Colombia Es Pasión!. Matt Rendell
Читать онлайн книгу.Busverbindung zur Institución Educativa Técnica Alejandro de Humboldt im Dorf Arcabuco, 16,5 Kilometer bergab von Vereda La Concepción, also ging Leidy dorthin und ihre jüngeren Brüder folgten.
Die Finanzen der Familie schwankten je nach Lage der ländlichen Wirtschaft und aus dem Kredit, den sie ihren Kunden in guten Jahren einräumten, wurden Schulden, wenn die Zeiten schlechter wurden. Eine dieser Krisen stellte sich ein, kurz nachdem Nairo zur Oberschule gewechselt war.
»Wir waren Kleinerzeuger, aber die ländliche Wirtschaft steckte in der Krise«, erzählte er mir. »Diverse Schädlinge hatten sich breitgemacht und das Land, das wir landwirtschaftlich nutzbar gemacht hatten, wurde enteignet. Wir gaben die Landwirtschaft auf und von da an bauten wir Lebensmittel nur noch für uns selbst an.«
Die Kindergärtnerin Isabel Monroy erinnert sich, wie Nairos Mutter eines Morgens am Tag eines Schulausflugs an die Tür klopfte: »Sie sagte: ›Señora Chavita, sie haben nicht zufällig die Schuhe von einem unserer Jungs da? Sie holen Nairo ab und ich habe keine Schuhe für ihn.‹«
Die Quintanas reagierten auf die ländliche Krise, indem sie unermüdlich ihre Runden über die umliegenden Märkte machten. Nairos Wochenprogramm in seinen ersten beiden Jahren an der Humboldt-Schule in Arcabuco, als er 12 und 13 war, macht einen schon fertig, wenn man nur darüber nachdenkt:
Am späten Montagabend fingen wir an, den Laster zu beladen. Um drei Uhr morgens mussten wir am Großmarkt in Tunja sein, um Obst und Gemüse zu kaufen. Ich kam heim vom Einladen und hatte eine Stunde Zeit, mich zu waschen und fertig zu machen, bevor ich mich auf den Weg zur Schule machte. Gegen Mittag war ich mit dem Unterricht fertig, traf mich mit meinem Vater auf dem Markt und aß am Stand. Bis 22 Uhr mussten wir abgebaut haben und aufbrechen, denn es gab einen anderen Markt in Moniquirá, was bedeutete, wieder um drei Uhr aufzubrechen, um Nachschub zu holen.
Ich nahm den Bus nach Arcabuco, ging zur Schule, nahm den Bus zurück und arbeitete bis elf Uhr abends, wobei es auch vorkam, dass wir nicht vor vier Uhr morgens wieder daheim waren. Um sechs musste ich bereit sein für die Schule. Donnerstags arbeiteten wir nicht, aber wir standen freitags früh auf und fuhren zum Markt in Tunja, danach ging es zur Schule, mittags zurück, anschließend hart arbeiten bis acht oder neun und nach Hause um zehn. Wenn in Barbosa kein Markt war, hatten wir samstags frei, aber am Sonntag standen wir wieder auf dem Markt in Tunja.
Nairo arrangierte sorgfältig das Obst und Gemüse, um den Stand so einladend wie möglich zu gestalten, dann machte er sich auf und lieferte Bestellungen aus. Wenn der Markt schloss, zog er mit den unverkauften Waren durch die Gassen und verkaufte sie zum günstigen Preis.
Die Welt ruraler Stille, von der Elba Rosa Camargo gesprochen hatte, war eine, der die Quintanas sowohl angehörten als auch eben nicht angehörten. Sie lebten in einer Gemeinschaft, in der alte Sitten wie die Verwendung von Heilpflanzen und kulturgebundene Syndrome wie die Erklärung für Nairos Kindheitsleiden noch relativ intakt waren, gleichzeitig aber lebten sie an der Hauptstraße, trieben Handel mit durchreisenden Autofahrern und fuhren zu Märkten in umliegenden Städten und Dörfern, denen sie Lebensmittel, Salz, Zucker, Neuigkeiten und Gesprächsstoff brachten. Das verschaffte ihnen einen gewissen Status. Zwar war es weiterhin schwierig, dem jungen Nairo ein Wort zu entlocken, aber die besondere Position seiner Familie als Mittler verschaffte ihm möglicherweise die Überzeugung, die nötig war, um das Lebensprojekt seiner Wahl zu verfolgen.
Unterdessen brachte Alfredo sich selbst das Autofahren bei und trug zur Familienkasse bei, indem er nach Anbruch der Dunkelheit Taxi fuhr, wenn die Polizei nicht sehen konnte, dass er noch minderjährig war. Nairo, kaum älter als zehn, aber aufgeweckt und pfiffig, leistete ihm Gesellschaft und beriet ihn in der Frage, wen er befördern sollte und wen besser nicht. Dann begann Nairo, sich selbst Arbeit zu suchen: Einmal arbeitete er mit Dayer an einer Tankstelle. Ein anderes Mal sammelten die beiden Altmetall. Und sie fanden andere Wege zu sparen: Zu Weihnachten stellten sie Geschenke her, indem sie Plastikabfälle einschmolzen und in Formen gossen.
