Mein Leben für Amazonien. Erwin Kräutler

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Mein Leben für Amazonien - Erwin Kräutler


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Ernst schon in dem Sinne, dass ich Aufgaben ernst nehme. Aber nicht in dem Sinne, dass ich mit einem finsteren Gesicht herumlaufe. Das liegt mir nicht. Ich habe in Amazonien viel gelernt. Die Leute sind zwar arm und voller Sorgen, aber sie können dennoch herzhaft feiern und lachen und Witze erzählen. Sie machen sogar Witze über ihre eigenen Sorgen. Wenn die Leute auf mich zukommen, mich anlachen und umarmen, wie könnte ich da finster dreinschauen?

      In der zweiten Klasse Gymnasium hat der Lateinlehrer beim Elternsprechtag zu meiner Mutter gesagt: Der Erwin sitzt da und träumt vor sich hin und weiß nicht einmal, warum er in der Bank sitzt. Er ist irgendwo, nur nicht bei der Sache. Schon mein Heimatpfarrer meinte, ich sei ein Träumer. Ja, ich träume immer noch! Und zwar von einer gerechten, geschwisterlichen, solidarischen Welt. Ohne Träume, ohne Utopien gibt es weder Politik noch Pläne und Wege für eine bessere Zukunft. Träume können auch anstecken. Wer denkt nicht an ein Wort meines verehrten und berühmten Erzbischofs Dom Hélder Câmara (1909–1999): „Wenn einer allein träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, ist das der Anfang einer neuen Wirklichkeit.“

      Jetzt bin ich in einem Alter, in dem ich schon wieder träume, oder vielleicht besser ausgedrückt, fantasiere. Wie wird es wohl sein, wenn ich als Bischof emeritiert bin? Am 12. Juli 2014 ist mein 75. Geburtstag, zu dem ich gemäß Kirchenrecht dem Papst meinen Rücktritt als Bischof einreichen muss. Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauern wird, bis ich einen Nachfolger bekomme. Die regionale Bischofskonferenz hat mich beauftragt, ein Projekt zur Aufteilung des gigantischen Bistums am Xingu in drei Diözesen auszuarbeiten. So kann es sein, dass ich gleich drei Nachfolger bekomme, und käme damit als Bischof mit drei Nachfolgern ins Guinness-Buch der Rekorde.

      Wenn es so weit ist, werde ich vermutlich teils in Brasilien, teils in Österreich leben. Ich werde sicher nicht meine Nachfolger in Altamira beschatten. In Europa bin ich immer wieder zu Firmungen eingeladen in Vorarlberg, Salzburg, Wien, Burgenland. Wenn ich in Koblach bin, könnte ich mir gut vorstellen, dass ich dem Bischof von Feldkirch, Benno Elbs, da und dort zur Verfügung stehe.

      Aber auch in Brasilien habe ich viele Einladungen zu verschiedenen Anlässen. Es sind so viele, dass ich sie gar nicht alle annehmen kann. Diözesen ersuchen mich, Einkehrtage für Laien zu halten. Bischöfe bitten mich, Priesterexerzitien zu orientieren. Ordensgemeinschaften ebenso. Derzeit kann ich höchstens vier oder fünf solche Verpflichtungen pro Jahr annehmen. Sicher werde ich nach der Emeritierung mehr Freiheit, mehr Zeit dafür haben.

      Außerdem sollte ich unbedingt das Archiv in Altamira in Ordnung bringen. Viele Leute wollen auch, dass ich über die Geschichte der Region am Xingu schreibe. Ich habe so viel Material, das gesichtet und geordnet werden muss, und dazu kommen noch meine persönlichen Aufzeichnungen im Zusammenhang mit meinem bischöflichen Dienst, mit vier Mandaten als Präsident des Indigenen Rates der Bischofskonferenz und als Sekretär der Bischöflichen Kommission für Amazonien. Stoff fehlt jedenfalls nicht.

      „Lasst ihn los, er ist unser Bischof!“

      Eine der einschneidendsten Erfahrungen war für mich der Konflikt an der Transamazônica. Schon bald nach der Fertigstellung dieser naturbelassenen Straße in den 1970er Jahren von Ost nach West quer durch Amazonien ist 1982/83 eine Fülle von Problemen der Menschen an der Transamazônica auf mich hereingestürzt. Die Realität ist inzwischen weniger konfliktreich, aber damals war es wirklich grausam, was die Leute erlebt haben. Es kam zu einer Großdemonstration, die nicht ich vom Zaun gebrochen habe, wie die Sicherheitsbehörden von Pará vermutet haben. Aber ich habe die Verzweiflung der Leute verstanden. Seit neun Monaten wurde ihnen der Lohn für die abgelieferte Zuckerrohrernte vorenthalten.

      Am Pfingstmontag, dem 23. Mai 1983, blockierten die Zuckerrohrpflanzer zusammen mit ihren Frauen und Kindern die Transamazônica. Als ich davon erfahren habe, bin ich sofort hingefahren und tagelang dort geblieben, bis ich Fieber bekommen habe. Ich musste am 30. Mai zurück nach Altamira, der Arzt verschrieb mir Infusionen. Aber am 1. Juni informierte mich meine ehemalige Schülerin und nunmehrige Rechtsanwältin Celina Marieta Borges Soares, dass die Militärpolizei im Anrücken sei und Order habe, die Blockade wenn nötig unter Einsatz von Gewalt zu brechen. Noch wackelig auf den Beinen, ließ ich mich von unserem Mechaniker Orlando Bragança zur Straßensperre bei der Brücke am Kilometer 94 fahren. Chico, der Gewerkschaftsführer der Zuckerrohrpflanzer, teilte mir mit, dass der von den Demonstranten auf die Behörden ausgeübte Druck vergebens sei. Die Behörden verlangten die unverzügliche Räumung der Blockade und die Öffnung der Transamazônica.

