Chefarzt Dr. Norden 1171 – Arztroman. Jenny Pergelt
Читать онлайн книгу.»Aha«, sagte Berger nur dazu. »Und Sie, Herr Ganschow, teilen Sie die Meinung Ihres Kollegen?«
»Äh … Nun …« Martin brach ab und studierte noch einmal mit zusammengekniffenen Augen die Stelle auf der Aufnahme, die ihn vorhin schon beunruhigt hatte. Sollte er seinen Verdacht aussprechen? Womöglich lag er damit ja falsch und blamierte sich nur? Aber andererseits könnte es für die Patientin schlimme Folgen haben, sollte doch etwas dran sein und er hatte es aus Feigheit ignoriert. Er nahm einen Stift und umkreiste einen kleinen Bereich des Gehirns, der nur einen winzigen Hauch heller war als seine Umgebung und auf den ersten Blick kaum auffiel.
»Es wäre möglich, dass es hier eine subdurale Blutung gibt«, sagte er schließlich zaghaft.
»Ich sehe nichts«, entfuhr es Jakob.
»Ruhe, Herr Janssen«, schnauzte Berger sofort. »Sie hatten Ihre Chance. Nun ist Herr Ganschow dran.«
Martin räusperte sich, um seiner Stimme mehr Kraft zu geben. »Es ist wirklich kaum zu sehen und könnte ganz harmlos sein und nichts bedeuten. Aber zusammen mit dem klinischen Befund schließe ich auf eine frische subdurale Blutung. Das frische Blut hat die gleiche Dichte wie das Hirngewebe und lässt sich beim CT schwer darstellen.« Er warf Jakob einen bedauernden Blick zu, als er sagte: »Deshalb kann es sehr leicht übersehen werden.«
Daniel lächelte und nickte Martin anerkennend zu. Noch wusste Martin nicht, ob er dies einer richtigen Diagnose zu verdanken hatte oder nur dem Mut, einen so gewagten Verdacht zu äußern. Noch ehe er darauf eine Antwort finden konnte, klopfte ihm Nils Heinrich mit seiner Bärenpranke so kräftig auf den Rücken, dass Martin leise aufächzte.
»Prima!«, dröhnte Heinrichs tiefer Bass durch den Raum. »Ich kann dem nichts hinzufügen. Eine subdurale Blutung lautet auch mein Befund.«
»Gut gemacht, Herr Ganschow!« In Bergers wenigen Worten schwang unverkennbar Stolz und Anerkennung hervor. »Wenn Sie so weitermachen, wird aus Ihnen mal ein ganz brauchbarer Notfallmediziner.«
»Oder Radiologe«, gluckste Nils Heinrich. »Bei Ihren scharfen Augen könnte ich Sie auch gut in meiner Abteilung brauchen und …« Er verstummte sofort, als er den wütenden Blick Bergers auffing.
»Was soll das hier werden? Werben Sie mir etwa meine Mitarbeiter ab?«
Nils Heinrich zog sofort den Kopf ein und entschied, dass es besser wäre, den Mund zu halten. Obwohl er dem Leiter der Notaufnahme um eine Kopflänge und mehr als sechzig Pfund voraus war, fühlte er sich ihm unterlegen – zumindest verbal. Gegen Bergers Bärbeißigkeit hatte der gutmütige Nils Heinrich keine Chance. Hier konnte er nur verlieren.
»Es wird Zeit, dass wir uns um unsere Patientin kümmern«, sagte Daniel, bevor ein ernsthafter Streit entstehen konnte. »Herr Berger, informieren Sie bitte den OP darüber, dass wir Frau Weber in zehn Minuten hochbringen werden. Frau Rohde soll mir bei dem Eingriff assistieren. Ich spreche inzwischen mit Frau Weber und erkläre ihr alles.«
Gerade ein Eingriff am Gehirn rief bei den meisten Menschen große Ängste hervor. Ein ausführliches und einfühlsames Gespräch, in dem alles verständlich erklärt wurde, konnte da manchmal wahre Wunder bewirken und den Patienten viele Sorgen nehmen. Wenn auch nicht alle.
»Eine Blutung im Gehirn?«, wisperte Anita entsetzt.
Daniel ergriff ihre Hand, als er sah, wie sehr Anita das eben Gehörte mitnahm. »Die Blutung ist in Ihrem Schädel, aber zum Glück nicht innerhalb des Gehirns, sondern zwischen zwei Hirnhäuten, die das Gehirn außen umschließen und es so schützen. Dort hat sich bei Ihnen ein Hämatom, also ein Bluterguss, gebildet. Die Blutung war nur geringfügig und ist inzwischen völlig zum Erliegen gekommen. Probleme bereitet jetzt nur noch das Hämatom, das auf Ihr Hirn drückt und so für Sie lebensgefährlich werden könnte. Mit einem kleinen Eingriff, den wir in örtlicher Betäubung durchführen, kann Ihnen schnell geholfen werden. Dabei entfernen wir das Hämatom, und Ihre Beschwerden werden rasch verschwinden.«
Daniel merkte, wie Anita zunehmend ruhiger wurde, je länger er mit ihr redete. Und als es schließlich Zeit wurde, in den OP aufzubrechen, gelang Anita sogar ein kleines Lächeln, das ihre Zuversicht ausdrückte.
