige, hat er nichts dagegen, dass ich arbeite. Er würde mich aber niemals aus Sensburg fortgehen lassen, außerdem brauchen wir jeden Pfennig ...«
Schnell brach sie ab, ihre Wangen röteten sich. Es war ihr peinlich, gegenüber Erna Ballnus die finanzielle Situation in ihrem Elternhaus zu erläutern.
Erna Ballnus legte ihre Hand auf die von Hedwig.
»Ich verstehe dich, Hedwig, und ich weiß, dass dein Vater seine Stellung als Polizist verloren hat und nun in der Verwaltung beschäftigt ist. Das Haus habt ihr aber behalten können, nicht wahr?«
Hedwig nickte. »Auch wenn mein Vater nur staubige Akten sortiert und von einem Raum zum anderen trägt – die offizielle Übertragung des Hauses kann nicht angefochten werden. Meine Mutter ist krank, und meine Geschwister gehen noch zur Schule ...«
Die ältere Frau drückte Hedwigs Hand und seufzte verhalten. In den letzten Jahren hatte sie Hedwig wie eine eigene Tochter lieb gewonnen und gern hätte sie dem Mädchen Hoffnung auf die Meisterschule gemacht. Erna Ballnus aber wusste, dass dieser Traum für Hedwig aus finanziellen Gründen wohl unerfüllt bleiben würde.
Wie von Hedwig befürchtet, winkten alle ansässigen Schneider ab, als sie nur das Wort Arbeit äußerte.
»Fräuleinchen, die Geschäfte gehen schlecht«, sagte ein Schneidermeister. »Ich musste einen Gesellen entlassen und kann meine Familie nur noch mit Mühe und Not ernähren.«
Selbst Hedwigs Angebot, in Heimarbeit Änderungen gegen einen geringen Lohn auszuführen, stieß auf taube Ohren. Die Ehefrauen der Schneider, die sich bisher um den Haushalt und die Kinder gekümmert hatten, arbeiteten nun in den Werkstätten mit, um Lohnkosten einzusparen. Aber nicht nur das Schneiderhandwerk ging zurück, viele Männer und auch Frauen verloren in diesen Monaten ihre Arbeit. Ostpreußen war zwar nicht mittelbar von den Umbrüchen, die Deutschland erschütterten, betroffen, die Auswirkungen waren aber deutlich zu spüren. Viele verließen das Land, hofften, in den Fabriken der großen Städte im Westen Lohn und Brot zu erhalten. Trotzdem musste niemand Hunger leiden. Wie bereits während des Krieges halfen sich die Menschen gegenseitig. Das Land war fruchtbar und gab reichlich Nahrung. Nachbarschaftshilfe wurde in Ostpreußen großgeschrieben. Fehlte es in einem Haushalt an Brot, das von Woche zu Woche teurer wurde, brachte man einen Laib zu jemandem, der Hühner hielt, und kehrte mit einem Korb Eier zurück. Milch konnte gegen Kochtöpfe, die nicht mehr benötigt wurden, eingetauscht werden, und Obst und Gemüse wuchsen so gut wie in jedem Garten.
Hedwig beschloss, den Versuch zu wagen, anzubieten, in heimischer Umgebung Änderungen zu machen. Eine Nähmaschine besaß sie zwar nicht, ihre Finger waren aber flink und geschickt im Umgang mit Nadel und Faden. Für diese Arbeiten nahm Hedwig kein Geld, sie hätte sonst ein Gewerbe anmelden müssen, sondern tauschte gegen Nahrungsmittel mit den Bauern der Gegend. Bei den Mahnsteins kam immer genug auf die Teller, trotzdem war die Stimmung gedrückt. Hermann Mahnstein haderte mit seinem Schicksal. In der Polizeiuniform durch die Straßen zu stolzieren, jeden zu kennen und von jedem respektvoll gegrüßt zu werden, war sein Leben gewesen. Einmal überraschte Hedwig ihren Vater, als er die Pickelhaube so zärtlich in den Händen hielt und streichelte, als wäre sie ein Baby.
»Ich bin aussortiert«, hörte sie ihn murmeln. »Aussortiert und zu nichts mehr nütze.«
Immer öfter war Hermann Mahnstein nun im Gasthaus anzutreffen, und so blieb von seinem ohnehin geringen Lohn am Monatsende noch weniger übrig. Hedwigs Mutter, stets auf Harmonie bedacht, schwieg, und weder Hedwig noch eines ihrer Geschwister wagten es, dem Vater Vorwürfe zu machen. In dieser Zeit lernte Hedwig, die Zähne zusammenzubeißen und nicht an morgen zu denken. Sie arbeitete von Sonnenaufgang bis spät in die Nacht hinein. Schnell hatte sich ihre exakte Arbeit in der Stadt und in der Umgebung herumgesprochen, sodass es ihr an Aufträgen nicht mangelte. Durch das ständige Nähen bei Lampenlicht verschlechterten sich jedoch ihre Augen, und Anfang des Jahres 1921 musste sie sich eine Brille anfertigen lassen.
