Nie am Ziel. Helmuth Lohner. Eva Maria Klinger
Читать онлайн книгу.aus der Umklammerung lösen, aber sie flüstert: »Bleib noch ein bissl.«
Der Vater war Mechaniker, er musste sich in der Wirtschaftskrise der 1920er- und 1930er-Jahre mal als Schlosser, mal als Schuster durchschlagen. Aus dem Zweiten Weltkrieg kehrt er, von Krankheit gezeichnet, nach langer Kriegsgefangenschaft heim und stirbt 1957 an den Folgen.
Die Mutter, eine einfache, tatkräftige Frau, bringt den Sohn als Arbeiterin in einer Zuckerfabrik durch, heiratet ein zweites Mal. Helmuth absolviert eine Lehre als Grafiker, holt die Matura in einer Arbeiter-Bildungsinstitution nach. Er besitzt drei Reclam-Hefte, eines davon, Goethes Faust, kann er mit 16 Jahren auswendig. Er nimmt nebenbei privaten Schauspielunterricht bei Zdenko Kestranek. Ein paar Monate nur. Er ist ein Naturtalent.
»Ich glaube, er war von Anfang an Schauspieler, so wie ich, das hat uns verbunden«, sagt Otto Schenk. »Noch bevor man es weiß, dass man es ist, ist man schon Schauspieler. Wir sind auch beide vom Opernliebhaber zum Theaterliebhaber geworden. Er hat Mozart geliebt und ich Wagner. Ich hab Mozart ganz gern, ich lasse ihn mir gefallen, aber Wagner ist für mich der große Mann. Bei Verdi haben wir uns getroffen. Aber wenn er mir manchmal von Mozart so vorgeschwärmt hat, war ich plötzlich für kurze Zeit auch Mozartfan.«
Früh wurde Lohners außerordentliches Talent erkannt. Eine Saison singt und tanzt er im Chor des Stadttheaters Baden bei Wien für 380 Schilling Monatsgage. Die Mutter weiß nichts davon. Er leidet immer noch Hunger. Danach spielt er 14 Rollen in einer Saison als Operettensänger und jugendlicher Held im Stadttheater Klagenfurt. Den Faust-Text braucht er vorerst nicht.
»Meine Anfänge als Schauspieler, Chorsänger, Tänzer, Operettenbuffo sind zwar skurril und eventuell lustig, allerdings erst im Nachhinein. Wir hatten alle zwei Wochen eine Premiere, mussten überall mitspielen, allerdings der Gehaltssprung von Baden nach Klagenfurt war so hoch wie nie mehr in meinem Leben. Die Gage hat sich verdreifacht!«, erzählte Lohner später launig. Allerdings war auch die höhere Gage sehr wenig Geld. »Ich weiß nicht, wie ich mit 1100 Schilling ausgekommen bin, aber ich habe nicht mehr Hunger gelitten.«
Er ist erst 19 Jahre alt und wird sofort in der lokalen Presse wahrgenommen, als »talentiert« und »angenehm auffallend« beschrieben. Von einem Einakter-Abend mit Tschechows Heiratsantrag liest man in der Klagenfurter Volkszeitung: »Der hochbegabte Lohner ist ein von seinem Recht besessener, in allen nervösen Zuckungen, fahrigen Grimassen und originellen Nuancen unübertrefflicher und urkomischer Lomow.«
Und in Gogols Komödie Der Revisor bekommt er die Hauptrolle, den leichtsinnigen, charmanten Hochstapler Chlestakow: »Helmut Lohner spielt ihn mit jugendlicher Unbekümmertheit. Charmant und auch ein bisserl ›langhaxet‹ in der Bewegung, fürchtete er die Obrigkeit, gewann aber dann Oberwasser und behauptete in anmutiger Unverfrorenheit den angemaßten Grad in doppeltem Sinne. Er bestach auch, wenn er bestochen wurde, und stand sogar noch in der Übertreibung der Liebeserklärung immer in und nicht außerhalb der Komödie.« (Klagenfurter Volkszeitung).
Der Klagenfurter Intendant Theo Knapp hatte offenbar einen untrüglichen Blick für herausragende junge, noch völlig unbekannte Talente, denn der Nachfolger von Helmuth Lohner als jugendlicher Bonvivant wurde der um drei Jahre ältere Peter Weck. 25 Jahre später haben die beiden dann nicht hintereinander, sondern miteinander gespielt, als die Schnitzler-Herren Anatol und Max, mit Christiane Hörbiger als Gabriele in den Weihnachtseinkäufen, 1977 im Corso, das damals als Ausweichquartier des im Umbau befindlichen Zürcher Schauspielhauses diente. Und 1980 bei den Wiener Festwochen waren sie, bis heute unübertroffen in ihren Rollen, Optimist und Nörgler in der ebenfalls unübertroffenen Inszenierung Hans Hollmanns von Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit im Wiener Konzerthaus. Unnötig zu erwähnen, wem welche Rolle zufiel. Peter Weck war längst festgelegt als unwiderstehlicher Sonnyboy und Helmuth Lohner als tiefschürfender Zweifler und komödiantischer Verzweifler.
Vor dem letzten Zusammenspiel, der Reminiszenz an Max und Anatol als alte Herren, im Theater in der Josefstadt für Dezember 2015 geplant, trat der Tod dazwischen.
