Eine große Zeit. William Boyd
Читать онлайн книгу.Hose, halb entblößt, ungeschützt. Da musste sie ja in Panik geraten.«
»Wie wurde mit dem jungen Gärtner verfahren?«
»Er wurde vom Gutsverwalter umgehend entlassen, ohne Lohn und ohne Zeugnis. Andernfalls hätte man die Polizei eingeschaltet. Sein Vater beteuerte, Tommy habe nichts verbrochen – auch wenn er einräumen musste, dass sein Sohn nicht den ganzen Nachmittag im Garten zugebracht hatte –, und wurde ebenfalls entlassen.«
»Wie sollte man dem jungen Master Lysander auch keinen Glauben schenken?«
»Ja genau. Ich hatte entsetzliche Schuldgefühle. Sie dauern bis heute an. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Auch ihr Cottage auf dem Anwesen haben sie verloren. Ich wurde krank – ich erinnere mich, dass ich tagelang geweint habe – und lag zwei Wochen im Bett. Danach brachte mich meine Mutter nach Margate in ein Hotel. Ich wurde von mehreren Ärzten untersucht und bekam alle möglichen Medikamente verabreicht, zur ›Stärkung meiner Nerven‹. Und dann wurde ich in dieses schreckliche Internat verfrachtet.«
»Und es wurde nie wieder darüber gesprochen?«
»Nie wieder. Ich war schließlich das Opfer. Krank, zerrüttet, bleich. Ich weinte jedes Mal, wenn ich nach dem Vorfall gefragt wurde. Darum verhielten sich in meinem Umfeld alle sehr vorsichtig, ängstlich darauf bedacht, mich nicht zu verletzen, nach allem, was ich ›durchlitten‹ hatte. Man behandelte mich wie ein rohes Ei.«
»Interessant, dass Sie den Gärtnerssohn beschuldigt haben …« Bensimon schrieb etwas auf. »Wie hieß er doch gleich?«
»Tommy Bledlow.«
»Das wissen Sie noch.«
»Wie sollte ich es je vergessen.«
»Er hatte Sie eingeladen, mit ihm auf die Jagd zu gehen – mit seinem Frettchen.«
»Das hatte ich abgelehnt.«
»Fühlten Sie sich zu ihm sexuell hingezogen?«
»Oh … Nein. Jedenfalls nicht so, dass es mir aufgefallen wäre. Er war bloß der Letzte, mit dem ich gesprochen hatte. Vor lauter Panik und Eile habe ich einfach den erstbesten Namen aus der Luft gegriffen.«
Lysander fuhr mit der Tram in die Mariahilfer Straße zurück. Während sie sich scheppernd und schaukelnd durch die Stadt bewegten, saß er wie betäubt da. Bensimon war der einzige Mensch, dem er je die Wahrheit über diesen Jahrhundertwende-Sommertag verraten hatte, und er musste sich eingestehen, dass die Preisgabe seines dunklen Geheimnisses zu einer gewissen Katharsis geführt hatte. Er blickte sich um, seltsam unbeschwert, als löste er sich von seiner Vergangenheit, von der Welt, die er gerade durchquerte, und von ihren Bewohnern. Er betrachtete die anderen Fahrgäste – sie lasen, schwatzten, träumten, starrten mit leerem Blick aus dem Tramfenster – und fühlte sich auf merkwürdige Art auserwählt. Wie der Mann mit dem Gewinnlos in der Tasche, oder der Mörder, der unentdeckt vom Tatort zurückkehrt – er hatte den Eindruck, abseits, über ihnen zu stehen, ihnen fast überlegen zu sein. Wenn ihr nur wüsstet, was ich heute enthüllt habe; wenn ihr nur wüsstet, wie grundlegend sich mein Leben von nun an ändern wird …
Letzteres war nur ein frommer Wunsch, wie er gleich erkannte. Was an jenem Nachmittag im Juni 1900 passiert war, bildete die ausradierte Stelle in der Geschichte seines Lebens, eine große, eingeklammerte weiße Lücke in der Chronik seines Alltags als Vierzehnjähriger. Anschließend hatte er nie wieder daran gedacht – hatte eine undurchdringliche geistige Quarantänesperre darum errichtet, um alles abzuwehren, was unerwünschte Erinnerungen hätte wachrufen können. Er war oft im Wald von Claverleigh spazieren gegangen; er und seine Mutter standen sich sehr nah; er hatte sich mit den Gärtnern und Gutsarbeitern unterhalten, ohne ein einziges Mal an Tommy Bledlow zu denken. Der Vorfall war vergessen, ausgelöscht – hatte sich mit der Zeit erfolgreich verflüchtigt –, als hätte man ihm ein krankes Organ oder einen Tumor entfernt und danach eingeäschert.