»Ein Mädchen mit Brille, mein letzter Wille«, spottete Paula. »So bekommst du nie einen Mann.«
»Wenn du einen Mann willst, dann solltest du eine Brille tragen, sie würde einen Teil deines verkniffenen Gesichtsausdrucks verdecken«, konterte Hedwig. »Mach du endlich deinen Abschluss, damit du arbeiten gehen kannst. Als ich in deinem Alter war, hatte ich die Schule längst hinter mir und war in der Lehre.«
Paula war eine schlechte Schülerin. Nicht, dass sie nicht intelligent war, sie war schlicht und ergreifend faul und hielt Lernen für Zeitverschwendung. So hatte sie bereits zweimal eine Klasse wiederholen müssen und würde wohl noch weitere zwei Jahre bis zu ihrem Abschluss benötigen.
»Wofür brauche ich eine Ausbildung?« Stolz warf Paula ihr langes, dunkel glänzendes Haar zurück. »Ich werde ohnehin heiraten und Kinder bekommen, dann sorgt mein Mann für mich.«
»So, wie Vater für unsere Mutter und für uns alle sorgt?« Diese Bemerkung konnte Hedwig sich nicht verkneifen, und sie fügte sanfter hinzu: »Paula, die Zeiten haben sich geändert. Heutzutage müssen wir Frauen unseren Mann stehen und sehen, wie wir durchs Leben kommen. Im Westen arbeiten viele Frauen, manche leiten sogar Firmen und Fabriken, weil deren Männer und Söhne aus dem Krieg nicht heimgekehrt sind. Wir haben das Wahlrecht, es ist auch unser Recht, über unser Leben selbst zu bestimmen.«
»Blaustrümpfe mögen die Männer noch weniger als Brillenschlangen«, konterte Paula gehässig.
Verstohlen ballte Hedwig die Hände zu Fäusten. Sie liebte alle ihre Geschwister, nur bei Paula musste sie sich manchmal zusammenreißen, um nicht die Beherrschung zu verlieren und ihr Dinge zu sagen, die eine Schwester der anderen niemals an den Kopf werfen sollte. Das Mädchen hielt sich für den Mittelpunkt der Welt, dachte, alles würde sich genauso entwickeln, wie sie es wollte, und es bereitete Paula Freude, zu spötteln und gehässige Bemerkungen zu machen. Dabei ähnelten sich Hedwig und Paula von den Schwestern äußerlich am meisten, charakterlich waren sie aber völlig unterschiedlich.
Die Hübscheste der Schwestern war Anna, noch ein Kind, aber bereits mit deutlichen Zügen, dass sie eine Schönheit werden würde. Für ein Mädchen war Luise recht groß, noch zeigten sich keine weiblichen Rundungen an ihrem hageren Körper, ihre Nase war lang und spitz, das Kinn eckig und ihre Augen standen eng zusammen. Ihr wenig ansprechendes Äußeres machte Luise aber durch ihr freundliches, ruhiges Wesen und ihre Hilfsbereitschaft wett. Es war Luise, die zusammen mit Hedwig bei Morgengrauen aufstand, die Hühner fütterte und den Garten besorgte, bevor sie zur Schule ging. Nachmittags erledigte Luise als Erstes ihre Hausaugaben und half Hedwig im Haushalt, damit diese sich dem Nähen widmen konnte. Die Jungen kümmerten sich kaum um die häuslichen Belange. Von ihrem Vater geprägt waren sie der Meinung, Kochen, Waschen, Putzen und Nähen sei Frauenarbeit. Karl besuchte das Gymnasium. Er war ein guter Schüler und strebte ein Studium an.
»Etwas im technischen Bereich«, sagte er, »am liebsten Flugzeuge oder so. Passt auf, in ein paar Jahren werden wir alle überall hinfliegen können, sogar bis nach Amerika.«
Das hielt Hedwig zwar für Unsinn, sie neidete ihrem Bruder die Aussicht auf ein Studium aber nicht, auch wenn dies weitere Ausgaben für die Familie bedeutete.
Im Frühjahr 1921 fühlte sich Auguste Mahnstein zunehmend unwohler. Sie war hohlwangig und blass, hatte dunkle Schatten unter den Augen, darüber