Der kahle Berg. Lex Reurings
Читать онлайн книгу.Straße steht, und einigen Hirschkühen, die sich etwas schüchtern am Waldrand verstecken. Gefertigt sind die Skulpturen aus allen möglichen Werkzeugen, Schrauben und Muttern, Radkappen, diversen Maschinenteilen wie Kolben, Elektromotoren, Blattfedern, Stangen und so weiter. Schon sehr speziell.
Etwa sechs Kilometer hinter dem Chalet Reynard, auf 1.260 Metern Höhe, genießt man einen weiten Blick auf die Combe de la Font de Margot und – in der Ferne – das Plateau d’Albion. Eine Orientierungstafel in der Nähe des Parkplatzes erläutert Ihnen, was Sie sehen.
Wenn der Ventoux Teil der Tour-de-France-Strecke ist, richtet die Tour-Direktion jeweils in dieser Ecke, unterhalb des Col de la Frache, Parkplätze für die Zuschauer ein.
Zweihundert Meter weiter lädt links der Straße, unweit eines Wegekreuzes, an dem mehrere Wanderwege aufeinandertreffen, die wunderschön restaurierte Chapelle Notre-Dame-des-Anges zu Ruhe und Besinnung ein. Das letzte Stück der Abfahrt führt dann durch Lavendel- und Getreidefelder.
Eigentlich ist die Ankunft in Sault die schönste. Das Rad auf dem schattigen Platz an der Avenue de la Promenade gegen eine dicke Platane lehnen und sich auf der alten Stadtmauer mit Blick auf die Ebene ausruhen, am besten während der Lavendelblüte… Einfach himmlisch.
SCHÖNHEIT
Villes-sur-Auzon (Vaucluse, Frankreich) – Ich parke das Auto im wenig überzeugenden Schatten einer jungen Platane. Die Sonne funkelt in den Speichen, als ich mit meinem Rad vom Parkplatz rolle.
Die Auffahrt zum Col des Abeilles ist angenehm. Elf Kilometer guter Asphalt, gleichmäßige Steigung, kaum Verkehr. Ich klettere entspannt. Die Sonne brennt auf meinen triefnassen Körper herab. Der Straßenrand ist voller Blüten, meist in kleinen Sträußchen zusammen. Rosa, weiß, lila, gelb. Links und rechts Wälder in allen Grüntönen. Nur das leise Surren der neuen Kette, die über ebenso neue Zahnräder gleitet.
An der Kreuzung in der Nähe des Cols taucht ein Radfahrer im Mercatone-Uno-Outfit auf. Er nickt mir stumm zu, macht kehrt und fährt auf dem Weg zurück, den er gekommen ist. Die Reinheit des Sinnlosen.
Ich lasse Sault links liegen und fahre zum Belvédère du Castelleras hinauf. Verträumt liegt er in der Hitze; zum Glück ist keine Menschenseele da. Der Friede vergangener Zeiten.
Ich trinke etwas und beginne die Abfahrt durch die Gorges de la Nesque. Ich muss nicht treten, lasse einfach der Form halber meine Beine ein wenig mitdrehen. 30, 32 km/h, ich habe es nicht eilig, muss keine Bestzeit aufstellen.
Ich passiere die Chapelle Saint-Michel-de-Anesca, die Opferstätte aus dem 12. Jahrhundert tief unter mir. Noch immer folgen jedes Jahr Tausende provenzalischer Pilger ihrem Herzen und steigen den gefährlich schmalen und steilen Pfad hinunter zum Grund der Schlucht. Der Gott vergangener Jahrhunderte – der Gott von heute. Ich höre Wasser plätschern; es ist noch früh in der Saison, die Nesque wurde noch nicht von ihrem Kalksteinbett aufgesogen.
In gemütlichen Schleifen schlängelt sich die Straße ins Tal. Je tiefer ich komme, desto schwüler wird der Wind. Le relais de Fayol, ein alter Rastplatz für müde Pferde und Reiter, scheint sich mit letzten Kräften an die Felswand zu klammern. Aus verschwundenen Fenstern und Dächern wachsen Kiefern und Eichen und Wolken aus Geißblatt. Düfte vermischen sich mit Farben und dem warmen Wind. Die Aussicht auf das, was hinter mir liegt, ist beruhigend, atemberaubend, himmlisch schön. Wenn es einen Schöpfer der Schönheit gibt, dann tut er heute alles, um seine Existenz zu beweisen.
Villes-sur-Auzon. Die Stadt döst vor sich hin. Das Auto steht nun direkt in der Sonne. Ich klicke meine Schuhe aus den Pedalen.
