Ardistan und Dschinnistan. Karl May

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Ardistan und Dschinnistan - Karl May


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      »Ja. Man kann ihn bis hinauf verfolgen.«

      »Aber dort hat er kein Wasser mehr?«

      »Nein, keinen Tropfen.«

      »Ich vermute, daß Eure Hauptstadt an ihm liegt?«

      »Du vermutest richtig. Unser Land hat keine Berge, keine Felsen, keine Steine. Wir können keine Mauern bauen, um uns zu schützen. Nur unser Gottestempel und der Palast des Scheiks sind von Stein. Das Material hierzu wurde vor langer, langer Zeit aus Ardistan geholt. Damals bekam nämlich jeder Ussul, der dorthin reisen wollte, nur dann die Erlaubnis dazu, wenn er sich verpflichtete, einen so großen Stein mitzubringen, als ein Pferd ihn tragen konnte. Auf diese Weise sind wir zu dem Mauerwerk für die beiden Gebäude gekommen. Du wirst hierüber lachen?«

      »O nein. Dieses Verfahren ist mir bekannt.«

      »So tut man dasselbe auch bei Euch?«

      »Ja; jedoch auf anderem Gebiete. Jede Wissenschaft und jede Kunst holt da ihr Fundament und ihre hervorragenden Bauten aus dem nächst höheren Gebiete. Ganz dasselbe ist es auch mit jedem einzelnen Geisteswerk. Es ist ein Weltgesetz, daß allüberall der Ussul das, was er nicht besitzt, obgleich er es braucht, aus Ardistan oder gar aus Dschinnistan zu holen hat. Aber Du wolltest von der Lage Eurer Residenz sprechen! Wie heißt die Stadt?«

      »Ihr Name ist Ussulia. Sie ist sehr groß. Weil wir sie nicht durch Mauern decken konnten, so mußten wir sie durch das Wasser schützen. Darum wurde sie an den Strom gebaut, und darum wurde viele Jahre lang das Erdreich ausgehoben, um ihn zu zwingen, nicht nur mitten durch die Stadt, sondern auch um sie herum zu gehen. Außerdem rahmt sich jeder Besitzer das Land, das ihm gehört, durch tiefe Gräben ein. So ist fast jedes Haus eine Festung zu nennen, welche die Tschoban, wenn sie kommen, erst einzunehmen haben, ehe sie sagen können, daß sie sie besitzen. Außerdem liegt im Osten und Westen der eigentlichen Stadt je ein großer See, die beide mit in ihren Bereich gezogen sind. Da gibt es viele, viele Wohnungen, teils an das Ufer, teils in das Wasser gebaut. Die Bewohner verkehren nur schwimmend oder in Kähnen miteinander, und wenn letztere versteckt oder ganz fortgeschafft worden sind, so würde der Besitz der Stadt für die Tschoban doch unnütz sein, weil sie nicht schwimmen können. Du hast ja gehört, daß sie meinen, wenn sie schwimmen sollten, so hätte Allah ihnen Flossen und Schwimmhäute gegeben!«

      Nach dieser Beschreibung mußte ich mir die Ussul als Pfahlbauern denken, und es stellte sich später allerdings heraus, daß sie es wirklich waren. Es war bei ihnen alles für den Aufenthalt am oder im Wasser eingerichtet, auch ihre Gestalt, ihre Stark-und Fettleibigkeit, ihre ganze Lebensweise. So ging es auch ihren Pferden. Zwar soll man den Menschen nicht mit dem Tiere vergleichen, aber alle diese guten, unbeholfenen Menschen schienen mir sowohl innerlich wie auch äußerlich mehr oder weniger mit Smihk, dem Dicken, verwandt zu sein.

      Der Ritt verlief während des ganzen Tages für mich und Halef im höchsten Grade interesselos. Es geschah nichts, was uns beschäftigen konnte. Jeder Abweg aus der Richtung, auch der kleinste, wurde vermieden und jeder Erregung wich man aus. Ich sah, wie die Ussul vor allen Dingen ihre Bequemlichkeit liebten. Solche Menschen und solche Völker pflegen aber dann, wenn sie einmal aus ihr aufgerüttelt worden sind, viel schwerer wieder zur Ruhe zurückzukehren.

