Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
Читать онлайн книгу.klares Bild zu geben41.
Die Spielzeit der Oper (stagione) war anfangs nur der Karneval (26. Dezember bis 30. März), später kamen noch zwei Spielzeiten (vom zweiten Osterfeiertag bis 15. Juni und vom 1. September bis 30. November) hinzu. An Fürstenhöfen waren natürlich die fürstlichen Geburtstage, Hochzeiten, Besuchsfeierlichkeiten und dgl. zugleich Hauptoperntage. Hier war überdies unter der Leitung der Intendanten das Personal meist seßhafter als an andern Plätzen, wo der Unternehmer (impresario) seine Leute gewöhnlich nur für eine bestimmte Spielzeit verpflichtete. Kleineren Städten endlich, die sich ein eigenes Theater nicht leisten konnten, wurde die Oper durch zahlreiche Wandertruppen vermittelt42.
Aus dem Gesagten erhellt zur Genüge, daß auch diese Operngattung trotz allen hohen Zielen ihrer Schöpfer keineswegs vor dem Verfall geschützt war. Der Versuchungen, ins Äußerliche und Undramatische zu verfallen, waren es allzu viele. Tatsächlich sind ihnen auch Scarlattis nächste Erben, voran L. Vinci (1690–1730) und N. Porpora (1686–1766), erlegen. Nicht als ob es ihnen, besonders Vinci, diesem ungezogenen Liebling der Grazien, an Talent oder an musikalischer Bildung gefehlt hätte: das wird allein durch Vincis glänzende melodische Ader und durch seine meisterhaften Akkompagnatoszenen widerlegt. Was ihnen jedoch abgeht, ist die Selbstverleugnung des echten Dramatikers; sie arbeiten flüchtig und äußerlich und vergreifen sich nur zu häufig im Ton zugunsten volksschmeichlerischer Melodik oder rein virtuoser Wirkung. Auch den opere serie des reichbegabten G.B. Pergolesi (1710–1736)43 und des großen Kirchenkomponisten L. Leo (1694–1744)44, die auch musikalisch ernster zu nehmen sind, fehlt das eigentliche dramatische Rückgrat; bei Pergolesi herrscht ein weicher, mitunter an Mozart gemahnender, bei Leo ein seltsam zurückhaltender, gelegentlich trockener Ton vor. Ein wirklicher Dramatiker erstand der Oper erst wieder in J.A. Hasse (1699–1783)45, dessen ungeheures Ansehen bald auch den von ihm vertretenen Grundsätzen zu allgemeiner Anerkennung verhalf. Er steht insofern durchaus auf neapolitanischem Boden, als der Schwerpunkt der Oper auch für ihn ausschließlich auf dem Gesange beruht. Hasse war in seinen gesamten dramatischen Anschauungen wie kein zweiter Metastasios geborener Bundesgenosse. Das beweist nicht allein sein ausgeprägter Formensinn und die bei allem berückenden sinnlichen Reiz stets aristokratische Schönheit seiner Tonsprache, sondern auch seine Charakterisierungskunst, die sich den oben (S. 180 f.) angeführten Grundsätzen des Dichters vollendet anschmiegt. Ja, es gelingt dem Musiker sogar, manche jener vom Geist der Aufklärung eingegebenen Charaktere Metastasios mit wirklichem, individuellem Leben zu erfüllen. Hasses dramatischer Ernst ist bis in die Seccopartien hinein am Werke, deren charaktervolle Deklamation und Harmonik einen wichtigen Fingerzeig für die auch in dieser vernachlässigten Form beschlossenen Ausdrucksmöglichkeiten geben. Im Verlaufe seines langen Lebens wurde Hasse endlich auch noch von der immer stärker anschwellenden Strömung des risorgimento gestreift, die die Oper durch Wiedereinführung von Chor, Tanz und selbständigen Instrumentalsätzen zu erneuern strebte und schließlich in das Glucksche Musikdrama ausmündete. Vollständig lenkte in dieses neue Fahrwasser allerdings erst Hasses Schule ein, die uns bereits dicht an Mozart heranführt. Diese Meister, zu denen übrigens auch Gluck mit seinen italienischen Opern vor dem "Orfeo" gehört, haben aus den Metastasioschen Texten dramatisch herausgeholt, was überhaupt herauszuholen war; sie haben sich sogar nicht gescheut, bald die Seccopartien zu kürzen, bald Ensembles und Chöre einzufügen, wenn es ihnen das Drama zu erfordern schien. Aber auch die bereits bestehenden Formen beseelt ein neues Leben. Das Secco wird teils von innen heraus in dramatischem Sinne erneuert46 oder, wenn irgend möglich, durch das Akkompagnato ersetzt, so daß große dramatische Szenen entstehen; in den Arien muß die reine Gesangsmelodie häufig der deklamatorischen weichen, und auch harmonisch und instrumental entfaltet sich ein neues Leben. Von den hierhergehörigen