Relativitätstheorie und Erkenntnis Apriori. Hans Reichenbach

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Relativitätstheorie und Erkenntnis Apriori - Hans Reichenbach


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wurde damit auf den Spezialfall eines homogenen Gravitationsfeldes zurückgeführt.

      Man erkennt an diesen Überlegungen, was in der Zeitauffassung der speziellen Relativitätstheorie die empirische Grundlage ist. Aber über der Grundlage des Erfahrungsmaterials erhebt sich der tiefe Gedanke Einsteins: daß eine Zeitdefinition ohne eine physikalische Hypothese über bestimmte Ausbreitungsgeschwindigkeiten unmöglich ist. Auch die alte Definition einer absoluten Zeit erscheint nur als Spezialfall dieser Auffassung: sie enthält die Hypothese, daß es eine mit unendlich großer Geschwindigkeit sich ausbreitende Wirkung gibt.

      Wir fassen unsere Überlegungen zusammen. Das Prinzip der Relativität aller Koordinatensysteme, auch nur angewandt auf eine bestimmte Klasse von Koordinaten (nämlich auf gegeneinander gleichförmig bewegte Systeme), und das Prinzip der Nahewirkung lassen die absolute Zeit nur dann zu, wenn eine obere Grenze für die physikalisch erreichbaren Geschwindigkeiten nicht existiert. Beide Prinzipien dürfen wir, in dem bisherigen Sinne des Wortes, mit gutem Recht als apriori bezeichnen. Die Frage der oberen Grenze für die physikalisch erreichbaren Geschwindigkeiten ist aber eine empirische Angelegenheit der Physik. Darum wird auch die Zeitdefinition von empirischen Gründen mitbestimmt, sofern man an dem Prinzip festhält, daß nur der durch Empirie approximierbare Maßstab als Norm aufgestellt werden darf (Prinzip des approximierbaren Ideals). Den verbindenden Gedanken vollzieht dabei Einsteins Entdeckung, daß die Zeit eines Koordinatensystems nur unter Zugrundelegung eines physikalischen Ausbreitungsvorgangs definiert werden kann.

      Nennt man die Forderung der absoluten Zeit ebenfalls ein apriores Prinzip, so wird hiermit der Widerstreit mehrerer apriorer Prinzipien behauptet, genauer die Unvereinbarkeit ihrer gemeinsamen Geltung mit der Erfahrung. Denn die Annahme einer absoluten Zeit impliziert immer, in welcher Form sie auch definiert wird, die Möglichkeit beliebig großer, physikalisch herstellbarer Geschwindigkeiten. Allerdings wird sich der experimentelle Beweis für die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit niemals exakt führen lassen. Aus gewissen Beobachtungen an kleineren Geschwindigkeiten müssen wir schließen, daß die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze ist, z. B. beobachten wir an Elektronen, daß mit Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit die kinetische Energie ins Unendliche wächst. Für die Lichtgeschwindigkeit selbst können wir die Beobachtung nicht ausführen; es handelt sich also stets um eine Extrapolation. Auch der Michelsonsche Versuch ist ein Beweis nur, wenn man besonders ausgeklügelte Theorien zur Rettung des alten Additionstheorems der Geschwindigkeiten zurückweist. Die Extrapolation hat deshalb immer nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Wir wollen den Grundsatz, daß man für ein Erfahrungsmaterial die wahrscheinlichste Extrapolation verwendet, das Prinzip der normalen Induktion nennen. Allerdings verbirgt sich hinter dem Begriff „wahrscheinlichste Extrapolation“ noch eine Unbestimmtheit. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, daß solche Extrapolationen, die zum Widerspruch gegen gewisse allgemeine Voraussetzungen führen, unmöglich sind, also bei der Auswahl der wahrscheinlichsten überhaupt ausgeschieden werden müssen. Es gibt aber Grenzfälle, in denen ein solches Verfahren der Forderung der Evidenz widerspricht. Denken wir uns z. B. die Werte der kinetischen Energie des Elektrons für Geschwindigkeiten von 0–99% der Lichtgeschwindigkeit experimentell bestimmt und graphisch aufgetragen, so daß sie eine Kurve ergeben, die sich bei 100% offensichtlich einer Asymptote anschmiegt. Dann wird wohl niemand behaupten, daß die Kurve zwischen 99% und 100% noch einen Knick macht, so daß sie erst für unendlich große Geschwindigkeiten ins Unendliche geht. In der Tat basiert die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit nach den bisherigen Erfahrungsdaten, den Michelsonschen Versuch eingerechnet, nicht auf einer geringeren Wahrscheinlichkeit als der des geschilderten Beispiels. Wir begnügen uns hier mit einer bloßen Veranschaulichung des Prinzips der normalen Induktion, um seinen aprioren Charakter im Sinne des Evidenzkriteriums aufzuzeigen; und wir werden erst im Abschnitt VI auf die erkenntnistheoretische Stellung dieses Prinzips näher eingehen.

      Wir behaupten also, nach der speziellen Relativitätstheorie, daß die Prinzipien:

       Prinzip der Relativität gleichförmig bewegter Koordinaten

       Prinzip der irreversiblen Kausalität

       Prinzip der Nahewirkung

       Prinzip des approximierbaren Ideals

       Prinzip der normalen Induktion

       Prinzip der absoluten Zeit

      mit den experimentellen Beobachtungen gemeinsam unvereinbar sind. Man kann alle diese Prinzipien mit gleichem Recht apriore Prinzipien nennen. Zwar sind sie nicht alle von Kant selbst als apriori genannt. Aber sie besitzen alle das Kriterium der Evidenz in hohem Maße, und sie stellen grundsätzliche Voraussetzungen dar, die von der Physik bisher immer gemacht wurden. Wir erwähnen diese ihre Eigenschaft nur deshalb, weil damit der behauptete Widerspruch von einem physikalischen zu einem philosophischen Problem wird. Sollte aber unsere Auffassung Widerspruch finden und die Evidenz für einige


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