Die Farben meines Lebens. Arik Brauer

Читать онлайн книгу.

Die Farben meines Lebens - Arik Brauer


Скачать книгу
Tod meiner geliebten Frau zur Folge. Wir wachten morgens zeitig auf und blinzelten in das Licht des jungen Tages, als plötzlich unser Loch mit einer breiigen Masse zugestopft wurde. Ich stürzte mich sofort gegen den klebrigen Brei, um einen Ausgang ins Freie zu erzwingen, aber ein weiterer Stoß von außen trieb die rasch härter werdende Masse so tief ins Loch, dass dieses fast zur Gänze gefüllt war und wir keine Bewegungsfreiheit mehr hatten. Dicht aneinander gepresst dämmerten wir einige Wochen vor uns hin, dann musste meine Frau entbinden, aber es gab für die zahlreichen Eier keinen Platz. Die Situation schien aussichtslos. Alles drehte sich natürlich um das Wohl der Eier, und ich machte meiner Gattin den Vorschlag, sie möge mich auffressen, um erstens Platz für die Eier zu schaffen und zweitens ihre eigene Überlebenschance zu vergrößern. Sie sprach kein Wort, aber den Blick ihrer Augen werde ich nie vergessen. Als ich am nächsten Morgen in der Dunkelheit nach ihr tastete, durchfuhr ein eiskalter Schauer meine Seele. Mein Herz blieb stehen, und ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Meine Frau hatte, um für ihre Nachkommen Platz zu schaffen, sich selber teilweise aufgefressen.“ Wanz unterbricht laut schluchzend seine Schilderung. Alle Anwesenden weinen und halten einander an den Händen.

image

      Nach langer Pause fährt Wanz fort: „Sie hatte sich geopfert, und meine Pflicht war es nun, die heiligen Eier zu retten. Ich verspeiste weinend den Rest meiner geliebten Gattin, um die Eier besser lagern zu können, und verfiel in einen scheintotartigen Schlaf. In diesem Dämmerzustand verbrachte ich fünfzehn Jahre. Von Zeit zu Zeit, wenn ich zu Besinnung kam, drehte ich die Eier um, damit sie durch die lange Lagerung keinen Schaden erleiden mochten. Es war im Frühjahr, als ich von lauten Schabgeräuschen geweckt wurde. Der Lärm wurde stärker, kam näher, und plötzlich wurde die Vermauerung aufgerissen und Licht fiel in das Loch. Jetzt galt es, kühn und blitzschnell zu reagieren. Ich packte alle Eier mit meinen zahlreichen Beinen und warf mich mit einem Sprung, der auch einem Floh Ehre gemacht hätte, weit in die Luft und fiel aufs Bett. Schon stürzte ein Menschenungeheuer mit erhobenem Besen herbei, aber es gelang mir, mit allen Eiern in einer Ritze zu verschwinden, während der Besen auf das Bett donnerte, welches unter der Wucht des Schlages krachend zusammenbrach. Bald musste ich feststellen, dass ich völlig allein in der Welt war. Es gab keine Wanzen mehr, sosehr ich auch suchte. Aber der liebe Wanzengott hatte sein Volk nicht ganz vergessen, und nach einigen Wochen kroch aus den Eiern eine fröhliche Bande gesunder, kleiner Wanzenkinder. Diese, meine lieben jungen Leute, wurden eure Stammeltern. Ich aber habe meine geliebte Frau auf dem Gewissen und werde diese Last auf meiner Seele tragen bis in den Tod.“ Da meldet sich eine Stimme aus dem Hintergrund: „Dich, Vater Wanz, trifft keine Schuld, vielmehr bist du der Held und Retter deiner Gemeinschaft.“ Es ist ein Gast aus dem Nebenhaus, der da spricht, selbst ein Stammvater und König, der gute freundschaftliche Beziehungen zur Gemeinschaft pflegt. Er fährt fort: „Von einer Ahnin wurde mir berichtet, dass vor zirka fünfzehn Jahren eine Katastrophe über euer Haus hereinbrach. Die sadistische Menschin, die schon jene dumme, aber teuflische Idee mit den Petroleumgefäßen hatte, engagierte eine Firma, die das ganze Haus mit Giftgas vollpumpte. Das Wanzenvolk verkroch sich verzweifelt in die geheimsten Ritzen und Löcher, aber das Gas drang überall ein und der Tod ereilte jeden. Die Schreckenskunde wurde auch bei uns gehört, und es herrschte Trauer um den vernichteten Wanzenstamm, auch waren wir in Angst und Panik vor etwaigen weiteren Aktionen dieser Art. Zum Glück war die Giftgasmethode den Menschenungeheuern in unserem Haus offensichtlich zu teuer, und so kam es bei uns nur zu sporadischen Pogromen. Euer Stamm aber war nicht ganz tot. Ein letztes schwaches Lebenslicht brannte noch unerkannt in dem vermauerten Nagelloch. Dein weiser Entschluss, Vater Wanz, und die Opferbereitschaft deiner edlen Gattin haben der Welt dein Wanzengeschlecht erhalten.“

      Der Gast reicht Vater Wanz die Hände und macht eine tiefe Verbeugung vor ihm. Das kleine freche Mädchen stimmt mit hellem Organ die Wanzenhymne an, alle fallen ein und tanzen im Kreis um Vater Wanz herum. – Manchmal kann man wirklich stolz darauf sein, Wanzenblut in den Adern zu haben.

