LTI. Victor Klemperer
Читать онлайн книгу.der germanischen [17]Auserwähltheit: alles Heroische war einzig der germanischen Rasse zugehörig. Und eigentlich nein; denn alle Verzerrungen und Veräußerlichungen haben dieser tönenden Wortsippe schon oft genug vor dem Dritten Reich angehaftet. So mag sie hier im Randgebiet des Vorworts erwähnt sein.
Eine Wendung freilich muß als spezifisch nazistisch gebucht werden. Schon um des Trostes willen, der von ihr ausging. Im Dezember 1941 kam Paul K. einmal strahlend von der Arbeit. Er hatte unterwegs den Heeresbericht gelesen. »Es geht ihnen miserabel in Afrika«, sagte er. Ob sie das wirklich zugäben, fragte ich – sie berichteten doch sonst immer nur von Siegen.
»Sie schreiben: ›Unsere heldenhaft kämpfenden Truppen.‹ Heldenhaft klingt wie Nachruf, verlassen Sie sich darauf.«
Seitdem hat heldenhaft in den Bulletins noch viele, viele Male wie Nachruf geklungen und niemals getäuscht.
[19]I LTI
Es gab den BDM und die HJ und die DAF und ungezählte andere solcher abkürzenden Bezeichnungen.
Als parodierende Spielerei zuerst, gleich darauf als ein flüchtiger Notbehelf des Erinnerns, als eine Art Knoten im Taschentuch, und sehr bald und nun für all die Elendsjahre als eine Notwehr, als ein an mich selber gerichteter SOS-Ruf steht das Zeichen LTI in meinem Tagebuch. Ein schön gelehrtes Signum, wie ja das Dritte Reich von Zeit zu Zeit den volltönenden Fremdausdruck liebte: Garant klingt bedeutsamer als Bürge und diffamieren imposanter als schlechtmachen. (Vielleicht versteht es auch nicht jeder, und auf den wirkt es dann erst recht.)
LTI: Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reichs. Ich habe so oft an eine Alt-Berliner Anekdote gedacht, wahrscheinlich stand sie in meinem schönillustrierten Glaßbrenner, dem Humoristen der Märzrevolution – aber wo ist meine Bibliothek geblieben, in der ich nachsehen könnte? Ob es Zweck hätte, sich bei der Gestapo nach ihrem Verbleib zu erkundigen? … »Vater«, fragt also ein Junge im Zirkus, »was macht denn der Mann auf dem Seil mit der Stange?« – »Dummer Junge, das ist eine Balancierstange, an der hält er sich fest.« – »Au, Vater, wenn er sie aber fallen läßt?« – »Dummer Junge, er hält ihr ja fest!«
Mein Tagebuch war in diesen Jahren immer wieder meine Balancierstange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre. In den Stunden des Ekels und der Hoffnungslosigkeit, in der endlosen Öde mechanischster Fabrikarbeit, an Kranken- und Sterbebetten, an Gräbern, in eigener Bedrängnis, in Momenten äußerster Schmach, bei physisch versagendem Herzen – immer half mir diese Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht – morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest, wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt. Und sehr bald verdichtete sich dann dieser Anruf, mich über die [20]Situation zu stellen und die innere Freiheit zu bewahren, zu der immer wirksamen Geheimformel: LTI, LTI!
Selbst wenn ich, was nicht der Fall ist, die Absicht hätte, das ganze Tagebuch dieser Zeit mit all seinen Alltagserlebnissen zu veröffentlichen, würde ich ihm dieses Signum zum Titel geben.
Man könnte das metaphorisch nehmen. Denn ebenso wie es üblich ist, vom Gesicht einer Zeit, eines Landes zu reden, genau so wird der Ausdruck einer Epoche als ihre Sprache bezeichnet. Das Dritte Reich spricht mit einer schrecklichen Einheitlichkeit aus all seinen Lebensäußerungen und Hinterlassenschaften: aus der maßlosen Prahlerei seiner Prunkbauten und aus ihren Trümmern, aus dem Typ der Soldaten, der SA- und SS-Männer, die es als Idealgestalten auf immer andern und immer gleichen Plakaten fixierte, aus seinen Autobahnen und Massengräbern. Das alles ist Sprache des Dritten Reichs, und von alledem ist natürlich auch in diesen Blättern die Rede. Aber wenn man einen Beruf durch Jahrzehnte ausgeübt und sehr gern ausgeübt hat, dann ist man schließlich stärker durch ihn geprägt als durch alles andere, und so war es denn buchstäblich und im unübertragen philologischen Sinn die Sprache des Dritten Reichs, woran ich mich aufs engste klammerte, und was meine Balancierstange ausmachte über die Öde der zehn Fabrikstunden, die Greuel der Haussuchungen, Verhaftungen, Mißhandlungen usw. usw. hinweg.
