Colombia Es Pasión!. Matt Rendell
Читать онлайн книгу.2008 bestritt er seine zweite Tour de l’Avenir, erneut für das Team des World Cycling Centre: »Andrey Amador gewann den Prolog und letztlich arbeitete ich für ihn. Er wurde Fünfter und ich Siebter.«
Während seiner europäischen Abenteuer schrieb Jarlinson regelmäßig nach Hause, wobei er seine Briefe mit Pseudonymen unterschrieb, die er von seinen Lieblingsfahrern übernommen hatte: »Danke. Ich liebe euch. Viele Grüße, Ullrich.« Oder, wenn er sich an einem Sprint beteiligt hatte: »Cipollini.«
Sein Vater hat diese Briefe noch immer.
2008 und 2009 überlegte sich Saldarriaga, dass er mehr aus seinem Team herausholen könnte, wenn er mehr unmittelbaren Kontakt zu den Fahrern hätte. Das hieß, sie aufzufordern, nach Medellín zu ziehen. Jarlinson Pantano verließ seine Familie im urbanen Cali und zog auf die finca – einen Kleinbauernhof – eines Teamkollegen: Sergio Luís Henao. Henao war ein hervorragender Fahrer: 2005 hatte er bei der Vuelta del Porvenir zwei Etappen gewonnen und den zweiten Platz im Gesamtklassement belegt, hinter seinem Teamkollegen Rigoberto Urán. Im Jahr darauf, als 18-Jähriger im Wettstreit mit Elite-Fahrern, gewann er sein erstes Etappenrennen, die Clásica Norte de Santander. Nach einem dritten Platz bei der Vuelta a Antioquia wurde er Fünfter und bester U23-Fahrer beim Clásico RCN. Dieses Resultat war es, das ihm eine Berufung für Colombia Es Pasión einbrachte.
Er erzählte mir: »Ich wuchs auf damit, Landarbeit zu verrichten: Kartoffeln hacken, Bohnen pflücken, bei der Ernte helfen und diverse Jobs für andere Kleinbauern erledigen.« Als ich ihn frage, ob er sich eher dem Land oder der Stadt zugehörig fühlt, sagt er: »Irgendwo dazwischen: Schon auf dem Land, mit ein bisschen Stadt allerdings«, fügt er mit einem Lächeln hinzu, »aber nicht viel.«
Sein Cousin Sebastián scherzte mir gegenüber, sie wären »Hinterwäldler, die es zu was gebracht haben!« – wobei »Hinterwäldler« noch eine wohlwollende Übersetzung von auténticos montañeros ist, eine abschätzige kolumbianische Bezeichnung für diejenigen, die besonders unbeleckt sind von urbanen Einflüssen. »Früher wurden so die Leute in isolierten Regionen ohne Wasser und Strom genannt. Klar, wir kommen vom Land, aber das Leben ist dort heute viel bequemer, als es einmal war.«
Eduardo, der Großvater der Jungs, kam unzweifelhaft vom Lande. Seine erste Frau starb bei der Geburt ihres 15. Kindes. Eduardo heiratete erneut und bekam mit seiner zweiten Frau vier weitere Kinder. Sergio Luís’ Vater Omar war das siebte von 19 Kindern. Er arbeitete als Verwalter einer Privatfinca, bevor er sein eigenes Stück Land erbte und Bohnen, Mais und Kartoffeln anbaute.
Sergio Luís sagt: »Wir legten einen kleinen Teil für zu Hause beiseite und verkauften den Rest. Auf diese Weise versorgte mein Vater eine Frau und fünf Kinder.«
Als junger Mann hatte Omar seine eigenen Ambitionen als Radfahrer, wie mir Sergio Luís verrät. »Nach dem Frühstück aus Brot und aguapanela« – konzentriertem, in Wasser aufgelöstem Rohrzuckersaft, der traditionellen Wegzehrung kolumbianischer Radsportler – »machte er sich um fünf oder sechs auf, um Rad zu fahren. Er trainierte, dann ging es an die Arbeit, was hieß, in der Sonne zu schuften, bis sie unterging. Das Abendessen bestand aus nicht viel mehr als Kartoffelbrühe mit einer Prise Salz. Sie wussten nicht, was es hieß, Fleisch zu essen.«
Omars Bruder Alcides hatte den gleichen Traum und auch sein Sohn Sebastián zeichnet ein ganz ähnliches Bild. »Er hatte nicht genug zu essen, geschweige denn ein gutes Rad, also fuhr er zwar Rennen, aber mit leerem Magen. Er schaffte es nie auf Landesniveau.«
Omar und Alcides hatten erlebt, wie einer ihrer Freunde aus Kindertagen, ein Mann namens Reynel Montoya, es zum Profi brachte und 1987, 1988 und 1989 dreimal hintereinander die Landesmeisterschaften gewann. Beide wollten, dass ihre Söhne einmal die Chance bekämen, die sie selbst nie hatten.