      Ich nahm das Mikrofon in die Hand und nahm mir angesichts dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit kein Blatt vor den Mund. Ich habe die Leute aber auch angefleht, auf keinen Fall Gewalt mit Gewalt zu erwidern. Es dauerte nicht mehr lange, bis die schwer bewaffnete Polizei auf beiden Seiten der Blockade aufmarschierte und ein Hagel von Tränengasgranaten auf uns niederging. Das Zeug brannte nicht nur in Augen, Mund und Nase, sondern auch auf der Haut. Man hat im Moment das Gefühl, zu brennen. Plötzlich packte mich ein Riegel von Polizist und schleuderte mich in den Dreck, mit dem Gesicht nach vorn.

      Die Polizei war überzeugt, dass ich als Bischof diese Demonstration angestiftet hätte. Ich wurde deshalb vor den versammelten Leuten zusammengeschlagen und festgenommen. Der Major brüllte mich an, ich sei subversiv und hätte die Leute aufgewiegelt. Ich sollte sie lieber beten und gehorchen lehren. Das war einerseits eine Demütigung sondergleichen. Aber plötzlich schrien sie alle, die Frauen, die Männer, die Kinder: „Lasst ihn los, er ist unser Bischof!“

      Der ganze Vorfall wurde anderntags in allen Zeitungen berichtet. Die Polizei war offenbar nicht im Bilde gewesen, dass Journalisten vor Ort waren. Die Brasilianische Bischofskonferenz hat sofort öffentlich für mich Partei ergriffen und meinen Einsatz für die Menschen an der Transamazônica als Aufgabe des Hirtendienstes bezeichnet. Das stärkste Echo kam aus den vielen kleinen Gemeinden, aus ganz Brasilien. Ich habe ganze Ordner von Briefen und Unterschriftenlisten. Einen oder zwei Tage danach erhielt ich einen Anruf vom päpstlichen Nuntius in Brasilia. Für Dom Carlo Furno schien die ganze Affäre alles eher denn mit dem Bischofsamt vereinbar gewesen zu sein. So riet er mir mit deutlich erhobener Stimme: „Geben Sie acht! Geben Sie acht!“ Das war alles.

      Mit dieser Straßenblockade haben die Leute immerhin einen Erfolg erzielt. Am 1. Juni bin ich zusammengeschlagen worden, am 10. Juni haben die Leute ihr Geld für die Zuckerrohrernte ausbezahlt bekommen. Die Menschen haben gespürt, dass ich mich für sie einsetze. Ich habe dann in aller Öffentlichkeit die Frage gestellt: Muss zuerst der Bischof festgenommen werden, damit die Leute zu ihrem Lohn kommen?!

      „Lasst ihn los, er ist unser Bischof!“ – Dieser Ruf der Menschen hat eine tiefe Beziehung geschaffen zwischen dem Volk und dem Bischof. Die Leute hätten auch rufen können: „Lasst ihn los, er ist ein Bischof.“ Nein, sie haben geschrien: „Er ist unser Bischof!“ Das war für mich wie eine zweite Bischofsweihe. Ich war mit 26 Jahren als Priester nach Brasilien gekommen und wurde mit 41 Jahren zum Bischof geweiht. Dass die Leute gerufen haben „Er ist unser Bischof!“, ist mir tief zu Herzen gegangen. Ich habe gespürt, dass das Volk mich angenommen hat, dass ich einer der ihren geworden war. Für mich bedeutet Bischof sein nicht nur für die Leute da zu sein, sondern mehr und mehr einer von ihnen zu werden.

      Ich erinnere mich auch noch sehr gut, wie ich das erste Mal in ein Dorf von Indios kam und kein einziges Wort Kayapó verstand oder sprach. Ich spürte, dass ich ohne ihre Sprache zu sprechen keinen Zugang zu ihnen finden würde. Später, als ich mich dann bereits in Kayapó ausdrücken konnte, waren die Indios unendlich beeindruckt und schenkten mir ihr schönstes Lächeln. Sie haben gespürt, dass ich mich bemüht habe, zu ihnen zu gehören. Es ist ein Glück für mich, dass ich mich mit Sprachen leichttue.

      Die Kayapó sind keine Christen. Aber sie sind immer wieder beim Gottesdienst da. Ich erinnere mich an das Patroziniumsfest in San Felix. Da saßen einige Kayapó in den Kirchenbänken. Ich habe sie beim Gottesdienst persönlich begrüßt, in ihrer Sprache. Das hat sie sehr beeindruckt: Er spricht sogar bei der Messe unsere Sprache! Sie waren zum Gottesdienst gekommen, weil sie mit mir über den Staudamm von Belo Monte reden wollten. Sie hatten erfahren, dass Belo Monte auch Auswirkungen auf ihre Gebiete am Oberlauf des Xingu haben wird.

      Arme


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