Schattengeister. Frances Hardinge

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Schattengeister - Frances  Hardinge


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ein Kribbeln in ihrem Geist wie zarte Spinnenfüße.

      «Nein», sagte Mutter.

      «Hier ist etwas!» Makepeace kämpfte gegen ihre aufsteigende Panik an. «Ich fühle es!» Entsetzen überkam sie, als sie erkannte, was es war: Genauso fingen ihre Albträume immer an, mit dieser unguten Vorahnung, diesem Gefühl einer heranschleichenden Bedrohung. «Die Dämonen aus meinem Traum …»

      «Ich weiß.»

      «Was sind sie?», flüsterte Makepeace. «Sind sie … tot?» In ihrem Herzen kannte sie die Antwort bereits.

      «Ja», sagte Mutter mit ihrer gelassenen, kühlen Stimme. «Hör mir zu. Die Toten sind wie Ertrinkende. Sie treiben in der Dunkelheit und greifen nach allem, was sie kriegen können. Sie wollen dir vielleicht nichts tun, aber sie tun es trotzdem, wenn du es zulässt.

      Du wirst heute Nacht hier schlafen. Sie werden versuchen, sich in deinem Kopf festzusetzen. Was auch immer geschieht: Du darfst sie nicht hereinlassen.»

      «Was?», schrie Makepeace auf, die in diesem Augenblick vergaß, dass sie leise sein musste. «Nein! Ich kann nicht hierbleiben.»

      «Du musst», sagte Mutter. Ihr Gesicht war wie in Stein gemeißelt und silbern überzogen vom Licht der Sterne, und in ihrer Miene lag keine Freundlichkeit, keine Nachsicht. «Du musst hierbleiben und deinen Stock anspitzen.»

      Mutter benahm sich immer dann seltsam und unergründlich, wenn es um etwas Wichtiges ging. Es war, als ob sie dieses andere Ich, diese eigenwillige, unbegreifliche, andersweltliche Version ihrer selbst in der Kleidertruhe unter ihrem Sonntagsstaat aufbewahrte und nur im Notfall hervorholte. Wenn das geschah, war sie nicht mehr Mutter, sie war Margaret. Ihre Augen waren tiefer, ihr Haar unter der Haube dicker und hexenhaft unbändig, und ihr Geist war auf etwas gerichtet, das Makepeace nicht sehen konnte.

      Wenn Mutter sich so benahm, zog Makepeace normalerweise den Kopf ein und widersprach nicht. Aber diesmal schlug die Angst über ihr zusammen. Sie flehte, wie sie noch nie in ihrem Leben gefleht hatte. Sie protestierte, weinte, argumentierte und klammerte sich mit der Kraft der Verzweiflung an Mutters Arm. Mutter durfte sie nicht hierlassen, das durfte sie nicht, das durfte sie nicht …

      Mutter befreite sich aus dem Griff und versetzte Makepeace einen heftigen Stoß, der sie nach hinten taumeln ließ. Mit ein paar schnellen Schritten war sie draußen und schlug die Tür zu, woraufhin es pechschwarz in der Kapelle wurde. Ein schwerer Riegel wurde vorgeschoben.

      «Mutter!», schrie Makepeace, der es mittlerweile egal war, ob irgendjemand sie hörte. Sie rüttelte an der Tür, die aber nicht nachgab. «Ma!»

      Sie erhielt keine Antwort. Zu hören war nur das leise Schaben von Mutters Schritten, die sich entfernten. Makepeace war allein mit den Toten, der Dunkelheit und den Winterschreien der Eulen.

      Stundenlang kauerte sich Makepeace in das Nest aus Decken, zitterte vor Kälte und lauschte dem entfernten Bellen der Füchse. Sie fühlte die Wesen am Rand ihres Geistes lauern, sie warteten auf eine Gelegenheit, warteten darauf, dass sie einschlafen würde.

      «Bitte», flüsterte sie und hielt sich die Ohren zu, um die Stimmen nicht mehr zu hören. «Bitte nicht. Bitte …»

      Aber schließlich entzog sich ihr erschöpftes Gehirn ihrem Willen. Sie schlief ein, und prompt brach der Albtraum über sie herein.

      Wie die Male zuvor träumte Makepeace von einem dunklen, engen Raum. Der Boden bestand aus festgetrampelter Erde, und die Wände waren aus rußig schwarzem Stein gebaut. Sie wollte die Läden schließen, damit kein Mondlicht hereinkam – sie musste es aussperren, es trug Flüstern in sich. Aber die Läden standen in der Mitte einen Spalt auseinander und der Riegel war kaputt. Hinter der Lücke gähnte die tückische Nacht, wo Sterne schwankten und funkelten wie lose Knöpfe.

      Makepeace stemmte sich mit aller Kraft gegen die Fensterläden, aber die Nacht atmete die toten Wesen zu Dutzenden in den Raum. Sie griffen nach ihr und heulten mit diesen nebelhaften, geschmolzenen Gesichtern. Makepeace hielt sich die Ohren zu und kniff Augen und Mund zusammen; sie wusste, dass sie einen Weg in sie hinein suchten, in ihren Kopf.