Sergio Luís sagt: »Ich sah die Räder meines Vaters und die Fotos und allmählich reifte in mir der Wunsch, Rad zu fahren. Er gab mir mein erstes Rad, ein grünes Torres mit Alurahmen, und meine erste Radsportmontur.«
Als er aufwuchs, erlebte Sergio Luís aus nächster Nähe die Gewalt, die in Kolumbien grassierte. Der Hof der Familie, Vereda Río Abajo, war anfällig für Übergriffe von Guerillas und Paramilitärs.
»Die Hauptstraße lag nur hundert Meter vom Haus entfernt, und wenn man um zwei Uhr morgens Autos und Laster in hohem Tempo vorbeirasen hörte, wusste man, dass es entweder Guerillas oder Paramilitärs waren. Manchmal dachte ich, sie kämen, um mich oder meine Familie zu holen. Ich machte Phasen voller Angst und Schrecken durch.«
»Wenn damals die Paramilitärs an deine Tür klopften und etwas zu essen verlangten oder Land, auf dem sie ihre Zelte aufschlagen konnten, kooperiertest du oder sie schossen dir eine Kugel in den Kopf«, fuhr er fort. »Das machte dich in den Augen der Guerillas allerdings zu einem Kollaborateur und auch das bedeutete dein Todesurteil.«
Ab einem Alter von elf Jahren fuhr Sergio Luís, das älteste von fünf Geschwistern, mit dem Rad die elf Kilometer auf unbefestigter Straße von der Familienfinca zur Schule in Rionegro. 2001, in dem Jahr, als er 14 wurde und ernsthaft zu trainieren begann, erreichte der territoriale Konflikt zwischen den illegalen bewaffneten Gruppen seinen Höhepunkt. »Ich fuhr morgens um sechs auf meinem Mountainbike los«, erinnerte er sich. »Eines Tages stieß ich auf die Leichen von zwei Menschen, die in ihrer Unterwäsche nach draußen gezerrt und hingerichtet worden waren. Man konnte die Einschusslöcher erkennen. Das Bild hat sich mir bis heute ins Gedächtnis eingebrannt.«
Vereda Río Abajo – río abajo bedeutet »flussabwärts« – gehörte verwaltungstechnisch zur Stadt San Vicente, eine Stunde östlich von Medellín, obwohl es näher an Rionegro lag, einem wichtigen Industriezentrum, in dem eine Reihe der größten Unternehmen des Landes ansässig sind: der Farbenhersteller Pintuca, der Papierproduzent Sancela, der Lebensmittelkonzern Nutresa, das Textilunternehmen Riotex sowie der zweitgrößte Flughafen des Landes, der Aeropuerto International José María Córdova. Die Landschaft rund um Rionegro ist übersät von den riesigen Treibhäusern der kolumbianischen Schnittblumen-Industrie, der weltweit zweitgrößten nach den Niederlanden.
Der Einbruch der Marktpreise in der Landwirtschaft traf Antioquia hart und Sergios Luís’ Vater Omar nahm einen Job als Nachtwächter bei einem Schnittblumenproduzenten zehn Kilometer von zu Hause an. »Er arbeitete von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends, kam nach Hause, um zu schlafen, und ging dann wieder zur Arbeit. Das Leben war hart.«
Einer der Cousins von Sergio Luís, Jhonatan Marín, bestritt bereits Rennen. »Ich war ehrgeizig und ich dachte, ich könnte ihn schlagen, also fuhren wir um die Wette den Anstieg von La Ceja nach La Unión hinauf und ich verlor«, erzählt Sergio Luís mir. »Ich forderte Revanche und, noch in der gleichen Woche, wettete mein Vater mit Jhonatans Vater um ein Mittagessen, dass ich ihn beim nächsten Mal schlagen würde. Das tat ich dann auch. Daraufhin gab er den Radsport auf und ich fing damit an.«
Als die Regierung Uribe im August 2002 an die Macht kam, wurden die Operationen gegen die FARC in der Region verstärkt: »Wenn ich im Haus war, konnte ich manchmal Bomben explodieren und die Salven der Helikopter hören, die die Guerillas in den Bergen angriffen. Ich erinnere mich, wie ich damals dachte: ›So muss sich Krieg anhören.‹«
Nach drei Jahren beim örtlichen Radsportverein, dem Club de Ciclismo CICO Rionegro, wurde Sergio Luís in das Radsportprogramm von Indeportes Antioquia, dem Sportinstitut der Provinz, berufen. Unter dem Namen Orgullo Paisa, »Stolz von Antioquia«, war das Projekt im Jahr 1993 ins Leben gerufen worden und zeichnete sich durch die seltene Tugend der Langlebigkeit aus. Im Sportzentrum Atanasio Girardot in Medellín ansässig, brachte es Fahrer aus ganz Antioquia mit einigen der besten Sportwissenschaftler des Landes zusammen.
Im Großraumbüro von Indeportes Antioquia, neben einem mit säuberlich abgehefteten Akten bedeckten Schreibtisch, umreißt Dr. Luís Eduardo Contreras, der 1993 zum Institut stieß und einer der Architekten des Radsportprogramms war, dessen