      Nur einmal gab es eine Art von Szene, aber auch nicht äußerlich, sondern nur innerlich. Das war, als man sich bemühte, mir eine Beschreibung der Stadt zu geben. Man schilderte den Tempel, den Palast, die Straßen und Gassen, die freien Plätze und die wichtigsten Gebäude. Unter diesen letzteren wurde auch das Syndan genannt und mir beschrieben. Gegenwärtig war der gefährlichste unter den Gefangenen ein Wahnsinniger, der zugleich auch räudig war und der Ansteckungsgefahr wegen von allen Menschen abgesondert gehalten werden mußte. Der Wahnsinn fordert auf alle Fälle unser ganzes Mitgefühl heraus, und von einer derartigen Räude, die kein Aussatz war, hatte ich noch nie etwas gehört. Daher erkundigte ich mich nach diesem Gefangenen mit viel größerem Interesse, als ich den übrigen Gegenständen der Unterhaltung gewidmet hatte.

      »Gibt es bei Euch einen Arzt, der es versteht, derartige Krankheiten richtig zu behandeln?« fragte ich, indem ich mich unbefangener stellte als ich war.

      »Natürlich gibt es ihn!« antwortete der Sahahr in selbstbewußtem Tone.

      »Den muß ich kennen lernen!« sagte ich.

      »Du kennst ihn schon!« versicherte er.

      »Wieso?«

      »Ich selber bin’s!«

      »Glaubst Du, ihm helfen zu können?«

      »Nein. Diesem Dschirbani kann nicht geholfen werden. Er wird an der Räude sterben. Und auch sein Wahnsinn ist unheilbar. Sein Wahnsinn wächst, und die Räude frißt ihn auf. Er hat schon fast sein ganzes Haar verloren. Man hat weiter nichts zu tun, als ihn streng abzusondern, damit seine Krankheit nicht auf andere übergeht.«

      »In welcher Weise äußert sich sein geistiges Leiden?«

      »Darin, daß er alles anders macht, als wir.«

      »Hm!« brummte ich, und Halef lächelte. Da konnte man wohl sehr Vieles anders machen, ohne grad irr im Kopf zu sein!

      »Auch denkt er ganz anders als wir,« fuhr der Sahahr fort. »Er sagt es zwar nicht, aber man sieht es ihm an, daß er sich einbildet, klüger zu sein, als andere Leute. In der Religion, in der Geographie, in der Weltgeschichte, in der Kunst, ein Land und den darin wohnenden Menschenstamm zu regieren, hat er seine eigenen Ansichten. Er spricht nicht davon, aber er lehrt sie, indem er sie befolgt, indem er nach ihnen lebt und handelt. Das ist das Gefährlichste, das Allergefährlichste, was es gibt! Darum sperren wir ihn ein! Denn wer ihn sieht und ihn beobachtet, der läßt sich von ihm täuschen, gewinnt ihn lieb und handelt so wie er. Und das ist die schlimmste Art des Wahnsinns, weil er ansteckend wirkt!«

      »Weißt Du, woher er solche Gedanken nimmt? Hatte er einen Lehrer?«

      Bei dieser Frage wurde er verlegen.

      »Einen Lehrer eigentlich nicht,« antwortete er. »Weißt Du, was ein Hamaïl ist?«

      »Ja. Das ist ein Kuran, der aus Mekka stammt und den man als Andenken an die Pilgerfahrt nach dieser heiligen Stadt an einer Schnur um den Hals trägt.« Daß ich selbst einen hatte, sagte ich ihm nicht.

      »Das ist richtig,« fuhr er fort. »Ein solches Hamaïl hat der Dschirbani. Aber dieses Buch an seinem Halse ist kein Kuran. Ich habe ihn einmal gebeten, hineinschauen zu dürfen, und er erlaubte es mir. Da stand die Überschrift:

      >Werde Mensch; du bist noch keiner!<

      Ist das nicht wahnsinnig? Ist das nicht verrückt? Und als ich ihn fragte, in wiefern wir noch keinen Menschen seien, wollte er mir weißmachen, daß in jedem Menschen gleich von Geburt an ein Tier stecke, welches man entweder totschlagen oder verhungern lassen müsse, wobei der von ihm befreite, gut, edle Mensch dann übrig bleibe. Wenn das kein Wahnsinn ist, so gibt es überhaupt keinen!«

      »Könnte es nicht doch etwas anderes sein?« fragte Halef.

      »Nein! Unmöglich! Ein Tier im Menschen! Bedenke doch! Ich will es Dir an einem Beispiele erläutern: Du bist Hadschi Halef Omar, der berühmte Scheik der Haddedihn, und man sagt von Dir, daß Du einen Vogel, einen Hund, einen Affen in Deinem Innern habest. Wie würdest Du Dich dazu verhalten?«

      »Sehr ruhig. Es würde mir ganz und gar nicht einfallen, es in Abrede zustellen, denn unmöglich ist es nicht. Ich sehe vielmehr, daß noch ganz andere, viel größere Wunder geschehen.«

      »Welche?«


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