Götterglaube. Kristina Licht
Читать онлайн книгу.meinem Zimmer ging ich auf und ab, band meine langen Haare zu einem Zopf zusammen und biss auf meinen Fingernägeln herum – sie nahmen noch schlechtere Ausmaße an als zu dem Zeitpunkt, an dem Milan mich im Wald aufgegabelt hatte. Seiner Theorie zufolge war ich also weit davon entfernt, mein Leben wieder auf die Kette zu kriegen. Wieso mussten Milans irrsinnige Theorien auch stimmen? Wütend blickte ich auf meine abgeknabberten Nägel. Ich sollte mir nachher dringend eine Maniküre gönnen. Was ich nicht sollte, war, mich mit Fragen zu quälen, auf die ich ohnehin keine Antwort bekam. Wo Falk wohl in diesem Moment war? Ob er mich suchte?
Es gab nur eine Möglichkeit, wie ich meiner Verzweiflung Luft machen konnte.
Ich zog meine Sportsachen an und lief die Treppe hinunter ins Kellergeschoss. Es hatte wohl seine Vorteile, so reich wie Milan zu sein. Er hatte – neben einem riesigen Pool im riesigen Garten – auch einen eigenen Fitnessraum, den er mir gestern gezeigt hatte. Da ich es gewohnt war, beim Kampfsport meinen Frust herauszulassen, hatte ich den Boxsack direkt ins Herz geschlossen.
Nun trat und schlug ich auf ihn ein, bis ich am ganzen Körper schwitzte. Die Kraft meiner Schläge ließ meine Muskeln vor Anstrengung brennen, doch anstatt einen Gang runterzuschalten, steigerte ich mein Tempo. Links, rechts, links, zweimal rechts, ducken, treten. Die mechanischen, schnell aufeinanderfolgenden Bewegungen ließen mich für ein paar Minuten vergessen, bis der Durst mich zum Aufhören zwang. Warum hatte ich mir bloß keine Wasserflasche mit hinuntergenommen?
Ich zog die Boxhandschuhe aus und fuhr mir mit den Händen über das erhitzte Gesicht. Ich brauchte Wasser. Und eine kalte Dusche. Danach würde die Welt zumindest für ein paar Stunden wieder in Ordnung sein.
Ich befand mich gerade auf der Treppe zurück ins Erdgeschoss, als ich Milans Stimme von oben hörte.
»Ja, sie ist bei mir.«
Schlagartig blieb ich stehen und presste mich mit dem Rücken ans Geländer. Oh bitte, lass ihn nicht das mit dem Satz gemeint haben, was ich befürchte. Bitte lass ihn über Paige reden. Oder ein neues Haustier, das er sich angeschafft hat.
»Sie will dich nicht sehen, Ewan.«
Oh, fuck! Also ging es doch um mich. Beim Klang seines Namens sprang mir das Herz fast aus der Brust. Warum war auf keinen Mann der Welt mehr Verlass? Warum konnte Milan nicht einfach seinen beschissenen Mund halten? Waren alle Verdammten etwa auch gleichzeitig Verräter? Ich war so wütend auf ihn, dass ich mich zusammenreißen musste, um nicht hochzustürmen, ihm das Telefon aus der Hand zu reißen und es gegen die Wand zu donnern.
»Sie ist bei mir in Sicherheit, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
Sorgen und Ewan? Ja, klar.
»Wo bist du?«
Das wüsste ich auch gerne. Danach wurde Milans Stimme jedoch leiser, weil er sich in einen anderen Raum bewegte. Vorsichtig ging ich die restlichen Stufen hinauf, sah mich im Eingangsbereich um und rannte dann in den ersten Stock. Mein Durst war vergessen. Ich hatte genug gehört, um von hier abhauen zu müssen. Ewan wusste, wo ich war, und das hieß, er würde hierherkommen. Vermutlich mit Falk im Schlepptau.
In Rekordgeschwindigkeit packte ich meine Sachen zusammen und schlich mich aus dem Zimmer. Die Treppe lief ich auf Zehenspitzen hinunter, trotzdem knarzte eine Stufe und ich hielt augenblicklich die Luft an. Ich wollte gar nicht daran denken, dass Milan mich erwischen könnte. Als ich nichts hörte, setzte ich mich wieder in Bewegung. Ich schlüpfte durch die Haustür und zog sie so behutsam ich konnte hinter mir zu. Die Kälte schlüpfte unter meinen Pullover, streifte meine warmen Wangen. In der Einfahrt angekommen, blickte ich mich alle zwei Sekunden nach hinten um, aus Angst, Milan würde jeden Moment hinter mir auftauchen. Stattdessen kam die Gefahr von der anderen Seite.