      Sie surrten und winselten, aber Makepeace wollte nicht zuhören, wollte nicht, dass aus den weichen, abscheulichen Klängen Worte wurden. Das bleiche Licht zupfte an ihren Lidern, und das Flüstern leckte und kitzelte ihre Ohren, und die Luft war zum Schneiden dick von all dem, aber sie konnte nicht anders, sie musste atmen …

      Mit einem Ruck erwachte Makepeace. Ihr Herz hämmerte so laut, dass ihr davon übel wurde. Instinktiv streckte sie die Hand nach dem warmen und beruhigenden Körper ihrer Mutter aus.

      Aber Mutter war nicht da. Makepeace brach der Angstschweiß aus, als ihr einfiel, wo sie sich befand. Sie war nicht zu Hause in Sicherheit. Sie war eingesperrt, lebendig begraben, umgeben von den Toten.

      Ein plötzliches Geräusch ließ sie erstarren. Ein raues Rascheln auf dem Boden, erschreckend laut in der kalten, klaren Nacht.

      Unvermittelt lief etwas Kleines, Leichtes über Makepeaces Fuß. Sie schrie auf, aber im nächsten Moment beruhigte sich ihr Herzschlag wieder. Sie hatte das weiche Fell gespürt, das Kitzeln von winzigen Krallen.

      Eine Maus. Von irgendwo in diesem Raum beobachtete die Maus sie mit ihren hellen Augen. Sie war nicht allein mit den Toten. Die Maus war zwar nicht ihr Freund, es wäre ihr egal, ob die toten Wesen sie umbrachten oder in den Wahnsinn trieben. Aber es war ein tröstlicher Gedanke, dass die Maus hier vor den Eulen und den anderen Jägern der Nacht Schutz suchte. Sie schrie nicht und flehte auch nicht, man möge sie verschonen. Es kümmerte sie nicht, ob sie geliebt wurde oder nicht. Sie wusste, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen konnte. Irgendwo in dieser Kapelle schlug ein rosinengroßes Herz mit dem eisernen Willen zu leben.

      Und es dauerte nicht lange, da tat Makepeaces Herz genau das Gleiche.

      Sie konnte die Toten weder hören noch fühlen, aber sie konnte spüren, wie sie an ihrem Geist kratzten. Sie warteten darauf, dass sie müde werden oder in Panik geraten würde, dass ihre Wachsamkeit nachließ, damit sie zuschlagen konnten. Aber Makepeace hatte in sich einen kleinen Knoten aus Sturheit gefunden.

      Es war nicht leicht, wach zu bleiben, aber Makepeace zwickte sich unentwegt und marschierte auf und ab, bis die langen, dunklen Stunden der Nacht dem grauen Morgenlicht wichen. Sie fühlte sich zittrig und schwach, und ihr Geist war wund und aufgeschrammt, aber sie hatte überlebt.

      Mutter kam kurz vor dem Morgendämmern, um sie abzuholen. Schweigend und mit gesenktem Kopf folgte ihr Makepeace nach Hause. Sie wusste, dass Mutter für alles, was sie tat, ihre Gründe hatte. Aber zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Makepeace, dass sie ihr nicht vergeben konnte, und danach war nichts mehr wie früher.

      Von da an brachte Mutter Makepeace ungefähr einmal im Monat auf den Friedhof. Manchmal vergingen fünf oder sechs Wochen, und Makepeace hegte die Hoffnung, dass Mutter die Sache aufgegeben hätte. Doch dann bemerkte Mutter, dass es wohl eine warme Nacht werden würde, und Makepeace wurde das Herz schwer, weil sie wusste, was auf sie zukam.

      Makepeace wehrte sich nicht länger. Die Erinnerung daran, wie sie in jener ersten Nacht gejammert und gefleht hatte, bereitete ihr Übelkeit.

      Wenn ein Mensch seinen Stolz über Bord wirft und aus ganzem Herzen um etwas bittet und diese Bitte abgeschlagen wird, ist er nie mehr derselbe. Etwas in ihm stirbt, und etwas anderes erwacht zum Leben. Es war, als ob Makepeace mit einem Mal die Welt begriffen hätte, als wäre etwas in ihre Seele gesickert wie Wintertau. Sie wusste, dass sie sich nie wieder so geborgen oder geliebt fühlen würde wie früher. Und sie wusste, dass sie nie, nie im Leben wieder so flehentlich betteln würde.

      Und so folgte sie ihrer Mutter jedes Mal widerspruchslos und mit leerem Gesicht auf den Friedhof. Sie hatte etwas von der kleinen Maus in der Kapelle gelernt. Die Geister waren keine grausamen Halbwüchsigen, die es zu überzeugen galt. Es waren Raubtiere, und sie war die Beute, und sie musste stur, stark und hellwach bleiben, um zu überleben. Niemand würde ihr zu Hilfe kommen.

      Millimeter für Millimeter errichtete sie einen Schutzwall um sich herum.


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