Frühere Verhältnisse. Katrin Unterreiner

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Frühere Verhältnisse - Katrin Unterreiner


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Die Anstrengung, im Augenblick der höchsten Erregung abzubrechen, ist so groß, daß bei dauerndem Befolgen dieses Gebrauchs schwere Nervenstörungen eintreten, die nicht selten Jahre hindurch anhalten.21

      Der Coitus interruptus war natürlich mehr als unsicher. Eine den Frauen empfohlene, allerdings ebenfalls als höchst unzuverlässig eingestufte Methode waren Spülungen: »Das Weib kann sofort vor und nach dem Beischlaf eine Ausspritzung der Scheide mit lauwarmem Wasser und Essig 3 % bis 5 % vornehmen. Dieses Mittel ist stets anzuwenden, wenn irgendein anderes Mittel (auch ein vom Mann angewendetes) versagt, oder irgendeine Ungeschicklichkeit passiert. Sicher ist es aber keineswegs.«22

      Neben Spülungen gab es die Möglichkeit chemischer Substanzen in Zäpfchen- oder Pulverform, die vor dem Geschlechtsakt eingeführt, den männlichen Samen abtöten sollten. Der Nachteil dieser Methoden lag in der schlechten Verträglichkeit dieser chemischen Cocktails, die zu schweren Entzündungen führen konnten.

      Generell wäre als Schutz vor Ansteckung ein Präservativ angeraten gewesen, doch in medizinischen Ratgebern wird immer wieder der Verlust des Lustgewinns zur Debatte gestellt. Die Qualität und Verlässlichkeit der damaligen Produkte kann mit heutigen nicht verglichen werden. Präservative kannte man bereits seit der Antike. Damals waren sie aus Fisch- oder Lämmerdarm gefertigt und sollten vor allem die weit reisenden Söldner vor Ansteckung bewahren. Bis ins 19. Jahrhundert wurden Präservative aus Guttapercha23, Fischblasen oder aus den Blinddärmen von Schafen hergestellt. 1843 gelang die Vulkanisierung des Kautschuks und ermöglichte damit eine serienmäßige Produktion von Präservativen. Mit dem Aufkommen des Kautschuk-Präservatives begann man dieses auch als sicheres Mittel gegen eine ungewollte Schwangerschaft zu akzeptieren: »Das einfachste und zweckmäßigste Mittel ist, über das erigierte männliche Glied eine undurchlässige Membran von der Form eines Handschuhfingers zu ziehen.«24

      Hier wird auch ausgeführt wie man Kondome wäscht und mehrmals verwenden kann:

       Man kann den gleichen Condom, wenn er solid ist, sehr oft brauchen, wenn man, nachdem er gewaschen und zwischen zwei Tüchern beiderseits getrocknet ist, Luft hineinbläst, die Öffnung an der Basis zudreht und den so aufgeblasenen Condom bis am Morgen, am besten auf einem Stück Wollstoff, trocknen lässt. Dann dreht man die Öffnung wieder auf, weitet sie gleich aus, bevor sie zu hart geworden ist, und der Condom ist von neuem gebrauchsfähig.25

      Mit dieser Methode ließ sich auch gleich die Unversehrtheit überprüfen. Der aus heutiger Sicht befremdlich erscheinende Umstand, dass Kondome mehrmals verwendet wurden, findet einige Zeilen weiter seine Erklärung: »Diese Details sind alle sehr wichtig, denn arme Leute können sich solche ziemlich teuren Dinge nicht jedesmal frisch kaufen.«26

      Tatsächlich waren Kondome 1900 noch vergleichsweise teuer, ein vulkanisiertes Kautschukpräservativ der Firma Julius Fromm kostete 1 Krone, das entsprach dem Tagesverdienst einer Fabrikarbeiterin.27 Ein Dienstmädchen verdiente zehn bis zwanzig Kronen im Monat, ein Kondom war also nicht unbedingt das Verhütungsmittel erster Wahl – ganz abgesehen davon, dass das Wissen um Verhütung nicht nur in diesen Kreisen der Bevölkerung mehr als mangelhaft war. Der engagierte Arzt August Forel, der seine Publikation schon im Titel den »Gebildeten« widmete, sprach diesen Umstand direkt an:

       Die richtige Anwendung der Mittel zur Regulierung der Zeugungen bildet überhaupt den Angelpunkt der ganzen individuellen und sozialen sexuellen Hygiene, und es wäre die heilige Pflicht der Ärzte sich sehr eingehend mit dieser Frage zu befassen und den Gebrauch der Condome etc. an richtigem Orte zu empfehlen und zu fördern. Statt dessen herrschen noch Zopf und Vorurteil fast überall und man sieht noch fast die Mehrzahl der Ärzte darin nicht nur theologischer oder dogmatischer als die Theologen und paragraphenängstlicher als die Juristen verfahren, sondern noch viele aus Unkenntnis und Vorurteil sich selbst venerisch anstecken oder ihre eigenen Frauen mit Geburten in schändlicher Weise überlasten.28

