Heidi. Johanna Spyri

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Heidi - Johanna Spyri


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ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von allen Seiten hernieder, und mitten darauf stand die leuchtende Sonne und schimmerte auf die grüne Alm, und alle die blauen und gelben Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude, denn da waren ganze Trüppchen feiner, roter Himmelsschlüsselchen beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblätterigen, goldenen Zistusröschen in der Sonne. Vor Entzücken über all die flimmernden, winkenden Blümchen vergaß Heidi sogar die Geißen und auch den Peter.

      »Komm nach!“ rief der Peter. „Du darfst nicht über die Felsen hinunterfallen, der Öhi hat’s verboten.“

      Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich haltmachte mit seinen Geißen und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fuße des hohen Felsen. An der einen Seite der Alm zogen sich Felsenklüfte weit hinunter, und der Großvater hatte recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Höhe erreicht war, streckte sich der Peter lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er musste sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.

      Heidi setzte sich neben den ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit unten im vollen Morgenglanz. Dem Heidi war es so wohl zumute wie in seinem Leben noch nie.

      Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und Krächzen, und als es aufschaute, kreiste über ihm ein so großer Vogel, wie es nie einen gesehen hatte.

      „Peter, Peter, erwache!“ rief Heidi laut. „Sieh, der Raubvogel ist da, sieh, sieh!“

      Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach, der sich nun höher und höher hinaufschwang ins Himmelsblau und endlich über den grauen Felsen verschwand.

      „Wo ist er jetzt hin?“, fragte Heidi, das mit gespannter Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.

      „Heim ins Nest“, war Peters Antwort.

      „Ist er dort oben daheim? Warum schreit er so?“, fragte Heidi weiter.

      „Weil er muss“, erklärte Peter.

      Gegen Mittag holte Peter den Sack herbei. Dann nahm er das Schüsselchen und melkte schöne, frische Milch hinein vom Schwänli. Dann rief er Heidi herbei.

      Heidi fing bei seiner Milch an, und als es sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein zweites herbei. Da brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und reichte es dem Buben hinüber mit dem ganzen großen Brocken Käse und sagte: „Das kannst du haben, ich habe genug.“

      Peter schaute das Heidi sprachlos an. Er zögerte noch ein wenig, dann sah er, dass es ernst gemeint war; er erfasste sein Geschenk, nickte dankbar und hielt nun ein so reichliches Mittagsmahl wie noch nie in seinem Leben als Geißbub. Heidi schaute derweilen nach den Geißen aus. „Wie heißen sie alle, Peter?“, fragte es.

      Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in seinem Kopf behalten, da er daneben wenig drin aufzubewahren hatte. Er fing also an und nannte ohne Anstoß eine nach der anderen. Heidi hörte aufmerksam zu, und es währte gar nicht lange, so konnte es sie alle voneinander unterscheiden und jede bei ihrem Namen nennen.

      Peter hatte sein Mittagsmahl beendet und kam auch wieder zu seiner Herde und zu Heidi heran, das erneut allerlei Betrachtungen angestellt hatte. Weitaus die zwei schönsten und saubersten Geißen der ganzen Schar waren Schwänli und Bärli.

      Auf einmal sprang Peter auf und setzte in großen Sprüngen den Geißen nach, und das Heidi lief hinterdrein; da musste etwas geschehen sein, es konnte nicht Zurückbleiben. Der Peter lief mitten durch das Geißenrudel der Seite der Alm zu, wo die Felsen schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geißlein, wenn es dorthin ging, leicht hinunterstürzen und die Beine brechen konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang das Geißlein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es schon packen, da stürzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der Distelfink meckerte voller Zorn und Überraschung, dass er so am Bein festgehalten und am Fortsetzen seines fröhlichen Streifzuges gehindert war, und strebte eigensinnig vorwärts. Der Peter schrie nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er konnte nicht auf stehen und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt sie dem Distelfink unter die Nase und sagte begütigend: »Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernünftig sein! Sieh, da kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar weh.“

      Das Geißlein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf seine Füße gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst, an der sein Glöcklein um den Hals gebunden war. Heidi erfasste diese von der anderen Seite, und so führten die beiden den Ausreißer zu der friedlich weidenden Herde zurück.

      So war unbemerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen.

      Heidi saß wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und die Zistusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und alles Gras wurde wie golden angehaucht, und die Felsen droben fingen an zu schimmern und zu funkeln. Auf einmal sprang Heidi auf und schrie: „Peter! Peter! es brennt! es brennt! es brennt! alle Berge brennen, und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh, sieh, der hohe Felsenberg ist ganz glühend! Oh, der schöne, feurige Schnee! Peter, steh auf! Sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel! Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist in Feuer!“

      „Es war immer so“, sagte der Peter gemütlich und schälte an seiner Rute fort, „aber es ist kein Feuer.“

      „Was ist es, Peter, was ist es?“, rief Heidi wieder.

      „Es kommt von selbst so“, erklärte Peter.

      Oh, sieh, sieh“, rief Heidi in großer Aufregung, „auf einmal werden sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen, spitzen Felsen! Wie heißen sie, Peter?“

      „Berge heißen nicht“, erwiderte dieser.

      „Oh, wie schön, sieh den rosaroten Schnee! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh! Nun ist alles ausgelöscht! Nun ist alles aus, Peter!“ Und Heidi setzte sich auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge wirklich alles zu Ende.

      „Es ist morgen wieder so“, erklärte Peter. „Steh auf, nun müssen wir heim.“

      Die Geißen wurden herbeigepfiffen und -gerufen und der Heimweg angetreten.

      „Ist’s alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide sind?“, fragte Heidi, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.

      „Meistens“, gab dieser zur Antwort.

      „Aber gewiss morgen wieder?“, wollte es noch wissen.

      „Ja, ja, morgen schon!“ versicherte Peter.

      Nun war Heidi wieder froh, und es hatte so viele Eindrücke in sich aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es schwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den Großvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank angebracht hatte.

      „O Großvater, das war so schön!“ rief Heidi. „Aber, Großvater, warum hat der Raubvogel so gekrächzt?“

      „Jetzt gehst du ins Wasser, und ich gehe in den Stall und hole Milch, und nachher kommen wir zusammen hinein in die Hütte und essen zur Nacht, dann sag’ ich dir’s.“

      Als Heidi später auf seinem hohen Stuhl saß vor seinem Milchschüsselchen und der Großvater neben ihm, da kam das Kind gleich wieder mit seiner Frage: „Warum krächzt der Raubvogel so, Großvater?“

      „Der verhöhnt die Leute dort unten, dass sie so zusammensitzen in den Dörfern und einander bös machen.


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