Aus: Willem Janssen Steenberg, Voor eigen parochie – Columns 2003–2011
DER MONT VENTOUX IN GROSSEN RADRENNEN
»Aber ich habe noch nicht den schlimmsten Killer erwähnt: den Riesen der Provence, den schrecklichen Mont Ventoux. Ein gruseliger Bastard in einem schönen Land und blanker Wahnsinn für die Fahrer. Die Sadisten hatten sich diesen schrecklichen Mont Ventoux ganz bis zum Schluss aufgehoben. Fast wie ein dämonisches Dessert oder ein unappetitliches Sorbet, bevor es für die müden Helden nach Paris geht.«
– Jos Vandeloo, De beklimming van de Mont Ventoux
1882 wird Bedoin direkt mit dem Gipfel des Ventoux verbunden: Die Straße vom Tal hinauf zu der Stelle, an der das Observatorium entstehen soll, wird fertiggestellt. Adolphe Benoît aus Marseille riecht seine Chance: Er will der erste Radsportler in der Geschichte sein, der den Mont Ventoux mit dem Fahrrad bezwingt. Nach seinem erfolgreichen Unterfangen fordert er andere Radfahrer heraus, es ihm gleichzutun, und legt damit den Grundstein für den historischen Radsport an den Flanken des Ventoux.8 Der Erste, der sich dem Kampf stellt, ist Paul de Vivie aus Saint-Étienne, der berühmte Pionier des Radtourenfahrens. Vélocio, wie er auch genannt wird, benötigt 1903 für die rund 21 Kilometer eine Fahrzeit von 2:32 Stunden und ist damit drei Minuten schneller als Benoît.
Schon bald kommt die Idee auf, auf der Strecke einen offiziellen Wettbewerb zu organisieren. 1908 wird der Marathon du Ventoux aus der Taufe gehoben: 27 Läufer und 40 Radfahrer nehmen die Herausforderung an. Der erste Sieger unter den Läufern ist Alfred Joyerot, der die 36 Kilometer zwischen Carpentras und dem Observatorium in 4:20 Stunden zurücklegt. Der schnellste Radfahrer ist Jacques Gabriel, der für diese Strecke 2:29 Stunden benötigt. Er tritt dabei eine Übersetzung von fünf Metern pro Kurbelumdrehung
Der Marathon du Ventoux erweist sich jedoch als so schwer, dass sich erst 1922 wieder genügend Teilnehmer für eine zweite Austragung einschreiben. Danach ruht das Rennen jahrzehntelang.
Am 14. September 1974 gibt die Leichtathletikvereinigung l’Union Sault/Apt-Luberon/Ventoux den Startschuss für die nächste Auflage. Pierre Liardet legt die 26 Kilometer am schnellsten zurück: in 1:39:09 Stunde.
Ende der 1980er Jahre findet man einen etwas moderateren Ansatz: 1987 organisiert die Gemeinde Bedoin den ersten Halbmarathon auf den Berg. Das bedeutet 21,6 Kilometer Laufen von Bedoin hinauf zum Gipfel des Mont Ventoux. In den Jahren 1988 und 1989 gibt es zwei weitere Auflagen der Veranstaltung. Bei der letzten Austragung stellt Aimé Arnaud mit 1:35:57 Stunde einen Streckenrekord auf. Danach schläft das Event ein.
Mehr als zwei Jahrzehnte später beginnen fünf Teilnehmer aus der guten alten Zeit, der Veranstaltung neues Leben einzuhauchen, und 2011 wird ein weiterer Berglauf-Halbmarathon mit Ziel auf dem Ventoux organisiert. Die Initiative findet begeisterten Anklang und auch 2012 drängen sich erneut viele Teilnehmer an der Startlinie.
Das neue Konzept scheint aufzugehen, denn es folgen jährlich weitere Austragungen. Am 31. Juli 2016 begrüßen die Organisatoren, der Fußballverein Racing Club Bedoin, die Gemeinde Bedoin, der Carrefour-Supermarkt in Bedoin und Marathonien Sport in Marseille, immerhin 700 Athleten zum sechsten »Semimarathon Mont Ventoux«, wie der course pedestre über 21,6 Kilometer und 1.610 Höhenmeter seit 2013 heißt. Angesichts dieser Zahlen fürchten die Macher offensichtlich, dass ihnen die Veranstaltung über den Kopf wachsen könnte, denn seit der Ausgabe im Jahr 2017 sind maximal 600 Teilnehmer zugelassen.
Auch wenn Radrennveranstalter im Allgemein der Auffassung sind, dass die Bezwingung des Ventoux den Fahrern zu viel abverlangt, hat sich der Berg im Laufe der Jahre zur besonderen Note vieler Rennen entwickelt.
Das erste echte Radrennen, das den Ventoux ansteuert, ist 1935 der Circuit du Mont Ventoux, und seitdem schicken die Organisatoren u.a. der Tour du Vaucluse, der Dauphiné Libéré, von Paris–Nizza und natürlich der Tour de France ihre Fahrer mit großer Regelmäßigkeit nach oben.
Mont Ventoux Dénivelé Challenges und Tour de la Provence
Die Mont Ventoux Dénivelé Challenges ist ein Radrennen für Profis, das erstmals im Jahr 2019 ausgetragen wird. Die Fahrer starten in Vaison-la-Romaine und vor allem die Kletterer können ihre Qualitäten ausspielen. Insgesamt sind acht Anstiege in den Parcours aufgenommen worden, darunter der Col des Aires (3 km mit einer durchschnittlichen Steigung von 5,4 %) und der Col de l’Homme Mort (11,6 km à 4,9 %). Schlussstück ist natürlich der legendäre Mont Ventoux (21 km à 7,7 %). Der Radsportweltverband hat das Rennen