Ich wandte den Kopf gerade wieder in Laufrichtung, als ich beinahe mit Paige zusammenstieß. Sie war aus einem kleinen roten PKW gestiegen und sah mich verwirrt an.
»Was machst du hier?«, fragte sie. »Warum schwitzt du so?«
»Ich muss weg, bitte halte mich nicht auf.«
Überrascht weitete sie die Augen. Ob darüber, dass ich abhauen wollte, oder über die Tatsache, dass ich zum ersten Mal ‚Bitte’ gesagt hatte, war fraglich.
»Wohin willst du? Du kannst doch nicht einfach abhauen!«
»So weit weg, wie es nur geht.« Erneut drehte ich mich nach hinten um, doch die Haustür blieb geschlossen.
»Warum?« Sie schien völlig überrumpelt von meiner Entscheidung.
Ich brauchte nur ein Wort zu sagen. »Ewan.«
Sie biss sich auf die Lippe. »Er kommt her?«, flüsterte sie und sah sich zu allen Seiten um, als befürchte sie, er lauere hier bereits irgendwo. Was ich nicht einmal ausschließen würde.
Ich nickte schnell, wollte gerade an ihr vorbeieilen und hoffen, dass sie mich gehen ließ, als sie mich am Arm festhielt. »Paige, bitte …«
Doch sie ließ mich nicht ausreden, sondern zog mich zu dem roten Wagen. »Steig ein. Ich fahr dich.«
Verwundert blieb ich vor der Beifahrertür stehen, während Paige bereits ums Auto herumeilte. War das ihr Ernst?
»Muss ich dir das zweimal sagen?«, fragte sie, als sie sich mit wehender roter Mähne hinters Steuer setzte.
Ich blinzelte, fasste mich wieder und öffnete die Wagentür. Dass diese junge Frau mir irgendwann tatsächlich noch eine Hilfe sein würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Ehe ich eine Antwort gefunden hatte, rasten wir bereits Richtung Autobahn.
»Milan wird nicht erfreut sein«, gab ich irgendwann von mir, als die Stille selbst mir zu drückend wurde. Paige erwartete offensichtlich ein Dankeschön oder eine Entschuldigung, vielleicht auch nur ein nettes Mädelsgespräch, doch ich konnte mit nichts davon dienen.
»Sisters before Misters«, antwortete Paige, ohne von der Straße zu sehen, und schob sich mit dem Zeigefinger die Brille zurecht.
Ich schüttelte den Kopf über sie und sank etwas entspannter in die Polster. Besser hätte meine Flucht gar nicht laufen können. Sie war spontan und übereilt, doch einfach dazusitzen und auf Ewan und Falk zu warten, war keine Option gewesen.
»Also sind wir wieder Freunde?«, fragte Paige, als ich immer noch nichts sagte.
»Paige, ich habe dir doch gesagt, dass –«
»Dass du keine Freundin suchst, ja. Aber weißt du was?«, fuhr sie mir dazwischen. »Freundschaft sucht man nicht. Sie findet dich. Ist genauso wie mit der Liebe. Nur besser.«
Ihre Antwort ließ mich schmunzeln. Und während wir die Stadt immer weiter hinter uns ließen, löste sich die Anspannung in meinem Inneren. Je fremder für mich die Ortsnamen an den Autobahnausfahrten klangen, desto leichter fiel mir das Atmen.
»Läuft es denn gut bei dir mit der Liebe?«, fragte ich irgendwann. Ich wollte ihr zumindest ein bisschen entgegenkommen und mit ihr über das reden, über was Frauen auch sonst redeten. Da ich Paige beobachtete, bemerkte ich ihr irritiertes Blinzeln.
»Nein. Wie kommst du darauf?«
»Du hast das Thema gerade angeschnitten.« Und mir fiel nichts anderes ein, worüber Frauen sich sonst noch unterhielten. »Außerdem fliehen wir jetzt wegen einem Kerl – es wäre schön, wenn zumindest eine von uns Glück mit Männern hätte.«
Sie lächelte. »Und warum genau fliehen wir vor Ewan?«
»Du meinst außer, dass er mich vor knapp zwei Wochen noch umbringen wollte?«
Sie errötete und rümpfte die Nase. »Genau. Außer deswegen.«
Ich seufzte. »Weil er mich schwach macht.« Es einzugestehen, war erniedrigend, doch Paige hatte es vermutlich ohnehin schon geahnt. Die Gefühle, die er in mir auslöste, gingen mittlerweile weit über das übliche Maß an Anziehung und gefährlicher Aufregung hinaus.
Sie kicherte wie ein Teenager, machte »Uhh« und ich verdrehte die Augen.