       Der Chef

      Wer als Kind Mitglied einer Bubenbande war, kann ohne falsche Illusionen ins Erwachsenenleben treten. Die Gesetze dort sind einfach und hart. Die Stärkeren sind die Herren, die Schwächeren (Jüngeren) deren Sklaven. Jeder Herr hat seinen Sklaven, der von ihm aus Langeweile gefoltert, aber gegen andere beschützt wird. Beispiele für beliebte Foltermethoden: Kanalzuzeln (das Opfer wird mit dem Gesicht nach unten an ein Kanalgitter gebunden und angepisst), Hartnussen (ein Draht wird um den Kopf des Sklaven gebunden und mit einem Nagel zugedreht), Gwaschtn (der Sklave wird mit dem giebelförmigen Deckel einer Schotterkiste eingezwickt, auf die sich der Herr draufsetzt), frisch wickeln (es werden Brennnesseln in die Unterhose des Opfers gestopft). Je bedeutender der Herr, umso arrivierter auch sein Sklave. Der Chef der Bande vom Ludo-Hartmann-Platz war ein unumstrittener Herrscher. Sein Name war Simsanreut, ein alter Bauernname aus der Steiermark. Mit der Polizei hatte er schon zu tun gehabt, und er hatte auch schon ein Jahr in der grausamen Besserungsanstalt in Kaiserebersdorf verbracht, was ihm natürlich einen Glorienschein verlieh. Er war keineswegs der Stärkste, hatte aber herausgefunden, dass es genügt, so zu tun als sei man der Stärkste, um die Menge zu beherrschen. Sein Sklave hatte ebenfalls eine Sonderstellung und zwar aufgrund einiger bemerkenswerter Fähigkeiten. So konnte er beispielsweise lebensnahe Karikaturen mit Kreide auf den Asphalt zeichnen. „Brauer-Burli zeichne den Greißler, wie er grad scheißt!“, oder „Brauer-Burli sing Bananen-Zitronen!“ – und der Sklave zeichnete und sang zur Ziehharmonika, die der Chef recht gut zu spielen verstand. Im Baumklettern war der Kleine einsame Spitze und es wurden bei besonders glatten Stämmen oft Wetten abgeschlossen, die von ihm respektive von seinem Herrn immer gewonnen wurden. Er war auch ein ausgezeichneter Läufer und wurde bald der „Stänkerer“ der Bande. Stänkerer ist ein gefährliches, aber ehrenvolles Amt, eine Art Dschahid (Selbstmordterrorist) im Gassenbubenformat. Der Stänkerer schleicht sich zum Beispiel in den Märzpark, klettert dort auf die öffentliche Toilette und schreit aus vollem Halse: „Märzpark-Buben, es Volltrotteln!“ Daraufhin rottet sich die Märzpark-Bande zusammen. Für den Stänkerer sind sie wie Menschen von einem anderen Stern, grässliche Ungeheuer mit messerscharfen Fingernägeln und im Wind fliegenden, meterlangen Rotzglocken. Er steht aber kühn auf dem Dach der öffentlichen Toilette, das Kapperl mit dem Schirm windschlüpfrig nach hinten gedreht, und singt mit weithin schallendem Knabensopran: „Kummt’s zu einer Rauferei, haun mia euch die Goschen ei!“ Dann ein Viermetersprung in die Wiese und in rasendem Lauf die Neumayrgasse hinunter – noch flüchtend ein hehrer Held, eine gloriose Symbiose von König David und Siegfried –, knapp hinter ihm die vor Wut schnaubende Meute der Märzpark-Monster. Da stürzen sie aus allen Ecken hervor, die kampfgestählten Recken vom Ludo-Hartmann-Platz. Gekämpft wird mit Riemen, Fahrradketten, Stöcken, Fäusten und Füßen. Dann ein durchdringender Schrei: „Polizei!“ Das Auftauchen der Polizei verändert die Szene schlagartig. Die gemeinsame Flucht macht Feinde zu Brüdern, man zeigt einander Verstecke in Hinterhöfen und Durchhäusern und vollführt miteinander Ablenkungsmanöver, um in Fallen geratenen Brüdern zu helfen.

      Als die Naziarmee in Österreich einmarschiert war, kam auch bald der so genannte bayrische „Hilfszug“ mit Lebensmitteln für die ausgehungerte Wiener Bevölkerung der Randbezirke nach Ottakring. Rosswurst gratis! Wer wollte da nicht „Heil Hitler“ rufen! Jenseits der Rosswurst hatten die Gassenbuben mit dem Regime aber bald Probleme. Dass ein Hitlerjunge im gleichen Alter einem sagt, was man tun soll, wie man stehen, gehen und marschieren soll, das hat der Halbstarke vom Platz gar nicht gern. Besonders die Frage des Haarschnitts war ein heikler Punkt im Verhältnis der Halbstarken zum NS-Regime. Eines Tages kam der Sklave des Chefs in den Park, mit einem gelben Stern auf der Brust. Daraufhin ereignete sich folgende tief schürfende Diskussion über die „Judenfrage“: „Wieso ist der Bua a Jud, wann a kei bogene Nosen hat?“ „Es gibt a Juden mit grade Nosen, du Trottel.“ „Und was is, wann ana a bogene Nosen hat und er is gar kei Jud?“ „Dann bieg ma eam die Nosen aufe.“ Allgemeines Gelächter. „Aber alle Juden san Gfraster und ghörn in die Goschen ghaut.“ Allgemeine Zustimmung. „Aber unsa Jud kann ja nix dafür, dass er a Jud is.“ Allgemeine Zustimmung. Trotz dieser Konklusion, basierend auf der Erkenntnis, dass Gfraster ja nichts dafür können, dass sie solche sind, war die Gassenbubenkarriere des Sternträgers beendet, da die Parks


Скачать книгу