Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess. Marie-Luisa Frick

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Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess - Marie-Luisa Frick


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nicht die einzigen Völker sind, wer sind dann diese anderen (eine Frage, die sich heute im Zusammenhang mit der Suche nach außerirdischer Intelligenz wieder neu stellen könnte)? Stammen diese Geschöpfe von Adam ab, wie wir, oder sind sie eine andere Art Mensch? Wie sind sie entstanden? Wie können wir sicher sein, dass unsere Sitten die besseren sind, wo andere Gesellschaften doch dasselbe von ihren behaupten? Die das größte Verunsicherungspotential aufweisende Frage aber lautete: Wieso haben nur wir Gottes Offenbarung erhalten? Oder ist die Bibel vielleicht gar nicht die einzige oder einzig maßgebliche Mitteilung Gottes? Versuche, historisch-kritische Perspektiven auf die Bibel zu richten, führten bei einflussreichen Gelehrten zur Überzeugung, dass die Widersprüche, Zeitabstände und unklare Autorenschaft biblischer Texte es nicht erlauben, in der Bibel eine universal gültige, in allem verlässliche Botschaft einer Gottheit zu erblicken. Damit löste sich die Verankerung der christlichen und jüdischen Heilsgeschichte.

      Die ideellen und materiellen Schöpfungen des Aufklärungszeitalters sind in weiten Teilen verstehbar als Versuche, auf diesem durch Krisenerschütterungen zerklüfteten Terrain Fundamente zu legen. Das Ringen mit der Herausforderung des antiken skeptischen Pyrrhonismus veranlasste René Descartes zu seinem Cogito ergo sum – dem radikalen Versuch, inmitten eines Ozeans an Ungewissheiten das zu entdecken, das niemals fraglich sein würde. Seine Philosophie wurde damit zu einer Wegbereiterin des modernen Individualismus: Nur das eigene Bewusstsein kann Markstein echter Gewissheit sein. Auch in religiöser Hinsicht ist der auf die unhintergehbare Autorität des Gewissens gegründete Individualismus ein Krisenprodukt, das sich den schier endlosen konfessionellen Konflikten der frühen Neuzeit verdankt. Nur der Einzelne, so ein zentrales Argument John Lockes Toleranzbriefes, ist befugt, die für ihn so folgenschwere Entscheidung zu treffen, in welchen Glauben er sein Heil setzt. In den Reaktionen auf die Destabilisierung politischer Legitimitätstheorien, allen voran mittels der Lehre vom Gesellschaftsvertrag, wird dieser Individualismus neuartige Ansprüche zu begründen helfen: die »natürlichen Rechte« des Menschen. Die Vorstellung, dass es jenseits des gesetzten Rechts und unabhängig von kontingenten politischen Verhältnissen ein natürliches Recht gibt, eine echte, natürliche Ordnung, ist dabei sowohl Kritik am Bestehenden als auch Rückversicherung, dass ungeachtet aller Wechselfälle immer noch irgendwo Orientierung sich anbietet. – Man muss diesen Orientierungspunkt nur erhellen.

      In »der Natur« bzw. im Naturrecht lässt sich ferner eine universale Moral verankern, die auch jene bindet, die ihre Gebote und Pflichten nicht aus der christlichen Offenbarung beziehen, was für die Formulierung erster trans-religiöser Regeln etwa des Krieges und der internationalen Beziehungen entscheidende Anregung liefert. Der Weg zu einer nicht-religiös fundierten Ethik ist damit beschritten.

      Aufklärung im Plural: neue Probleme

      Die Theorien der Toleranz und in weiterer Folge der weltlichen Endziele des Staates als Reaktion auf die Krise multikonfessioneller politischer Gemeinschaften, die Idee eines starken Staates als Reaktion auf die religiösen Bürgerkriege, Grundrechte als Reaktion auf die Krise absoluter Herrschaft: Diese und viele weitere Beispiele unterstreichen die Sichtweise auf Aufklärung als eine reaktive Bewegung und als Abwehr von krisenhaften Erschütterungen, die in Summe in Frage stellen, was der Mensch kann und ist, was er soll, wem er gehört und was er darf.

      Nicht nur bilden sich in der Aufklärung rivalisierende Bewältigungen der multiplen Legitimationskrise heraus, es entstehen auch neuartige, ja verzwickte Problemfelder. Ein Beispiel dafür ist der Konflikt um die Zuerkennung gleicher Rechte. Alle Menschen mögen in metaphysischer Sicht auf irgendeine Weise gleich sein – als Gotteskinder, vernunftbegabte, zu Höherem berufene Wesen –, aber wie gleich sind sie als konkrete physische Wesen – als Mann und Frau, als Schwarze und Weiße – und insbesondere als konkrete (aspirierende) politische Subjekte – als christliche und jüdische Preußen, als katholische und anglikanische Engländer, als ökonomisch Unabhängige und ökonomisch Abhängige? Ein anderes Beispiel ist die Frage religiöser Toleranz, die durch die Säkularisierung des Staates mehrdimensional zu werden beginnt: Wenn Toleranz nicht mehr allein von den Fürsten eingefordert werden muss, sondern von den gegeneinander unduldsamen Bürger*innen, wo muss deren eigene Religionsfreiheit dann ihre Grenzen finden?

      Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert die revolutionäre Prämisse, wonach die Souveränität beim Volk liegt, zunehmend mit Anfragen konfrontiert sieht, wer denn nun aber zum Volk gehört und mit welchen Gründen man etwa die weibliche Hälfte der Menschheit vom Bürgerstatus auszuschließen sich erlaubt? Oder im Fall revolutionär errichteter oder umgestalteter politischer Gemeinwesen, welche Verfassungsordnung nun die beste wäre: eine zentralistische oder föderale (Vereinigte Staaten von Amerika), eine konstitutionell-monarchische oder republikanische (Frankreich und England)? Neuartige Probleme stellten sich auch für das Strafrechtssystem, sobald als Auftrag des Staates der Schutz der natürlichen Rechte des Menschen bestimmt wird: Wie kann Strafe gerechtfertigt werden, ohne diese Rechte zu missachten? Verwirkt der Verbrecher seine Rechte, weil er immer schon einwilligt in die für seine Tat vorgeschriebene Strafe, wenn er den »Gesellschaftsvertrag« schließt? Oder behält er seine Rechte in Teilen und falls ja, in welchen?

      Und wir?

      In diesem Sinne wird die Krise als Nährboden der Aufklärung nicht nur zu einer umfassenden, weite Bereiche des Lebens erfassenden, sondern auch zu einer sich selbst fortpflanzenden Krise. Die Kritik, also das Unterscheiden, Prüfen, Entgegnen, lässt sich schwer wieder einhegen, sobald in relevanten Öffentlichkeiten – von den Salons über die Universitäten bis zu periodischen Zeitschriften – sich eigene Kulturen der Kritik einrichten. Was als Antwort auf die Erfahrungen interpretiert werden kann, dass fast nichts mehr selbstverständlich ist, kann sich ebenfalls nicht von selbst verstehen. Heute sieht man: Wenn wir etwas von der Aufklärung geerbt haben, dann sind es immer auch Probleme, also hier: Fragen, die sich nicht mehr zurücknehmen lassen und die keiner alternativlosen Beantwortung mehr zugänglich sind. Die Akteure der Aufklärung waren keine verschworene Kampfgemeinschaft, sondern in vielem uneins. Auch gingen sie nicht arbeitsteilig an einem gemeinsamen Projekt vor, sondern verfolgten mitunter einander ausschließende Anliegen und konkurrierten um Ansehen und Einfluss. Das Zeitalter der Aufklärung bleibt in dieser Hinsicht undeutlich und eignet sich kaum als autoritative Pauschalreferenz für heutige politische Argumente, ohne dass genau ausgeführt würde, woran genau man sich orientieren soll und vor allem: warum.

      Eine zusätzliche Erschwernis für uns Nachgeborene, die Aufklärung als unvermittelt relevant für zeitgenössische Debatten anzusehen, besteht schlicht darin, dass die kulturellen Bedingungen heute in relevanten Hinsichten andere oder verschärft sind. Enzyklopädien werden nicht mehr in jahrelanger Zusammenstellung von Leitintellektuellen erstellt, sondern in nahezu Echtzeit von losen, anonymen Kollektiven erarbeitet. Nachschlagewerke umfassen auch nicht mehr achtundzwanzig Bände, sondern Informationen in allen erdenklichen Sprachen, die man mit dem besten Willen in zehn Leben nicht studieren könnte. Europäer benötigen heute auch nicht sechs Monate nach Australien, sondern dank moderner Luftfahrt nur einen Tag. Wir haben bis auf die Tiefsee nahezu jeden Winkel dieses Planeten erkundet und uns ins benachbarte Weltall hin ausgestreckt. Wir leben nicht mehr in einer weitgehend dünnbesiedelten Welt mit einer Milliarde Menschen, sondern in der ›vollen Welt‹ und das bedeutet auch: in einer unumkehrbar menschlich markierten (gerodeten, verschmutzten, an tierischen und pflanzlichen Arten ärmer werdenden) Welt. Wir leben, und bald zu großer Mehrheit, in Städten, die die Metropolen des Aufklärungszeitalters aussehen lassen wie Dörfer. Die damals größte Stadt der Vereinigten Staaten von Amerika, Philadelphia, hatte Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr als 50 000 Einwohner. Jeder, der damals gelebt hat, würde durch eine Megacity wie Shanghai oder São Paolo mit ihren über zwanzig bzw. zwölf Millionen Einwohnern irren wie durch eine (Alb-)Traumwelt. Wir haben neue Theorien über die Natur, ihre Elementarteilchen und -kräfte sowie ihre sozial-biologische Evolution und mühen uns gehörig ab, sie alle zusammenzudenken. Und die Datenmengen, die wir jede Stunde produzieren, nicht zuletzt dadurch, dass wir mit ihnen soziale Netzwerkdienste bezahlen, hätte Pioniere der statistikbasierten Staatsverwaltung wie Gottfried Achenwall und Nicolas de Condorcet vermutlich um den Verstand gebracht. Nicht die immer wieder angeführte Scheidelinie zwischen Moderne und


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