Faust & Helena. Claudia Schmölders

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Faust & Helena - Claudia Schmölders


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Weltreiches noch unter Alexander dem Großen und lange danach auch im Römischen Reich. Die alte Sprache trug das identitätsbildende Narrativ des Volkes und einst real existierenden Landes, nach dem sich auch eine neugriechisch sprechende Iphigenie sehnen mochte. Goethes Stück wurde also 1818 von einem jungen Studenten namens Papadopoulos übersetzt. Aber wer konnte dieses Griechisch im neuen Land schon sprechen, verstehen oder schreiben? Trotzdem war die Einsetzung der Katharevousa das Gebot der Stunde, denn tatsächlich brach der schärfste Kritiker der soeben mühsam errungenen Staatlichkeit genau in diese offene Flanke. Zielgenau im Jahr 1830 veröffentlichte ein Südtiroler Historiker eine Schmähschrift gegen das zeitgenössische Griechenland in Gestalt einer linguistischen Untersuchung. Jakob Philipp Fallmerayers »Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters: ein historischer Versuch« begann mit folgenden Sätzen: »Das Geschlecht der Hellenen ist in Europa ausgerottet. Schönheit der Körper, Sonnenflug des Geistes, Ebenmaß und Einfalt der Sitte, Kunst, Einfalt, Stadt, Dorf, Säulenpracht und Tempel, ja sogar der Name ist von der Oberfläche des griechischen Kontinents verschwunden […] Denn auch nicht ein Tropfen ächten und ungemischten Hellenenblutes fließet in den Adern der christlichen Bevölkerung des heutigen Griechenlands. Ein Sturm, dergleichen unser Geschlecht nur wenige betroffen, hat über die ganze Erdfläche zwischen dem Ister und dem innersten Winkel des peloponnesischen Eilandes ein neues, mit dem großen Volksstamme der Slaven verbrüdertes Geschlecht von Bauern ausgegossen. Und eine zweite, vielleicht nicht weniger wichtige Revolution durch Einwanderung der Albanier in Griechenland hat die Szenen der Vernichtung vollendet.«

      Wen also würde ein deutscher Faust im Athen des Jahres 1832 in den Armen halten, überhaupt welche Frau wäre wirklich Griechin mit hellenischem Stammbaum? Grausamer als mit Fallmerayers Worten konnte man die desaströse Vertreibung der Helena aus den Phantasien deutscher Philhellenen nicht beschreiben. Ob der alte Goethe jemals davon erfuhr? Es ist nicht bekannt.

      Fallmerayer hatte in längeren Reisen durch das Land vor allem Namenkunde betrieben, geographisch wie sozial, und dabei eine völlige Dominanz der slawischen Sprachen festgestellt. Seine gehässige Formulierung galt der idealistischen Emphase nicht nur von Leuten wie Adamantios Korais, sondern eben auch der ganzen philhellenischen Begeisterung in Bayern, die Fallmerayer in München, wo man ihm eine Professur überlassen hatte, aus nächster Nähe kennengelernt hatte. Auch wenn die Forschung inzwischen fast alles widerlegt hat, was der Professor im Brustton der Überzeugung behauptet hatte, seine brutal rassistische Auslassung sollte nie wieder aus dem Magazin der Griechenkritiker wie auch der Eugeniker verschwinden. Im Gegenteil, sie gewann mit der Epoche Darwins immer mehr Fahrt, um spätestens 1941 in den Köpfen der deutschen Wehrmacht und schließlich auch sinngemäß bei Hitler zu landen.

      Gespenstisch daran war nicht zuletzt, dass die Tirade einen gewissen Vorlauf mitten aus der innigsten literarischen Liebeserklärung der Deutschen besaß. Schon 1810 sprach der Geographielehrer von Schillers Söhnen, Friedrich August Ukert, in seinem landeskundlichen Werk über das Griechenland seiner Zeit von »den entarteten Nachkommen« der Hellenen, die er erforscht habe, »um zu sehen, ob das gesunkene Geschlecht, das mit so vielen fremden Völkern vermischt ward, so lange unter dem Druck roher und harter Beherrscher seufzte, noch den alten Griechen ähnlich zu nennen sei«. Freiheitliche Hoffnungen hatten Ukert zu seinem Werk getrieben, dessen liebevolle Detailfreude damals unübertroffen war; wer es las, konnte sich in Griechenland zuhause fühlen. Für ein idealistisches Publikum gespenstisch musste aber auch schon der Vorgänger dieser Meinungsschmiede sein. Es war ausgerechnet Hölderlin, der schon ein Dutzend Jahre vor Ukert seinen Hyperion sagen lässt: »Ich will, sagt ich, die Schaufel nehmen und den Kot in eine Grube werfen. Ein Volk, wo Geist und Größe keinen Geist und keine Größe mehr erzeugt, hat nichts mehr gemein, mit andern, die noch Menschen sind, hat keine Rechte mehr, und es ist ein leeres Possenspiel, ein Aberglauben, wenn man solche willenlose Leichname noch ehren will, als wär ein Römerherz in ihnen. Weg mit ihnen! Er darf nicht stehen, wo er steht, der dürre faule Baum, er stiehlt ja Licht dem jungen Leben, das für eine neue Welt heranreift. Alabanda flog auf mich zu, umschlang mich, und seine Küsse gingen mir in die Seele.«

