Die Wiederentdeckung des Körpers. Bregje Hofstede
Читать онлайн книгу.hin und wieder, wenn mein Körper alkoholbedingt glüht und ausgelassen tanzt, ist er wieder mit sich im Einklang. Dann ist darin Platz genug, und Duftkerzen werden auch keine gebraucht. Länger als ein paar Stunden hält dieses Gefühl jedoch nie an. Wenn ich heute nach Hause komme, dann als Gast.
Ich will dir keine Angst machen, aber ich glaube, genau das bedeutet Erwachsenwerden: Dass es nichts mehr gibt, das über eine bloße Kategorienzuschreibung hinausgeht. Du hast eine Freundin. Ein Haus. Einen Beruf. Ein Buch. Doch nichts davon gehört bedingungslos zu dir.
Ich schaue zu, wie du im Schlaf schmatzt und die Stirn runzelst, und das bringt mich zum Weinen. «Ach komm schon, Breg!», sagt meine Schwester. Ich gebe ihr das warme Bündel zurück.
Blaue Flecken
I
Sechsundzwanzig Grad. Endlich. Einer von den Julitagen, wie ich sie von früher in Erinnerung habe. Vor ungefähr zehn Jahren versuchten wir an einem Nachmittag wie diesem, Eislöffel auf der Nasenspitze zu balancieren. Vor uns im Gras lag ein aufgeschlagener Weltatlas, auf dem wir mit verschmierten Fingern an den Orten Flecken hinterließen, an denen wir eines Tages leben wollten. Wir, das waren meine beste Freundin und ich. Früher waren wir unzertrennlich. Inzwischen haben wir uns schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Ich warte auf sie, doch sie kommt nicht. Irgendwann rufe ich bei ihr an.
«Wo steckst du?»
Sie sei noch immer zuhause, erklärt sie mit schwacher, brüchiger Stimme. «Kannst du mir vielleicht was zu essen mitbringen? Ich bin so schlapp, ich kann kaum aufstehen.»
Die junge Frau, die früher keine Sekunde stillsitzen konnte, liegt nun im Bett. Schon seit Jahren ist Abnehmen ihr liebstes Hobby. Eine Zeitlang schien sie nur noch von Luft zu leben. Sie trieb viel Sport und trank ausschließlich Kokoswasser. Aber inzwischen zittern ihr die Beine so sehr, dass sie Angst hat, es nicht bis vor die Haustür, geschweige denn bis zum nächsten Laden zu schaffen.
Ich bringe ihr Erdbeeren mit. Die stehen ganz oben in der Top Ten der gesündesten Früchte. Ich setze mich neben sie aufs Bett, während sie mit zittrigen Fingern die Plastikverpackung öffnet. Sie hält jede Erdbeere am Stiel fest und nimmt winzige Mäusebissen: erst wird die Spitze weggeknabbert, dann folgen alle vier Seiten und schließlich der blasse Rest. Trotz der Hitze bibbert sie unter der Decke.
Kurz nachdem ich meine Freundin aus dem Zuckertief gerettet habe, lade ich sie ein, für ein paar Tage zu mir nach Brüssel zu kommen. Selbst wenn wir nicht mehr dieselben Ansichten teilen, können wir zumindest dieselbe Aussicht haben: den Blick vom Mont des Arts oder, wenn es regnet, den auf die Ladenpassage Galeries Royales Saint-Hubert. Nachmittags schauen wir im Het Ivoren Aapje vorbei, einem schummrigen Antiquariat im Begijnhof. Hinter den Bänden der griechischen Philosophen in der Auslage sieht man den Buchhändler sitzen, ganz in ein Buch versunken, einen schlafenden Terrier zu seinen Füßen. Als ich mit dem Finger darauf zeige, folgt meine Freundin meinem Blick, fasst sich ins Haar und mustert stirnrunzelnd ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe.
Im Laden schlendere ich von meinen üblichen Literaturregalen zu der Abteilung mit den Philosophiebüchern und fahre mit dem Zeigefinger über die Buchrücken, um bei S innezuhalten: Jean-Paul Sartre. L’existentialisme est un humanisme. Der Papprücken ist vom vielen Herausziehen ganz weich geworden.
Ich wollte schon immer jemand sein, der Philosophen liest. Viele Sprachen spricht. Keine Höhenangst hat und Walnüsse mit den bloßen Händen knackt. Es gab jede Menge Eigenschaften, die ich gerne besessen hätte.
L’homme sera tel qu’il se sera fait: Der Mensch ist das, wozu er sich selbst macht, so Sartre, der Meister des machbaren Menschen. Ich lege das Buch auf den Ladentisch. Seufzend markiert der Buchhändler die aktuelle Seite und lässt sich dazu herab, mich abzukassieren.
