Wer auf dich wartet. Gytha Lodge
Читать онлайн книгу.Morgen eigentlich gar nicht gebraucht hätte. Sie stand ganz kurz vor einem Durchbruch, das spürte sie bis ins Mark. Sie war schon vor sechs aufgewacht, und durch ihren Kopf schwirrten eine Reihe von Zahlungen auf verschiedene Konten, die mit Sicherheit etwas mit ihrem Fall zu tun hatten. Sie war in ihrem Element.
Seltsam, dass sie den finanziellen Aspekt des Falles beinahe gemieden hätte. Normalerweise wäre das eher ein Job nach Ben Lightmans Geschmack gewesen. Lightman war in ihrem Team der Penibelste und Akribischste und hatte das beste Gedächtnis. Aber er steckte mitten in etwas anderem, und sie hatte das Gefühl gehabt, einspringen zu müssen.
Sie war überrascht, dass Lightmans Schreibtisch noch unbesetzt war. In den vier Monaten, die sie jetzt zu dem Team gehörte, war es noch nie vorgekommen, dass er sich verspätet hatte, und man konnte sich nur schwer vorstellen, dass ihn unvorhersehbare Ereignisse von der Arbeit abhielten. Doch als sie gerade O’Malley nach Lightman fragen wollte, kam er durch die Tür des CID, unerschüttert wie eh und je.
»Lightman, alter Junge«, sagte O’Malley mit einem breiten Grinsen. »Was ist passiert? Hast du verschlafen?«
Lightman lächelte knapp und warf seine Wagenschlüssel auf den Schreibtisch. »Ich hatte noch etwas zu tun.«
»Aah«, erwiderte O’Malley mit einem wissenden Nicken. »Also eine Frau? Die dich den Schlaf gekostet und nicht aus dem Haus gelassen hat?«
Lightman schüttelte lachend den Kopf, sagte jedoch nichts, während er seinen Mantel auszog und sich auf seinem Stuhl niederließ.
Statt seine Tutorien vorzubereiten, ertappte Aidan sich dabei, die Polizei von Southampton zu googeln. Southampton, las er, gehörte zur Hampshire Constabulary, die eine eigene Website hatte. Er klickte sie an, obwohl unklar war, was er dort suchte. Er bezweifelte, dass sie Einzelheiten von Fällen oder Berichte über Einsätze zur Rettung verletzter Frauen veröffentlichten.
Natürlich gab es nichts dergleichen. Nur eine Reihe von Kästen mit großen Überschriften, die dem Besucher diverse Optionen anboten. Er entschied sich für Hilfe und Ratschläge. Aber dort gab es nichts Relevantes.
Zurück auf der Homepage fiel sein Blick auf ein Formular, mit dessen Hilfe sich Verbrechen online melden ließen. Wenn die Polizei von Southampton seinen Anruf nicht ernst genommen hatte, könnte er es vielleicht auf diesem Weg noch einmal versuchen.
Als Erstes wurde er nach der Postleitzahl des Tatorts gefragt, worauf er am liebsten die Stirn auf die Tischplatte geschlagen hätte. Es gab kein Kästchen, in das man schreiben konnte: »Ich weiß die Scheißpostleitzahl nicht!« Immerhin konnte er Southampton eingeben und weiter klicken.
Nachdem er Einzelheiten des Verbrechens geschildert hatte, wurde er nach seiner E-Mail-Adresse oder Telefonnummer gefragt. Er gab Zoes E-Mail-Adresse an, weil er das Gefühl hatte, dass er damit keinen Verrat mehr beging, und hoffte, die Polizei würden keine Zeit damit verschwenden, diese erst zu überprüfen, bevor sie etwas unternahm.
Aber als er das Formular abgeschickt hatte, empfand er keine Erleichterung. Er spürte gar nichts, während Zoe womöglich im Sterben lag. Oder vielleicht schon tot war.
Daran durfte er nicht denken, und das Leugnen machte es noch schlimmer. Immerhin hatte er etwas getan. Er hatte etwas getan und sie nicht einfach dort liegen gelassen.
Als Jonah am späten Nachmittag seinen Bericht über den Erpressungsfall geschrieben hatte, wanderten seine Gedanken zurück zu der Lagebesprechung am Vormittag. Ob Heerdens Team herausgefunden hatte, was hinter der Mordmeldung steckte?
Er fand den Fall in der Datenbank und las, dass ein Constable aus Heerdens Team versucht hatte, die Identität des mutmaßlichen Opfers zu ermitteln. Aber in ganz Großbritannien gab es keine Zoe Swardedeen, und eine Vermisstenmeldung lag auch nicht vor. Der Constable hatte vorgeschlagen, den Fall zu schließen.
Jonah seufzte unzufrieden und fragte sich, wieso der Constable es nicht mit anderen Schreibweisen des Namens versucht hatte. Warum beschäftigte ihn dieser Anruf bloß so?
