Ekkehard. Joseph Victor von Scheffel

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Ekkehard - Joseph Victor von Scheffel


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      Frau Hadwig war gerührt. Sind alle Eure Schüler so gut erzogen? frug sie.

      So Ihr Euch überzeugen wollt, sprach der Abt, die großen in der äußeren Schule wissen nicht minder, was Zucht und Gehorsam ist.

      Die Herzogin nickte. Da führte sie der Abt zur äußeren Klosterschule, wo zumeist vornehmer Laien Söhne und diejenigen erzogen wurden, die sich weltgeistlichem Stand widmen wollten. Sie traten in die Klasse der Ältesten ein. Auf der Lehrkanzel stand Ratpert, der Vielgelehrte, und unterwies seine Jugend im Verständnis von Aristoteles' Logica. Geduckt saßen die Schüler über ihren Pergamenten, kaum wandten sich die Häupter nach den Eingetretenen. Der Lehrmeister gedachte Ehre einzulegen. Notker Labeo! rief er. Der war die Perle seiner Schüler, die Hoffnung der Wissenschaft; auf schmächtigem Körper ein mächtiges Haupt, dran eine gewaltige Unterlippe kritisch in die Welt hervorragte, das Wahrzeichen strenger Ausdauer auf den steinigen Pfaden des Forschens und Ursache seines Übernamens.

      Der Aufgerufene ließ seine klugen Äuglein über den griechischen Text hingleiten und übersetzte mit gewichtigem Ernst den stagiritischen Tiefsinn:

      Aber wie dieser Begriff des Zusammenhängenden glücklich herausgeklaubt war, streckten etlich der jungen Logiker die Köpfe zusammen und flüsterten und flüsterten lauter, – selbst der Klosterschüler Hepidan, der unbeirrt von Notkers trefflicher Verdeutschung seine ganze Mühe aufwandte, einen Teufel mit doppeltem Flügelpaar und Ringelschwanz in die Bank einzuschneiden, stellte seine Arbeit ein... itzt wandte der Lehrmeister sich an den Folgenden: Wie wird aber die Oberfläche eine gemeine March? Da las der seinen griechischen Text, aber die Bewegung in den Schulbänken ward stärker, es summte und brummte wie ferne Sturmglocken, zur Übersetzung kam's nicht mehr, plötzlich stürmten die Zöglinge Ratperts lärmend vor, sie stürmten auf die Herzogin ein, rissen sie von des Abts und des Kämmerers Seite: gefangen! gefangen! schrie die holde Jugend und begann sich mit den Schulbänken zu verschanzen: gefangen! wir haben die Herzogin in Schwaben gefangen! Was soll ihr Lösegeld sein?

      Frau Hadwig hatte sich schon in mancherlei Lebenslagen befunden. Daß sie als Gefangene unter Schulknaben fallen könne, war ihr noch nie in den Sinn gekommen. Weil die Sache neu war, hatte sie Reiz für sie; sie fügte sich.

      Ratpert, der Lehrmeister, holte aus seinem Holzverschlag eine mächtige Rute hervor, schwang sie dräuend zur Umkehr und rief, ein zweiter Neptunus, die virgilischen Verse ins Getümmel:

»So weit hat das Vertrauen auf euer Geschlecht euch verleitet? Himmel und Erde sogar, ohn' alles Geheiß von mir selber, Wagt ihr zu mischen, ihr Winde, und solchen Tumult zu erheben?! Quos ego!!«

      Erneuter Halloruf war die Antwort. Schon war der Saal durch Schulbänke und Schemel abgesperrt. Herr Spazzo überlegte den Gedanken eines Sturms und kräftiger Faustschläge an die Haupträdelsführer. Der Abt war sprachlos, die Keckheit war ihm lähmend in die Glieder gefahren.

      1 .. grave pondus auri Veronensis, Geschenk des Bischofs Petrus. Die Klostergeschichte ist reich an Aufzeichnungen der durch Fürsorge der Äbte oder die Huld fremder Gönner erworbenen Kostbarkeiten. Siehe Ekkeh. IV. casus S. Galli cap. 1. Pertz, Monum. II. 81.

      2 magnum calicem ex electri miro opere. Casuum S. Galli contin. II. c. 7. bei Pertz II. 157. An den Heilkräften des Bernsteins wurde nicht gezweifelt. Quod vero medeatur multis vitalium incommodis, medentium docuit disciplina. Sanktgall. Handschrift des X. Jahrhunderts bei Hattemer, Denkmale usw. I. 414.