Sofort nach Ende der Klagenfurter Saison, am 25. Juli 1953, hat Lohner bereits die erste Premiere im Theater in der Josefstadt. »Es war wie ein päpstlicher Segen, wie ein Wunder, als mir der damalige Josefstadt-Direktor Rudolf Steinboeck mitteilte, er will mich an die Josefstadt engagieren«, erzählte mir Helmuth Lohner bei einem unserer vielen Gespräche. »Das Stück hieß Südfrüchte, der zweite Debütant war der Qualtinger.« Der andere Helmut, ohne h am Ende. Die Schreibweise »Helmuth« hat sich bei Lohner erst in den 1970er-Jahren etabliert, bis dahin war auch sein Vorname »h«-los.
Südfrüchte, Theater in der Josefstadt, 1953 (André Birabeau) mit Peter Czeike, Hilde Jaeger, Christl Erber
Die anderen, später berühmten »Jungen« an diesem Theater waren Senta Berger, Nicole Heesters, Michael Heltau, Erni Mangold, Otto Schenk. Lohner wusste noch Jahrzehnte später alle Details, Stücktitel und Besetzung. Ganze Monologe, sofern sie von Shakespeare oder zumindest Nestroy stammen, konnte er lebenslang auswendig. Er hatte beim Textlernen ein fotografisches Gedächtnis.
»Die Thimig, die Degischer, die Almassy haben uns unter ihre Fittiche genommen, waren hilfreich und kollegial. Sogar die für ihre spitze Zunge verschriene Adrienne Gessner hat uns wie Kinder behandelt. An der Josefstadt war alles ganz anders als in dem Dreispartentheater in Klagenfurt. Es waren ganz andere, großartige Schauspieler, und ich war von der Ernsthaftigkeit, mit der hier vier Wochen lang geprobt wurde, überrascht.«
Er kam immer noch auf acht Rollen pro Saison.
In der Josefstadt spielte man in den 1950er-Jahren die Stücke in der vom Autor gemeinten Zeit, man öffnete peu à peu den Spielplan für französische und englische Gegenwartsstücke. Es herrschte der sogenannte Josefstädter Ton, den Otto Schenk immer als das spielerische Beherrschen von Zwischentönen beschreibt.
Helmuth Lohner hingegen bestritt dies immer: »Ich habe den Josefstädter Stil nie recht feststellen können. Natürlich wird der Ton auf der Bühne vom Haus geprägt, auch von der Art der Stücke, die dort gespielt werden. Aufgefallen hingegen ist mir der familiäre Umgang. Man ist in den engen Garderoben, bevor man auf die Bühne ging, zusammengesessen und hat sich unterhalten. Nur eine winzige Veränderung ergab sich durch das Kostüm, und man hat die Unterhaltung mit dem Text des Stückes auf der Bühne fortgesetzt – das ist vielleicht das Geheimnis der Josefstädter Familie. Jeder hat jeden gut gekannt, geliebt, gemocht – oder auch weniger gemocht. Es war eine ungeheure Beziehung. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich jemals einer über eine zu kleine Rolle beschwert hätte. Ich war ohnehin mit meinen Rollen immer zufrieden.«
Bereits nach dem ersten halben Jahr an der Josefstadt wird Lohner trotz kleiner Rollen von der Kritik wahrgenommen. In Christopher Frys damals viel gespieltem Konversationsstück Die Dame ist nicht fürs Feuer fällt dem allseits hofierten Schriftsteller und Rezensenten Friedrich Torberg der Schauspieler Helmuth Lohner als »eine neue bemerkenswerte Begabung« auf.
Er war 20, und »er war so wahnsinnig schön, beneidenswert schön, deshalb kam er auch gleich zum Film, das hat uns auseinandergerissen, in die Diaspora getrieben. Jeder hat sofort gewusst, dass der Helmuth ein besonderer Schauspieler ist«, schwärmt Otto Schenk, der ein Jahr nach Lohner vom Volkstheater zum Josefstädter Ensemble gestoßen ist. »Ich hab ihn in der Josefstadt zum ersten Mal in so einem japanischen Stück gesehen, Das kleine Teehaus, da hat er japanisch gesprochen, und ich hab gedacht: Wieso verstehe ich das Wienerische nicht. Er hat so japanisch gesprochen, wie wenn ein Wiener eine japanische Zeitung vorlesen würde. Er hat mich verzaubert. In zwei schrecklichen Inszenierungen (Meuterei auf der Caine und Don Camillo und Peppone) haben wir dann kleine Rollen gespielt, wir haben uns nur zugezwinkert und uns gleich verstanden. Wir waren wie Partisanen im Theater. Also ich, Helmuth war ja gleich reüssiert.«
Die Partisanen werden eingeschworene Freunde, Otti wird auch von Helmuths Mutter aufgenommen: »Ich war in seiner Familie amalgamiert, seine Mutter war, wie meine, eine einfache Frau mit großem Talent für Krautfleckerl.« Die Mutter hat nach dem Tod von Helmuth Lohners Vater den Zuckerbäcker Franz Rauch geheiratet. Er war zwar Zuckerbäcker, aber »etwas Höheres«,