      Wenigstens gab es nicht nur den griechischen Aufrührer Alabanda in diesem Roman, sondern eben auch eine Diotima. Mit ihr erinnerte Hölderlin namentlich an die einzige und überragende weibliche Figur aus den Dialogen des Sokrates, wo sie die mystische Theorie der Liebe erläutert – und nun also auch Hyperion zur Nächstenliebe auffordert: »Ich bitte, dich, geh nach Athen hinein, noch einmal, und siehe die Menschen auch an, die dort herumgehn unter den Trümmern, die rohen Albaner und die andern guten kindischen Griechen, die mit einem lustigen Tanze und einem heiligen Märchen sich trösten über die schmähliche Gewalt, die über ihnen lastet – kannst du sagen, ich schäme mich dieses Stoffs? Ich meine, es wäre doch noch bildsam. Kannst du dein Herz abwenden von den Bedürftigen? Sie sind nicht schlimm, sie haben dir nichts zu leid getan. Was kann ich für sie tun, rief ich. Gib ihnen, was du in dir hast, erwiderte Diotima …«

      »Hyperion«, dieser Briefroman über den allerersten griechischen Befreiungskampf, erschien in zwei Bänden zehn Jahre nach der Französischen Revolution. Napoleon war Erster Konsul geworden und unterwegs zum Kaisertum. Mit der historisch viel älteren Szene des Romans erinnerte Hölderlin an die Seeschlacht von Tschesme im Auftrag Katharinas, unter Leitung des Grafen Orlow 1770. Zwar besiegten damals die Russen die Türken, aber der Aufstand im Land der Griechen misslang – und dieses Misslingen hielt der Roman nun auch seiner eigenen Gegenwart vor. Napoleons Aufstieg bedeutete das Ende der Freiheit in Frankreich wie auch in Deutschland, dem der wohl schneidendste Satz des Romans galt: »Es ist ein hartes Wort und dennoch sag’ ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossne Lebensblut im Sande verrinnt?«

      Hölderlins Roman wurde trotz aller Liebe zum Traumvolk nicht in die neugriechische Katharevousa übersetzt. Der einzige Grieche, der dazu fähig gewesen wäre, Rigas Velestinlis, wurde 1798 hingerichtet; und als es 1832 endlich einen Staat mit kulturellen Ambitionen gab, hatte anderes Vorrang.

      Fallmerayers Tirade empörte jedenfalls das gesamte philhellenische Feld. Im Nu machten die Sätze die Runde, bis hin zu Ludwig I., der dem Autor die Professur entzog. Auch die Griechen selber protestierten und bestärkten ihre Forschungen zur byzantinischen Kontinuität des Hellenentums. Eine der herausragenden und beispielhaften Figuren in dieser Gesellschaft war der Theologe Theoklitos Farmakides. Nach einem Studium in Istanbul, Jassy und Bukarest wurde er 1811 geweiht und dann nach Wien geschickt, wo er bis 1818 als Priester wirkte. Hier lernte er Latein, Französisch und Deutsch, wurde Mitglied der Filiki Eteria und Mitherausgeber der Zeitschrift »Hermes Ho Logios«, einem Sprachrohr von Adamantios Korais. Damit war Farmakides ein entschiedener Verteidiger der Katharevousa. Am griechischen Aufstand nahm er ab 1821 teil; als Mitglied der ersten Nationalversammlung wurde er ab 1825 Herausgeber der »Allgemeinen Zeitung von Griechenland«, dem späteren Amtsblatt der Regierung und unter Otto I. treibende Kraft bei der Synode von 1833. 1837 erhielt er den Lehrstuhl für Theologie an der neuen Universität Athen. Zweifellos kannte er das Pamphlet des Griechenfeindes Fallmerayer, und womöglich war es auch Thema des Unterrichts.

      Unter seinen Studenten muss damals jedenfalls ein gewisser Theodorus Vimbos aus Athen gewesen sein, später Bischof dortselbst und Erzbischof von Mantineia. Im Jahr 1856 verdiente sich Vimbos noch Geld als Sprachlehrer vorübergehend in Petersburg. Unter seinen Schülern war ein prominenter deutscher Geschäftsmann, der seit Ende des Krimkrieges als reichster Mann der Petersburger Börse galt. Er hieß Heinrich Schliemann – und der Moment, in dem er den jungen Vimbos traf, war schicksalsträchtig. Ihn, den eingefleischten Geschäftsmann, hatte nämlich nach eigener Auskunft eine unerhörte Sprachpassion erfasst. Fast verzweifelt schrieb er im Dezember 1856 seiner Tante Magdalena nach Kalkhorst: »Wissenschaften und besonders Sprachstudium sind bei mir zur wilden Leidenschaft geworden, und jeden freien Augenblick darauf verwendend ist es mir gelungen, in den zwei letzten Jahren noch die polnische, slavonische, schwedische, dänische sowie im Anfang d. J. die neugriechische Sprache fertig zu erlernen, so daß ich jetzt 15 Sprachen geläufig spreche u. schreibe. Die furchtbare Passion für Sprachen,


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