Mit Feuer vom Himmel. Ruth Zenkert
Читать онлайн книгу.nicht, wenn einer von beiden verleugnet wird, sondern nur, wenn ich beide in mir und den anderen wahrnehme.
Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Junge leitet sie.
JESAJA 11,6b
Einfühlen, nicht überfordern
Das eigene Leben ist der Weg. Wo stehe ich jetzt? Wo bewegt sich etwas? Wer begleitet mich?
Ruth Zenkert
Ein junger Mann geht zum Rabbi und bittet ihn, sein Schüler werden zu dürfen. Der Rabbi fragt: Liebst du Gott aus deinem ganzen Herzen? Der Junge wird traurig: Nein, leider nicht. Da fragt ihn der Rabbi: Und spürst du Sehnsucht, Gott aus deinem ganzen Herzen zu lieben? Wieder geht der Junge in sich, er antwortet: Das schon, aber im Alltag habe ich so viel anderes zu tun, und bis es Abend wird, bin ich zu müde. Der Rabbi fragt: Hast du die Sehnsucht, die Sehnsucht zu haben, Gott aus deinem ganzen Herzen zu lieben? Da leuchtet das Gesicht auf: Ja, das habe ich! Da legt ihm der Rabbi die Hand auf die Schulter: Das genügt, du bist auf dem Weg!
Zwei Gedanken in dieser Erzählung führen zum Wort Jesu an seine Schüler: »Geht euren Weg, solange ihr das Licht habt, damit euch nicht die Finsternis überrascht!« Die eine Brücke ist das Wort vom Weg. Die Bibel spricht oft davon. Mose blickt zurück auf den Weg, den er mit dem Volk aus der Wüste gegangen ist: »Da hat der HERR, dein Gott, dich auf dem ganzen Weg, den ihr gewandert seid, getragen, wie ein Mann sein Kind trägt, bis ihr an diesen Ort kamt. Bei Nacht geht er im Feuer voran, um euch den Weg zu zeigen, auf dem ihr gehen sollt, bei Tag in der Wolke.« (Deuteronomium 1,31f)
Als den Weg selbst bietet sich Jesus seinen Schülern an. Wenn sie auf ihn schauen und hören, haben sie einen Weg für ihr Leben. Wir erleben Jesus als Pädagogen, der die Schüler führt, sie aber nicht überfordert. Er motiviert jeden Einzelnen, voranzuschreiten, ohne ihm vorzuschreiben, wie schnell und wie groß die Schritte zu sein haben. Entscheidend ist nur, dass er sich müht, ein Ziel zu erreichen. Zerstörerisch wäre es, von einem Schüler ein Ergebnis zu verlangen, das er noch nicht bringen kann. Genial ist der Rabbi, der sich so sehr in den Jugendlichen hineinfühlt, dass er dessen Sehnsucht aufdeckt. Er bestärkt, was im Schüler an Gutem angelegt ist, und verwirft sofort seine eigenen Erwartungen, die dem Schüler in diesem Augenblick noch nicht entsprechen.
Die zweite Brücke der rabbinischen Geschichte führt zum Wort vom Licht. Der Lehrer spendet dem Schüler Licht für seinen Weg. Er bestimmt nicht dessen Weg, sondern macht ihn sichtbar in der Sehnsucht nach der Sehnsucht. Sein Licht bringt das Gesicht des Jugendlichen zum Leuchten, weil sich dieser akzeptiert weiß. Keine Moralkeule: »du sollst«, »du musst«, sondern Segnen: »du bist«, »du kannst«. Jetzt hat er das nötige Licht für den Weg der Liebe, auf dem Weg zu Gott.
Der Ratschlag Jesu lautet: keine großen Sprünge, keine Überforderung, sondern sich behutsam bewegen von der Stelle, an der du stehst. Und zweitens, das Licht nützen, solange es da ist. Es sind glückliche und kurze Zeiten, in denen wir eine faszinierende Lehrerin, einen guten Freund, unsere Eltern haben – und Jesus, der von sich sagt: Ich bin der Weg. Ich bin das Licht.
Das eigene Leben ist der Weg. Wo stehe ich jetzt? Wo bewegt sich etwas? Wer begleitet mich?
Geht euren Weg, solange ihr das Licht habt, damit euch nicht die Finsternis überrascht!
JOHANNES 12,35b
Der Umschwung in einem explosiven Haufen
Liebe kann man nicht befehlen. Doch ich kann den Punkt erkennen, an dem sie sich durchsetzt. Dann strahlt sie aus.