Bitte helfen Sie ihr. Vielleicht lebt sie noch …
Er stellte sich den verzweifelten Klang der Stimme vor und entschied, sich die Originalaufnahme anzuhören. Sie war nur eine Minute lang. Die Stimme der Beamtin in der Zentrale dröhnte so laut, dass Jonah die Lautstärke hastig leiser drehte, um sie ebenso rasch wieder lauter zu stellen, als der Anrufer zu sprechen begann. Er flüsterte kaum hörbar.
Jonah spürte, wie er beim Zuhören eine Gänsehaut am Hals und an den Armen bekam. Er hatte schon öfter Anrufe dieser Art gehört, meistens als Beweismittel vor Gericht. Die ängstlich gesenkte, angespannte Stimme ließ ihn an Opfer häuslicher Gewalt denken, die sich vor ihrem Partner versteckten.
Die Stimme ging ihm unter die Haut, vor allem weil der Anrufer den Zwischenfall offenbar nur über eine Webcam verfolgt hatte.
»Wir waren zusammen online. Ich konnte nicht sehen, was passiert ist, aber ich habe es gehört. Jemand hat ihre Wohnung betreten …«
Als der Anrufer kurz darauf nach seinem Namen gefragt wurde, beendete er das Gespräch. Jonah lauschte den gedämpften Geräuschen, bevor die Verbindung unterbrochen wurde, und starrte dann auf den Bildschirm.
So saß er noch da, als ein fröhliches Zwitschern des Computers vermeldete, dass der Akte eine neue Datei hinzugefügt worden war. Es handelte sich um ein Verbrechen, das am Vormittag über die Homepage gemeldet worden war und nach Ansicht der Zentrale mit diesem Fall zu tun haben könnte.
Jonah öffnete sie eilig und las eine praktisch gleichlautende Schilderung. Diesmal wurde der Name des Mädchens Zoe Swardadine geschrieben.
Er gab die neue Schreibweise in die Suchmaschine ein und fand das Bild einer jungen Frau mit dunkelbrauner Haut und dunklen Locken. Als er es anklickte, landete er auf ihrer Website, eine schlichte WordPress-Seite über eine in Southampton lebende Künstlerin, die stilisierte Figuren auf bedrohlich dunklen Hintergründen malte. Ganz unten auf der Seite war eine Telefonnummer angegeben, was ihm ein wenig vertrauensselig vorkam. Aber vielleicht stolperten nicht allzu viele Menschen über Zoes Seite.
Er rief die Festnetznummer an. Es klingelte achtmal, bevor der Anrufbeantworter ihn informierte, dass der Teilnehmer nicht erreichbar war, und ihn aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen.
Er gab seine Nummer auf dem Kommissariat und seine Handynummer an und bat um Rückruf. Dann legte er mit einem Gefühl zunehmender Dringlichkeit auf. Zoes Vater im Netz zu finden war nicht schwer. Martin Swardadine war Investmentbanker bei einem Unternehmen namens Knight and Maynooth. Oben auf der Seite prangte ein einschüchterndes Schwarz-Weiß-Porträt, das aus einem Winkel aufgenommen war, der Martins kantiges Kinn betonte. Darunter fand sich eine Biographie des Mannes. Im letzten Absatz erfuhr Jonah, dass Martin mit einer Ärztin verheiratet war und seine Tochter angehende Künstlerin war.
Martin nahm seinen Anruf mit einem forschen Gruß entgegen, der signalisierte, dass das Telefonat ihm Zeit für sehr wichtige andere Angelegenheiten raubte, wichtige und vergnügliche Angelegenheiten, die eine Menge reicher Leute noch reicher machen würden.
»Hier ist DCI Jonah Sheens von der Hampshire Constabulary. Wir möchten uns vergewissern, dass es Ihrer Tochter gut geht. Ein Freund von ihr hat sich Sorgen gemacht.«
»Vergewissern, dass mit … Zoe alles in Ordnung ist?« Sein selbstbewusster Ton wurde ein wenig brüchig.
»Ja«, bestätigte Jonah. »Haben Sie zum Beispiel heute schon mit ihr gesprochen oder von ihr gehört?«
»Ich … Nein, heute noch nicht«, sagte ihr Vater. »Aber ich habe mit ihr zu Mittag gegessen am … Anfang der Woche. Wahrscheinlich hat sie mir inzwischen eine SMS geschickt. Warten Sie.«
In der Leitung war ein Rascheln und Kratzen zu hören, während Martin vermutlich seine Nachrichten abrief.
»Sie hat mir gestern Abend eine SMS geschickt.«
»Danke«, sagte Jonah. »Um wie viel Uhr war das?«
»20:12 Uhr, steht hier.« Es entstand eine kurze