Benoni. Hermann Moser

Читать онлайн книгу.

Benoni - Hermann Moser


Скачать книгу
Kontakte ist die Lustoase, wo sich neben der notgeilen Kundschaft auch Kriminelle treffen. Ich kenne dort einen Menschen, dem ein Finger abgetrennt worden ist und einem fehlt ein Ohr. Sie haben mir nie gesagt, wie das passiert ist, nicht einmal einen Unfall vorgeschoben, einfach nur geschwiegen.“

      Ernst klopfte Nyoko auf die Schulter. „Das alles an einem Tag! Ihr seid jedes graue Haar wert, das ich wegen euch bekomme. Aber ein bisschen abenteuerlich sind die Zusammenhänge schon. Wie sicher seid ihr euch dabei?“

      Nyoko dachte kurz nach und schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht. Wir finden das interessant und schauen es uns noch genau an. Ein Teil könnte rausfallen, ein anderer dazukommen. Wir stehen am Anfang. Wenn das wirklich alles zusammenhängt, ist der Mörder von Friedrichs Vater nicht ein Spion, der einmal kurz nach Wien gekommen ist, um einen Regimekritiker zu töten, sondern jemand, der hier seit Jahrzehnten sein Unwesen treibt und Körperteile abschneidet. Den will ich aus dem Verkehr ziehen, egal ob er etwas mit Pottersfeld zu tun hat. Paul sucht nach weiteren Gemeinsamkeiten. Du hast noch nichts gefunden, oder?“

      „Nein.“

      „Die finden wir schon noch. Ernst, haben wir den Auftrag?“

      „Ich werde Staatsanwalt Brell informieren, dass wir die Fälle wiederaufnehmen, um bisher unbekannte Zusammenhänge zu prüfen.“

      „Männer! Ihr habt es gehört. Es wird stressig. Aber jetzt ist es höchste Zeit für den besten ‚Azzurro‘ von Wien!“

      Am Zentralfriedhof brannte eine einsame Kerze. Friedrich stand am Grab seines Vaters. Sayo hielt seine Hand. In den Grabstein war eine Stellung aus der legendären Partie graviert. Der Moment, in dem Pottersfeld den Weltmeister mit einem verwegenen Angriff ohne Rückendeckung ins Wanken gebracht hatte.

      Das war also sein Vater. Friedrich hatte seine Wurzeln gesucht und überraschend schnell gefunden. Oder doch nicht? Er fühlte sich wie bei einem Blindschach-Spiel, ohne die Stellung zu wissen. Wieso wurde sein Vater ermordet? Von wem? Was ist mit seiner Mutter geschehen?

      Nein, er kannte seine Wurzeln nicht. Er brauchte Halt. Sayo umarmte ihn.

      Dienstag, 14. November 2017

      Der vierjährige Kito Suluhu versteckte sich unter seinem Bett. Seine Eltern weinten. Ein böser Mann bedrohte sie mit einem Gewehr. Kito hielt sich die Ohren zu. Kein Knall ertönte. Nur ein „Plopp“. Die Mutter fiel um und starrte mit unbeweglichen, glasigen Augen zu Kito. Er wollte schreien, doch er traute sich nicht. Plopp. Der Vater fiel neben die Mutter. Der böse Mann hinkte aus der Wohnung. Kito kroch zu den leblosen Körpern seiner Eltern. Er legte sich auf seine Mutter. Sein Leibchen wurde rot von ihrem Blut. Mama! Der Vater lag daneben und rührte sich nicht. Papa!

      Im Büro der Keystone Cops wurde fleißig gearbeitet. Klaus betrachtete DIN A3-Vergrößerungen der Fotos von Frank Pottersfelds Hotelzimmer. Seine Aufmerksamkeit galt dem Reiseschachspiel, das im Hintergrund zu sehen war. Er versuchte, die Stellung zu rekonstruieren, als unerwarteter Besuch eintraf. Sayo kam mit Friedrich und Benjamin. Der Knirps lief sofort zu Christian, der aus seiner Zauberutensilienschublade einen kleinen Ball holte. Bei der Gelegenheit legte er auch die Waffe in einen für das Kind unerreichbaren Schrank.

      Sayo war zufrieden. „Christian ist so ein begabter Stiefopa. Dürfen wir sein Talent nutzen? Wir haben gestern Abend beschlossen, uns heute zur Hochzeit anzumelden. Wäre es möglich, dass ihr inzwischen auf Benjamin aufpasst?“

      Klaus rief dazwischen. „Ernst hat eine private DNA-Probe gerechtfertigt, da wird es ihm auch gelingen, zu erklären, was der Junge hier macht. Friedrich, bevor du die Tochter meiner Chefin lebenslänglich einsperrst, musst du mir helfen. Ich brauche einen Schachspieler. Kannst du die Stellung der Schachfiguren auf diesem schrecklich unscharfen Foto erkennen? Mich interessiert vor allem, ob die aus einer Benoni-Eröffnung kommen könnte, weil Christian so auf dieses Buch fixiert ist.“