      Als relativ sicher bei korrekter Anwendung galten Okklusiv- oder Schutzpessare. Schon in der Antike hatte man um eine Empfängnis zu verhüten, den Muttermund mit einer umgestülpten Zitrone verschlossen. Inzwischen hatte man, geeignetere Formen entwickelt. Das zuverlässigste Pessar, das doppelt geschweifte Schutzpessar, musste allerdings vom Arzt eingesetzt werden ein Umstand, der viele Frauen abschreckte. Zudem verblieb das Schutzpessar von einer Periode zur nächsten in der Scheide, was unliebsame Nebenwirkungen auslösen konnte. Das einfach selbst zu handhabende, runde Schutzpessar wiederum konnte bei unsachgemäßer Anwendung verrutschen, womit der Schutz nicht mehr gewährleistet war.

      Tatsache ist, dass alle damals bekannten Möglichkeiten, die einen relativ sicheren Schutz vor einer ungewollten Schwangerschaft boten, entweder der Hilfe eines Arztes bedurften oder aber sehr kostspielig waren.

      In jedem Fall viel zu teuer für jene Frauen, die einen zuverlässigen Empfängnisschutz am dringendsten gebraucht hätten: unverheiratete Dienstmädchen, Verkäuferinnen, Fabrikarbeiterinnen, all jene »süßen Wiener Mädeln« aus ärmlichen sozialen Verhältnissen.

      »Falls es am Leben bleibt …« Ungewollte Kinder

       Arthur Schnitzler, Felix Salten und Gustav Klimt

      Uneheliche Liebschaften wurden von bürgerlichen Männern meist mit Mädchen eingegangen, die nicht ihrer eigenen Gesellschaftsschicht entstammten: mit Dienstmädchen aus dem eigenen Haushalt, Verkäuferinnen, Näherinnen und anderen ledigen Mädchen der Unterschicht. Zeigte ein derartiges Verhältnis Folgen, waren die Konsequenzen für die Frau ungleich schwerer als für ihren Geliebten.

      Entschloss sich eine Frau, aus welchen Gründen auch immer, ihr uneheliches Kind zur Welt zu bringen, lag ein schwerer und zumeist einsamer Weg vor ihr. Die Gesellschaft war der Ansicht, dass eine ungewollte Schwangerschaft in erster Linie das Problem der Frauen wäre. Hatte das Mädchen Glück, kam der Mann für die gesetzlich verpflichteten Kosten der Geburt auf und zahlte auch Alimente. Deren Höhe und Regelmäßigkeit bestimmte er oft nach eigenem Gutdünken, waren die aus einfachen Verhältnissen stammenden Frauen doch in den seltensten Fällen in der Lage nicht gezahlte Alimente vor Gericht einzuklagen. Direkte Verantwortung für sein Kind übernahm er in der Regel nicht.

      Um die Fassade der Wohlanständigkeit zu wahren, hatte die bürgerliche Gesellschaft eigene, inoffizielle Spielregeln ersonnen, wie mit dem unliebsamen Zwischenfall diskret umzugehen sei.

      Schnitzlers »Der Weg ins Freie« beschreibt die damals übliche Verfahrensweise:

       Anfang März war er [Georg] mit Anna aus Wien abgereist, da ihr Zustand kaum länger zu verbergen war … Der Plan für die folgenden Monate war entworfen. Bis zum Frühsommer wollte Georg sich mit Anna im Auslande aufhalten, dann sollte in der Umgebung von Wien ein Landhaus gemietet werden, so daß in der schwersten Zeit die Mutter nicht fern wäre und das Kind ohne Schwierigkeiten in der Nähe der Stadt in Pflege gegeben werden konnte.29

      Die Realität war hier Pate gestanden. Schnitzlers große Liebe Marie Reinhard wurde 1897 schwanger. Eine Ehe kam für ihn offensichtlich nicht in Betracht und Schnitzler suchte daher eine Wohnung auf dem Land, wo seine Geliebte die Geburt abwarten konnte. Das Kind, ein Sohn, kam nach mehrtägigen Wehen tot zur Welt. Marie Reinhard starb zwei Jahre später an einem Blindarmdurchbruch.

      Auch als seine Geliebte Olga Gussmann nach zweijähriger Beziehung schwanger wurde, dachte er nicht an Heirat. Sie verlor das Kind, wurde allerdings erneut schwanger. Wieder suchte Schnitzler – wie bereits zuvor bei Marie Reinhard – Quartier auf dem Land, wo sie die Geburt des Kindes fern vom Wiener Tratsch erwarten konnte. 1902 wurde Sohn Heinrich geboren, doch erst ein Jahr später am 26. August 1903 heiratete er Olga auf ihr Drängen hin.


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