Meistern scheiden Dom. Terradellas (1713–1751) und Dav. Perez (1711–1778) für Mozart aus; jener war zu dessen Zeit längst tot, dieser fern in Lissabon. In lebendiger, zum Teil persönlicher Fühlung stand er dagegen mit N. Jommelli (1714–1774), T. Traëtta (1727–1779) und Fr. di Majo (1740–1770). Jommelli und Traëtta sind unmittelbar mit dem deutschen und französischen Geiste in Berührung gekommen, der eine durch seinen Aufenthalt in Wien und Stuttgart, den beiden reformfreundlichsten deutschen Städten, der andere durch seine Tätigkeit für Parma und Wien. Jommelli war der eigentliche Bahnbrecher der neuen Kunst, ein Meister der freien, groß angelegten Szene, des Chores, Ensembles und der dramatischen Orchestermusik, ein Künstler von herbem, oft grüblerischem Ernst, der ihm den Namen des "italienischen Gluck" eintrug47. Aber gerade von ihm ist am wenigsten auf Mozart übergegangen: Charaktere und Kunstanschauungen beider waren allzu verschieden48. Deutlichere Spuren hat dagegen Traëtta bei Mozart hinterlassen, der vielseitigste und phantasievollste Vertreter dieser Richtung49, dem es im Gegensatz zu dem an Metastasio haften gebliebenen Jommelli in seiner "Taurischen Iphigenie" von 1758 (Text von Coltellini, dem Geistesverwandten Calsabigis) sogar gelungen ist, auch textlich bis an die Pforten des Gluckschen Musikdramas vorzudringen. Dramatisch steht Traëtta freilich Mozart so fern wie Jommelli, aber rein musikalisch zog ihn an dieser Kunst doch manches an, namentlich auf den Gebieten des Elegischen50 und des Anmutigen51. Aber Traëtta ist zugleich auch ein Meister der fein stilisierten Volksweise; die Mandolinenkanzonetta der "Feste d'Imeneo" von 176052 mag hier Mozarts halber besonders erwähnt werden. Das führt uns aber auf eine weitere Eigentümlichkeit dieser Periode, die dann in der folgenden noch stärker hervortritt, nämlich den wachsenden Einfluß der Buffooper auf die seria. Er tritt nicht allein in derartigen volkstümlichen Gesängen zutage, sondern vor allem in einer geschmeidigeren Führung der Singstimmen und besonders des Orchesters, in dessen Begleitung sich die kurzen, plastischen Motive mehren, und endlich in den kunstvolleren, bereits auf Einzelcharakteristik abzielenden Ensembles Jommellis.
Am tiefsten hat das jüngste Glied dieser Reihe, di Majo, auf Mozart eingewirkt, freilich auch er nicht als Dramatiker, sondern als Musiker53. Majo, der Italien nie verlassen und sich darum vom dortigen Geschmack niemals so weit entfernt hat, wie z.B. Jommelli, steht auf der Grenzscheide zweier Richtungen. Noch wirkt bei ihm der dramatische Ernst Jommellis deutlich nach, aber bereits kündigt sich auch jener modernere, sinnenfreudigere Geist an, für den Jommelli schon zum alten Eisen gehörte, und es ist sehr bezeichnend, daß gerade diese Seite seiner Kunst auf den jungen Mozart den größten Eindruck gemacht hat. Im Ausdruck des Weichen und Rührenden in allen seinen Abstufungen sind beide auffallend gefühlsverwandt54, und zwar bis in Einzelheiten hinein, wie die weichen, mit chromatischen Zügen durchsetzten melodischen Linien, die gleitenden Sextakkordharmonien u.a. Einige Beispiele aus "Astrea placata", "Ipermestra" und "Eumene55" mögen als Beispiele dienen:
Majo hat aber auch mehr als die übrigen Glieder der Schule Hasses jener moderneren, an der Buffokunst geschulten Orchesterkunst eine Gasse gebrochen. Bei ihm gehen die Instrumente sehr häufig weder mit der Singstimme mehr, noch begleiten sie homophon oder kontrapunktisch, sondern wandeln ein kurzes, plastisches Orchestermotiv das ganze Stück hindurch, dem Wechsel des Stimmungsausdrucks entsprechend, ab. Beispiele aus dem "Ricimero" (1759) und der "Ipermestra" mögen die Verwandtschaft mit der Buffooper, aber auch mit Mozart dartun56:
Das Beispiel e ist zugleich lehrreich für den merkwürdig gewundenen, subjektiven Ausdruck vieler derartiger Majoscher Figuren. Rhythmisch tritt besonders die Vorliebe für die Synkope in Augenblicken der Erregung bei Majo weit stärker hervor als bei seinen Zeitgenossen; auch hierin berührt er sich nahe mit Mozart57.
Auch formell kündigt sich bei ihm eine neue Zeit an. Neben der alten Hassischen Da-capo-Form, die auch bei ihm noch die Regel ist, tauchen zwei andere, modernere auf: die eine verkürzt