      Friedrich betrachtete das Bild. „Das war das Hotelzimmer meines Vaters? Es ist ein eigenartiges Gefühl, das so zu sehen.“ Er nahm ein Blatt Papier, zeichnete ein Schachbrett, übertrug die eindeutig sichtbaren Figuren und setzte die Restlichen mit seinem Schachwissen ein. „Ja, das ist eindeutig eine Benoni-Stellung. Ich habe mir in der Nacht noch alle Partien angeschaut, die ich von meinem Vater in den Datenbanken finden konnte. Er hat nie Benoni gespielt. Es ist seltsam, dass er mit einem so exotischen Buch in das Thema eingestiegen ist.“

      Nyoko hatte sich in der Zwischenzeit eine Jacke angezogen. „Christian, ich nehme an, du willst mit deinen weltweiten Freunden telefonieren, um ein Exemplar dieses Buches aufzutreiben. Langsam werde ich auch neugierig darauf. Kannst du das mit einem Kind auf dem Schoß machen?“

      Er nickte nur und beschäftigte sich weiter mit dem Buben. Nyoko lächelte zufrieden. „Ich fahre jetzt in die Rudolfstiftung zu Schwester Olivia Pasch, die in der Nacht Dienst mit der Entdeckerin von Friedrich hatte.“

      Im Krankenhaus stellte Nyoko fest, dass Paul eine gute Animation erstellt hatte. Sie fand sich im Keller zurecht, als ob sie schon einmal hier gewesen wäre, und sah vor sich, wie sich die Menschen zum Zeitpunkt der Kindesweglegung bewegt hatten.

      Olivia Pasch zeigte ihr das Wäschelager. „Hier ist Friedrich gut gebettet in einem Wäschewagen gelegen. Das Kind hatte Glück, dass Stephanie in der Nacht heruntergekommen ist. Gegen 23 Uhr ist der sonst sehr gewissenhaften Kollegin plötzlich eingefallen, dass sie das Wäscheholen in ihrem letzten Dienst vergessen hatte. Ihr Engagement für die Flüchtlinge hat sie wahrscheinlich zu sehr abgelenkt.“

      Nyoko wurde hellhörig. „Sie war karitativ tätig?“

      „Immer! In jenen Tagen ist die deutsch-deutsche Flüchtlingswelle durch Österreich gezogen. Stephanie war bei sozialen Aktionen stets mit Begeisterung dabei. Man hat sogar gemunkelt, dass sie einigen geholfen hat, die aus Angst vor der Stasi untergetaucht sind. Einige haben die lebenslange Furcht vor dem totalen Überwachungsstaat nicht an der Grenze ablegen können.“

      Nun wusste Nyoko, dass sie auf einer wichtigen Spur war. „Dann war der Mauerfall sicher eine Sensation für Frau Kleindienst. Die Ereignisse haben sich während ihres Dienstes überschlagen. War sie da nicht sehr abgelenkt? In den Krankenzimmern gibt es Fernseher und ich denke, dass alle nur eines verfolgt haben.“

      „Ja … sie hat … ähm … also …“, stotterte Pasch.

      „Sie ist nicht um 20 Uhr zum Dienst gekommen, oder?“, fragte Nyoko vorsichtig.

      Pasch dachte kurz nach.

      Nyoko war zufrieden. „Es geht hier nicht darum, ob sie mit ihrer Aussage damals eine Kollegin vor Schwierigkeiten bewahren wollten. Wir haben die Identität der Eltern bereits herausgefunden. Der Vater ist ermordet worden, die Mutter spurlos verschwunden, beide stammten aus der DDR. Kurz darauf hat man auch Stephanie Kleindienst erschossen, die DDR-Flüchtlingen geholfen hatte. Wahrscheinlich hängt das alles zusammen. Es gibt auch Hinweise auf mehrere Morde ein paar Jahre später. Die Täter treiben noch immer ihr Unwesen.“

      „Aber … Stephanie ist doch bei einem Banküberfall getötet worden.“

      „Der war vermutlich inszeniert, um das wahre Motiv für ihre Tötung zu verschleiern. Das sind eiskalte Profis, die wir stoppen müssen. Daher brauche ich Ihre ehrliche Aussage. Wann hat Frau Kleindienst tatsächlich ihren Dienst angetreten? Diese Information bleibt rein informell, ohne Protokoll.“

      „Na gut, sie war zu spät. Als sie gekommen ist, hat sie sich sofort an die Bettwäsche erinnert und ist ins Lager gegangen.“

      „Danke für Ihre Offenheit. Sie hat also wahrscheinlich das Kind abgelegt und danach ihren Dienst begonnen, um es sofort zu finden. Das hilft uns sehr weiter. Kennen Sie jemanden, der Frau Kleindienst bei ihrem sozialen Engagement geholfen hat?“

      „Nein, sie hat diese Dinge immer strikt von der Arbeit getrennt. Niemand von uns hatte privat Kontakt zu ihr.“

      Christian beherrschte 25 Sprachen und telefonierte oft mit seinen Freunden in zahlreichen Ländern. Bei seinen Weltreisen besuchte er gerne Polizeistationen und unterhielt daher ein größeres Kollegennetzwerk als Interpol. Das hatte


Скачать книгу