Laut Sartre geht die Existenz der Essenz voraus (l’existence précède l’essence). Mit anderen Worten: Zunächst existiert man bloß und lebt eine Weile, erst durch die eigenen Handlungen legt man fest, wer man wirklich sein will. Es kann auch genau umgekehrt sein (das Wesen geht dem Sein voraus), allerdings trifft das nach Sartres Auffassung nicht auf den Menschen zu. Angenommen, jemand will einen Tacker konstruieren, dann wird die- oder derjenige von einem bereits bestehenden Konzept ausgehen. Es ist undenkbar, dass jemand rein zufällig, ohne vorab zu wissen, wozu so ein Gerät gut sein soll, etwas Entsprechendes zusammenbastelt. Ein Mensch, der sich selbst erfindet, geht jedoch nicht nach einem vorgegebenen Rezept vor, sondern definiert sich erst nach und nach und ist vollkommen frei in seinen Entscheidungen.
Als meine Freundin sich an jenem Abend in meinem Zimmer umzieht, entdecke ich blaue Flecken an den Innenseiten ihrer Knie. Nein, sie sei nicht gestürzt, sagt sie, sondern inzwischen nur so dünn, dass die Knochen aufeinanderprallen, wenn sie nachts auf der Seite im Bett liegt. Zwischen ihren Oberschenkeln klafft eine handbreite Lücke. Ich betrachte ihre Beine und denke an einen Tacker.
Ist es vielleicht doch möglich, einen Menschen nach Plan zu formen? Das Rezept, an das sich meine Freundin hält, besteht aus einer Reihe von ausgewählten Superfoods, die bis aufs Gramm genau abgewogen werden. Das Bild, dem sie nacheifert, hängt seit Jahren an ihrer Zimmertür: Es ist das Poster von einer schlanken, blonden, braungebrannten Surferin mit einem irre gephotoshopten Taille-Hüft-Quotienten. Sie feilt erbarmungslos an sich, um ihrem Idealbild näherzukommen. La femme sera telle qu’elle se sera faite – das schon, aber was ist mit Selbstbestimmung? Freiheit?
Der Archetyp, nach dem meine Freundin an sich herumdoktert, wurde bereits vor Jahren beschrieben. 2001 veröffentlichte das französische Autorenkollektiv Tiqqun, das kurz, aber heftig am philosophischen Firmament aufleuchtete, seine Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens. Der dünne Band ist ebenso bitter wie erheiternd und besteht aus einer losen Sammlung von «zufällig angehäufte[n] Materialien von Begegnungen, zum Umgang mit und zur Beobachtung von Jungen-Mädchen» sowie aus Frauenzeitschriften entnommenen Stilblüten. Tiqqun beschreibt die Jung-Frau (la Jeune-Fille) als Idealbürgerin der spätkapitalistischen Gesellschaft: ein Mensch, bei dem äußere Erscheinung und Wesen, Darstellung und Realität völlig deckungsgleich sind. Das Junge-Mädchen muss dabei nicht per se jung sein und übrigens auch nicht unbedingt weiblich, wie der geliftete Silvio Berlusconi hinreichend beweist, wenn er Fernsehen mit Politik und Wahrheit mit Zuschauerquoten verwechselt. Das Junge-Mädchen ist eine «Fassadistin», ein «Körper ohne Geist», dessen Identität nicht ihm selbst gehört, sondern von den Medien und Zeitschriften diktiert wird. (Im Buch findet sich nichts zu Selfies und Facebook, weil es beides bei Drucklegung noch gar nicht gab.) Das Leben des Jungen-Mädchens ist deshalb unweigerlich ein einziges Déjà-vu: Alles ist letztlich nur die unvollkommene Ausführung eines platonischen Modells. Das Buch ist voller Fotos von magersüchtigen Models, pseudo-tiefgründigen Beobachtungen wie «Das Junge-Mädchen ähnelt seinem Foto» und kämpferischen Losungen wie: «Ich mache mit meinen Haaren, was ich will!» Die Freiheit, um die es Sartre ging, läuft beim Jungen-Mädchen hinaus auf «Zen, Speed oder Bio» – so nach dem Motto: Entscheide dich für einen Lifestyle!
Anfangs musste ich beim Lesen der Grundbausteine an meine Freundin denken. In dem Jungen-Mädchen erkannte ich bis ins kleinste Detail den Bauplan für ihren Tacker wieder. Ich selbst war diesem Schicksal glücklicherweise entronnen. Ich wurde kein Tacker, schließlich las ich keine Frauenzeitschriften, sondern Sartre.
II
Bei mir zu Hause hing statt einer Surferin ein Schwarz-Weiß-Portrait von einer kurzhaarigen jungen Frau an der Wand, die mit energisch vorgerecktem Kinn in die Kamera blickt. Ein Werbeplakat aus den 1980er Jahren zum Thema Frauenförderung an Universitäten: «Studeren, niet alleen voor heren» (Studieren ist nicht nur was für Männer). Und während bei meiner Freundin übermäßiger Süßigkeitenkonsum verboten war, war bei uns zu Hause Eitelkeit tabu. «Sich anmalen», wie meine Mutter das Schminken nannte, war verpönt.
Ich war neun oder zehn Jahre alt, und mein erstes Klassenfest