Man zitiert immer wieder Talleyrands Satz, die Sprache sei dazu da, die Gedanken des Diplomaten (oder eines schlauen und fragwürdigen Menschen überhaupt) zu verbergen. Aber genau das Gegenteil hiervon ist richtig. Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag. Das ist wohl auch der Sinn der Sentenz: le style c’est l’homme; die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein – im Stil seiner Sprache liegt sein Wesen hüllenlos offen.
Es ist mir merkwürdig ergangen mit dieser eigentlichen (philologisch eigentlichen) Sprache des Dritten Reichs.
Ganz im Anfang, solange ich noch keine oder doch nur sehr [21]gelinde Verfolgung erfuhr, wollte ich so wenig als möglich von ihr hören. Ich hatte übergenug an der Sprache der Schaufenster, der Plakate, der braunen Uniformen, der Fahnen, der zum Hitlergruß gereckten Arme, der zurechtgestutzten Hitlerbärtchen. Ich flüchtete, ich vergrub mich in meinen Beruf, ich hielt meine Vorlesungen und übersah krampfhaft das Immer-leerer-Werden der Bänke vor mir, ich arbeitete mit aller Anspannung an meinem Achtzehnten Jahrhundert der französischen Literatur. Warum mir durch das Lesen nazistischer Schriften das Leben noch weiter vergällen, als es mir ohnehin durch die allgemeine Situation vergällt war? Kam mir durch Zufall oder Irrtum ein nazistisches Buch in die Hände, so warf ich es nach dem ersten Abschnitt beiseite. Grölte irgendwo auf der Straße die Stimme des Führers oder seines Propagandaministers, so machte ich einen weiten Bogen um den Lautsprecher, und bei der Zeitungslektüre war ich ängstlich bemüht, die nackten Tatsachen – sie waren in ihrer Nacktheit schon trostlos genug – aus der ekelhaften Brühe der Reden, Kommentare und Artikel herauszufischen. Als dann die Beamtenschaft gereinigt wurde und ich mein Katheder verlor, suchte ich mich erst recht von der Gegenwart abzuschließen. Die so unmodernen und längst von jedem, der etwas auf sich hielt, geschmähten Aufklärer, die Voltaire, Montesquieu und Diderot, waren immer meine Lieblinge gewesen. Nun konnte ich meine gesamte Zeit und Arbeitskraft an mein weit fortgeschrittenes Opus wenden; was das achtzehnte Jahrhundert anlangt, saß ich ja im Dresdener Japanischen Palais wie die Made im Speck; keine deutsche, kaum die Pariser Nationalbibliothek selber hätte mich besser versorgen können.
Aber dann traf mich das Verbot der Bibliotheksbenutzung, und damit war mir die Lebensarbeit aus der Hand geschlagen. Und dann kam die Austreibung aus meinem Hause, und dann kam alles Übrige, jeden Tag ein weiteres Übriges. Jetzt wurde die Balancierstange mein notwendigstes Gerät, die Sprache der Zeit mein vorzüglichstes Interesse.
Ich beobachtete immer genauer, wie die Arbeiter in der Fabrik redeten, und wie die Gestapobestien sprachen, und wie man sich bei uns im Zoologischen Garten der Judenkäfige ausdrückte. [22]Es waren keine großen Unterschiede zu merken; nein, eigentlich überhaupt keine. Fraglos waren alle, Anhänger und Gegner, Nutznießer und Opfer, von denselben Vorbildern geleitet.
Ich suchte dieser Vorbilder habhaft zu werden, und das war in gewisser Hinsicht über alle Maßen einfach, denn alles, was in Deutschland gedruckt und geredet wurde, war ja durchaus parteiamtlich genormt; was irgendwie von der einen zugelassenen Form abwich, drang nicht an die Öffentlichkeit; Buch und Zeitung und Behördenzuschrift und Formulare einer Dienststelle – alles schwamm in derselben braunen Sauce, und aus dieser absoluten Einheitlichkeit der Schriftsprache erklärte sich denn auch die Gleichheit aller Redeform.
Aber wenn das Heranziehen der Vorbilder für tausend andere ein Kinderspiel bedeutet hätte, so war es doch für