Ruth Zenkert
Bald ist es ein Jahr, dass wir in unser Haus Ilie in Hosman eingezogen sind. Wir – das waren Kathy, die erste Volontärin, und ich. Es gab viel Arbeit mit den zahlreichen Kindern und armen Familien im Dorf. Wir suchten Mitarbeiter und nahmen, ohne lange zu fragen, jeden, der sich meldete. Praktikanten für zwei Wochen, eine frustrierte Frau auf der Flucht vor sich selbst, einen Studienabbrecher, einen arbeitslosen Handwerker. Es gab immer wieder Konflikte wegen der Hausordnung und wegen vieler Kleinigkeiten, die nicht der Rede wert sind. Ziemlich lähmend, auch für unsere Arbeit. Doch bald kamen Rumänen in die Gemeinschaft, die sich leicht in die Lebensbedingungen einfügten und sprachlich keine Probleme hatten. Das Kinderprogramm gewann an Qualität und Disziplin. Immer mehr Kinder gingen in Casa Ilie aus und ein, sie kamen auch außerhalb des Programms. Die Familien begannen, in Haus und Hof mitzuarbeiten. Ein lettischer Student machte Musik mit uns, jeden Abend lernten wir im Hof Roma-Lieder. Neugierige Nachbarn schauten herein und sangen mit. Wir feierten ein »Sommernachtsfest« mit unseren Freunden, einer brachte ein altes Saxophon, ein anderer sein Akkordeon, wieder ein anderer den Speck vom frisch geschlachteten Schwein. Aus dem auseinanderstrebenden Haufen wurde eine Gemeinschaft. Wir hatten große Ziele.
Letzte Woche nahm Genica uns mit ins Nachbardorf Tichindeal, wo sie aufgewachsen ist. Sie zeigte uns am Ende des Dorfes eine Siedlung mit Roma-Familien. Arm und verwahrlost, in jeder Hütte verzweifelte Mütter und viele Kinder. Als wir am nächsten Tag wiederkamen, lief uns ein junger Bursche entgegen. Nicolae, stellte er sich vor. Er hatte sich aus Lehm und Zweigen ein Häuschen gebaut, in das genau ein Bett und ein Regal passten, für sich und seine schwangere 15-jährige Freundin. Nicolae zeigte uns, wo die Ärmsten lebten, sagte, wie viele Kinder sie hätten. So war es für uns Fremde leicht, die mitgebrachten Lebensmittel gut einzuteilen, damit alle genug bekamen. Wir fragten Nicolae, ob er uns helfen wolle. Damit wir uns besser kennenlernen könnten, solle er mitkommen und bei uns wohnen.
Zwei Tage später ging die Tür auf – Nicolae war da. Ein großes Haus, mit fließendem Wasser und Heizung, viele neue Gesichter – das war für ihn eine fremde Welt. Iulian gab ihm Seife und ein Paar Jeans. Sie redeten in ihrem Zimmer die halbe Nacht, jeder hatte eine schwere und spannende Lebensgeschichte. Schon am nächsten Tag merkte ich gar nicht mehr, dass ein Neuer unter uns war, er arbeitete fleißig mit und fühlte sich wohl in der Gemeinschaft. Am Freitag ging er nach Hause. Ich fragte ihn, ob er am Sonntag wiederkommen würde. Selbstverständlich, strahlte er.
Heute waren wir wieder in Tichindeal. Aurel, der Nachbar von Nicolae, hat der Familie im letzten Haus einen Ofen gesetzt. Und wir haben noch einen Mitarbeiter gefunden. Ovidiu will die Häuser renovieren. Einer steckt den anderen an. Einer bringt den anderen mit.
Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.
JOHANNES 13,35
Der Winzer ist Gott
Mit wem bin ich verbunden? Welche Beziehung trägt Früchte? Wer ist in einem Unternehmen so verwurzelt, dass um ihn herum Neues wachsen kann?
Ruth Zenkert
Ein alter Kommunist, eine blutjunge Studienabsolventin mit glitzerbesetzten langen Fingernägeln, die weder mit einem Putzlappen noch mit Computertasten hantieren können, eine ewig Arbeitslose, die dringend Geld für ihre vier kleinen Kinder braucht, ein Manager, der mir versichert, alles zu können, eine Lehrerin, ein junger, dynamischer Ingenieur – das waren die letzten Kandidaten, mit denen ich ein Bewerbungsgespräch für die Leitung unseres neuen Sozialzentrums im Roma-Milieu geführt hatte. Selbst bei den sympathischen und begabten Personen spürte ich, dass es nichts werden könne. Wie soll jemand in einer Umgebung, die ihm völlig fremd ist, ein Projekt aufbauen? Es gibt noch keine Schule, in der man diese Form der Sozialarbeit lernen kann. Wo sollte ich Kandidaten für das Roma-Projekt suchen? Da wurde mir klar: Antoaneta muss die Leiterin werden. Seit zwei Jahren arbeitet sie mit uns. Sie hat im Roma-Milieu Freunde gefunden. Sie versteht, was wir brauchen, wir sind uns nahe im Denken. Sie setzt Initiativen, weil sie selbstsicher geworden ist. Sie lässt sich von mir helfen, wenn sie nicht weiterweiß oder ich es für notwendig halte. Ihr traue ich zu, dass sie mit einem starken Team die vielen Kinder im Zentrum aufnehmen kann, damit sie bei uns eine Heimat finden, lernen, musizieren, ihre jungen Mütter zum Waschen holen; sie kann mithelfen, dass das Haus immer voll Leben sein wird – und dass es nicht