Rückblickend erkennt Nairo, dass es keine einfache Kindheit war. »Dayer und ich hatten das Glück, eine gute Schule zu besuchen und unseren Abschluss zu machen. Viele Kinder, die in schwierigen Verhältnissen aufwachsen und von klein auf hart arbeiten müssen, fangen an zu trinken oder stürzen auf andere Weise ab.«
Aber irgendwie brachten die Quintana-Kinder die mentalen Ressourcen auf, ihre Lage zu meistern. Insbesondere Nairo besaß eine Art Genie: ein strukturiertes Innenleben, das es ihm, kaum auf der Oberschule, gestattete, in seiner Familie beinahe das Kommando zu übernehmen und seinen inneren Antrieb und seine Zielstrebigkeit auf sie zu übertragen. Alfredo spricht über ihn mit großer Bewunderung. »Er war sensibel, stolz, fokussiert, ehrgeizig. Ein Anführer in der Schule und daheim, sehr ordentlich und diszipliniert, mit großen Plänen und seiner eigenen Sicht der Dinge.«
Es bereitete ihn auf seine zukünftige Karriere als Sportler vor.
Dann geschah etwas Unvorhergesehenes, das den Verlauf all ihrer Leben veränderte.
Von dem kleinen Taschengeld, das Nairo und Dayer jeden Tag für Schulausgaben erhielten, legte Nairo, 14 Jahre alt, genug beiseite, um sich ein altes Mountainbike zu kaufen. Es bot ihm ein Mittel zu so etwas wie Selbstverwirklichung – etwas, was in einer ruralen Welt begrenzter Möglichkeiten sonst schwer zu bekommen war – und er begann, das Rad als einen Gefährten zu begreifen, als etwas beinahe Menschliches. Wie Alfredo es ausdrückt: »Für ihn war es nicht nur ein Transportmittel, es war eher wie seine rechte Hand.«
Sobald er das Radfahren beherrschte, brachte er es seinem jüngeren Bruder bei – »Auf die alte Art«, sagt Dayer, »indem er mich einen Berg hinunterstieß!« Drei Tage nach seiner Initiation gelang es Dayer irgendwie, ein eigenes Rad aufzutreiben, und die beiden Jungen heckten einen Plan aus: die 16,5 Kilometer lange Abfahrt zur Schule hinab- und dann wieder hinaufzufahren.
»Wir hatten schwere Räder, Jeans und Schultaschen«, sagt Dayer. »Wir schafften es gerade so eben.«
Dann schafften sie es wieder. Und wieder.
»Von da an«, berichtet Nairo, »nahmen wir nicht mehr den Bus.« Etwaigen vorschnellen Rückschlüssen meinerseits zuvorkommend, setzt er hinzu: »Nicht, weil wir es uns nicht leisten konnten: Es waren hin und zurück nur tausend Pesos [um die 25 Cent]. Ich tat es, weil ich ein Rad hatte und weil es mir so gefiel.«
Einige Wochen vergingen und Nachbarn und Schulfreunde schlossen sich ihnen an, bis sie schließlich ein kleines Peloton von insgesamt zehn oder zwölf Fahrern bildeten.
»Wir deckten unsere Räder über und über mit Aufklebern, Reflektoren und Lampen ein«, sagt Dayer. »Es war ein ziemlicher Anblick.«
Der Entschlossenste von ihnen war zweifellos Nairo. Alfredo erinnert sich, dass Nairo, wenn es regnete, nass und verschmutzt in der Schule eintraf. Seine Lehrer übten Nachsicht mit ihm und wuschen ihn, wenn er unterwegs zu Fall gekommen war. Ebenso die Busfahrer, die ihn und sein Rad umsonst nach Hause brachten, wenn er stürzte.
Auf einer seiner Ausfahrten hatte Nairo nicht weit von zu Hause einen Sturz: »Ich trug keinen Helm oder dergleichen. Ich war eine Weile bewusstlos, ging aber nicht ins Krankenhaus.«
Dass er dennoch weitermachte, verrät viel darüber, wie sehr er sich seiner neuen Leidenschaft verschrieben hatte.
Ein Jahr später wurde er in Tunja von einem Taxi angefahren und diesmal wurde er ins Krankenhaus gebracht.
Alfredo sagt: »Wir sorgten uns um ihn, aber wir unterstützten ihn auch.« Seine Familie verstand, dass das Radfahren für Nairo von besonderer Bedeutung war.
Die Gefahren der Nationalstraße Tunja–Arcabuco waren der Familie eines anderen Humboldt-Schülers nicht verborgen geblieben, der Nairo zum nächsten Schritt in seiner Radsportkarriere brachte: die Teilnahme an Rennen. Cayetano Sarmiento, der Sohn einer campesino-Familie, die in der Nähe einer Trinkwasserquelle namens Agua Varuna lebte, auf halbem Weg den Anstieg von Arcabuco nach Vereda La Concepción hinauf, erzählte mir: »Mein Vater baute Kartoffeln an und hatte Vieh, ich half mit der Ernte und dem Melken, dann verkaufte ich unsere Kartoffeln auf dem Markt. Damals war die Nationalstraße Tunja–Arcabuco die Hauptverkehrsstraße in Richtung