Daniel war mit sich zufrieden, besonders nachdem er die Operation erfolgreich beendet hatte. »Sie wird sich bald erholen«, sagte er hinterher zu Christina Rohde, die an der Behnisch-Klinik als Chirurgin arbeitete.
»Das denke ich auch. Das Hämatom war kleinflächig und hat keine nennenswerten Schäden anrichten können. Es war gut, dass es so früh erkannt wurde.«
»Ja, da hat unser junger Assistenzarzt ganze Arbeit geleistet. So mancher Arzt mit langjähriger Erfahrung hätte diese Blutung wahrscheinlich übersehen.«
Bevor Daniel an diesem Tag Feierabend machte, führte ihn sein letzter Gang auf die Intensivstation, wo sich Anita Weber von der Operation erholte. Er wollte noch einmal nach ihr sehen. Erst dann würde sich das gute Gefühl, alles in seiner Macht Stehende getan zu haben, bei ihm einstellen, und erst dann konnte er beruhigt nach Hause fahren.
Martin Ganschow schien es ähnlich zu ergehen. Daniel traf ihn am Bett von Anita an, der es sehr gut ging und die ihren Operateur lächelnd begrüßte.
»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Dr. Norden«, sagte sie. »Sie haben mir das Leben gerettet.«
Daniel lachte leise. »Daran waren sehr viele Menschen beteiligt.« Er zeigte auf den jungen Arzt an seiner Seite und fuhr augenzwinkernd fort: »Aber Dr. Ganschow war derjenige gewesen, der zur richtigen Zeit die richtige Diagnose gestellt hat. Also wenn Sie unbedingt jemandem danken müssen, dann bitte ihm.«
Daniel hatte das gesagt, um die besonders umsichtige und sorgfältige Arbeit Martins zu würdigen. Er wusste, dass das Wissen, einem kranken Menschen geholfen zu haben, der schönste Lohn war, den ein Arzt für seine Arbeit bekommen konnte.
In Anitas Fall hatte alles zusammengepasst: Die Diagnose war richtig gewesen, die Operation gut gelungen und die Patientin auf dem besten Weg, die Klinik als vollkommen geheilt verlassen zu können. Alles lief so, wie es sich ein Arzt von seinem Arbeitstag erhoffte.
Für Martin Ganschow traf das ganz sicher zu. Als er nach Hause fuhr, hatte er ein Lächeln im Gesicht und eine fröhliche Melodie in seinem Kopf, die er gar nicht mehr loswurde. Der heutige Tag war ein voller Erfolg gewesen und würde ewig in seiner Erinnerung bleiben. In solchen Momenten wusste Martin, warum er Arzt geworden war. Dieses Hochgefühl, das er seit Stunden spürte, war erfüllend und berauschend. Vergessen waren die Jahre mühsamen Lernens. Vergessen waren die vielen Prüfungen und Klausuren. Und vergessen waren die anstrengenden, schlaflosen Bereitschaftsdienste. Auch die Erinnerungen an die Patienten, bei denen die ärztliche Kunst versagt hatte, wogen nun nicht mehr so schwer. Heute hatte er einen großen Anteil daran gehabt, dass einer jungen Frau viel Leid oder gar der Tod erspart geblieben war. Das allein reichte, um ihn glücklich zu machen. Natürlich taten ihm auch das Lob von Erik Berger und die Anerkennung des Chefarztes unglaublich gut. Aber er betrachtete sie nur als zusätzliche Boni. Das, worauf es ihm wirklich ankam, waren immer seine Patienten.
Bestens gelaunt schloss Martin die Wohnungstür auf und ging sogleich in die Küche. Seine Freundin Nina, die als Zahnärztin arbeitete, würde nicht vor sieben nach Hause kommen. Dienstags hatte die Praxis, in der sie angestellt war, lange geöffnet. An diesen Tagen war Martin mit Kochen dran, und ausnahmsweise störte es ihn heute überhaupt nicht. Nichts konnte seiner guten Stimmung Abbruch tun. Er war einfach nur rundum zufrieden und überglücklich.
Das fiel auch Nina sofort auf, als sie nach Hause kam. Er hatte ihr Kommen nicht gehört und werkelte weiter am Herd, während sie in der Tür stehenblieb und ihm mit einem belustigten Lächeln zusah. Sie wünschte, sie könnte diesen Moment mit einer Kamera festhalten: Martin, der Mann, den sie liebte, tänzelte am Herd, sang vergnügt irgendeinen alten Gassenhauer und rührte dabei die Nudelsoße um.
»Was ist denn mit dir heute los?«, fragte sie ihn schmunzelnd, als er sich plötzlich zu ihr umdrehte. »Ich dachte, du kannst den Küchendienst nicht leiden.«
»Heute