      3 Spicharium novum solis feris et beluis, avibusque domesticis et domesticatis juxta fratrum condi fecit et ipsum jam fieri jussit magnificum. Ekkeh. IV. casus S. Galli cap. 16.

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      5 Diese Fabel von der Murmeltiere abenteuerlichem Fuhrwesen, die sich das Mittelalter mit großer Behaglichkeit erzählte und die z. B. noch Sebastian Münster in seine Cosmographey aufnahm (p. 498), hat ihren Ursprung in Plinius historia naturalis.

      6 .. Ein vogil heizit Caradrius, in dem buoche deuteronomio, da ist gescriben, daz man in ezzen nescule. Dannan zellet phisiologus unt chût daz er aller wiz si. Ein mist, der von ime vert, der ist ze den tunchelen ougen vile gûet. Mit disme vogile mach man bechennen, ob der sieche mann irsterben oder gnesen scol. Ob er sterben scol, so cheret sich der caradrius von ime. Ob er ave gnesen scol, so cheret sich der vogel zuo deme manne unt tuot sinen snabel uber des mannes munt unt nimit des mannes unchraft an sich; sa fert er ûf zuo der sunnen unte liuterit sich dâ: so ist der mann genesen. Physiologus, ein Weistum von Tieren und von Vögeln, mitgeteilt von Wackernagel, Altdeutsches Lesebuch I. p. 166. Es ist nicht bekannt, was für naturgeschichtliche Tatsachen zu dieser tiefsinnig schönen Sage von Caradrius Veranlassung gaben. In Sankt Gallen wurde sie von verschiedenen verschieden erfaßt, denn während sich unter den Tiernamen, die dem Wörterbuch des heiligen Gallus vorausgesetzt sind (siehe Hattemer, Denkmale usw. I. 9. 10), die bedeutsame Glosse findet: Cha-ra-drion: et ipsam non habemus, sed tamen dicitur et ipsam volare per medias noctes in sublimitate coeli, begnügten sich spätere Handschriften damit, das Wort caradrius geradezu mit lericha, Lerche, zu übersetzen, was auf ein Verschwinden der früher bekannten Sage zu deuten scheint. Siehe Hattemer, Denkmal usw. I. 287. 318 u. a.

      7 .. longum est dicere, quibus jocunditatibus dies exegerit et noctes, maxime in processione infantum, quibus poma in medio ecclesiae pavimento antesterni jubens. cum nec unum parvissimorum movere nec ad ea adtendere vidisset, miratus est disciplinam. Ekkeh. IV. casus S. Galli c. 1. Pertz, Mon. II. 84.

      8 Homo animal capax disciplinae Hroswitha v. Gandersheim.

      9 Notker Labeo hat den Erwartungen, die der Abt auf ihn setzte, entsprochen. Er erwarb sich den Ruhm des gelehrtesten Mannes seiner Zeit. Er war, wie aus seinen Schriften erhellet, ein Gottesgelehrter, ein Musikant, ein Dichter, ein Astronom, ein Mathematiker; in der Bibel, in den Kirchenschriftstellern, Vätern und Klassikern wohl bewandert, der deutschen, lateinischen und griechischen Sprache mächtig. I. v. Arx, Geschichte von St. Gallen I. 277. Seine noch vorhandenen deutschen Werke bilden den zweiten und dritten Band von Hattemers Denkmalen des Mittelalters. Es sind insbesondere die Auslegungen der Psalmen, des Aristoteles, des Boethius, des Marcianus Capella, ein Aufsatz über Tonkunst. Notker, der Großlefzige, starb in großem Greisenalter an der Pest. Vor seinem Tode legte er eine öffentliche Beichte ab, in der er u. a. seine Reue darüber aussprach, daß er einst in klösterlichem Habit einen Wolf erschlagen.

      10 Die Stelle ist aus Aristoteles' Kategorien cap. 36. Notkers Übersetzung siehe bei Hattemer III. 401.

      Die hohe Gefangene stand am unteren Ende des Hörsaals in einer Fensternische, umringt von ihren fünfzehnjährigen Entführern.

      Was soll das alles, ihr schlimmen Knaben? frug sie lächelnd.


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