Er stieg an seiner Haltestelle aus und blieb kurz stehen, um zu überlegen, warum er ausgerechnet auf dieses Bild gekommen war. Nein – er war froh, Bensimon alles erzählt zu haben. Vielleicht war das im Grunde das Einzige, was die Psychoanalyse wirklich bewirken konnte: im Rahmen eines therapeutischen Dialogs über das Wesentliche, Elementare, Bedeutsame zu sprechen – das man sonst niemandem anvertrauen würde. Was hätte Bensimon ihm nunmehr mitzuteilen, was er sich nicht selbst erschließen konnte? Der Beichtakt war eine Art von Befreiung, und er fragte sich, ob er Bensimon überhaupt noch brauchte. Lysander hatte das Gefühl, sich sogar physisch von dem Mann zu unterscheiden, der die Ereignisse jenes Tages zu Papier gebracht hatte. Nun wurde ihm bewusst, wie wichtig es gewesen war, das niederzuschreiben. Etwas hatte sich verändert – es war so etwas wie eine Reinwaschung gewesen, eine Offenbarung, eine Lossprechung.
Langsam, gedankenverloren ging er von der Haltestelle zur Pension und blieb unterwegs nur stehen, um hundert englische Virginia-Zigaretten bei der Tabaktrafik an der Ecke zu kaufen. Ob er wohl zu viel rauchte? Eine richtig lange Bergtour würde ihm guttun. Er widmete sich der angenehmen Frage, wie er sein Wochenende verbringen sollte.
Traudl staubte gerade die von Glas umfangene Eule ab, als er die Tür öffnete. Ihm fiel auf, dass sie keinen Knicks machte und ihr Begrüßungslächeln ein wenig anzüglich war. Kein Wunder, dachte Lysander, da wir beide jetzt ein kleines Geheimnis teilen.
»Der Leutnant möchte Sie gern sprechen, mein Herr«, sagte sie. Dann blickte sie sich um und wisperte: »Vergessen Sie das mit den zwanzig Kronen nicht.«
»Sicher. Er wird ohnehin annehmen, dass wir … du weißt schon.«
»Ja. Gut. Bitte sagen Sie ihm das unbedingt, mein Herr.«
»Das werde ich, Traudl. Verlass dich drauf.«
»Und ich habe Ihnen die Post ins Zimmer gelegt, mein Herr.«
»Danke.«
Lysander klopfte an Wolframs Tür und wurde prompt hereingebeten. Das breite Grinsen des Leutnants und die Flasche Champagner, die in einem Eiskübel bereitstand, signalisierten ihm auf Anhieb, dass die Verhandlung gut ausgegangen war. Wolfram trug wieder Zivil – einen karamellfarbenen Tweedanzug mit schokoladenbrauner Krawatte.
»Freigesprochen!«, sagte Wolfram mit theatralisch erhobenen Armen, bevor sie einander herzlich die Hand reichten.
»Gratuliere. Ich hoffe, es war keine allzu große Zumutung«, bemerkte Lysander.
Geschäftig öffnete Wolfram die Flasche und schenkte den Champagner aus.
»Tja, sie versuchen natürlich, einen mächtig einzuschüchtern«, antwortete er. »All diese höheren Offiziere in Galauniform mit ihren verächtlichen Blicken – mit ihren feierlichen Mienen. Die lassen einen stundenlang schmoren.« Er schenkte Lysander nach. »Wenn man dann Haltung und Ruhe bewahrt, ist die Sache schon halb gewonnen.« Lächelnd setzte er hinzu: »Dein hervorragender Whisky hat mir dabei gute Dienste geleistet.«
Sie stießen miteinander an.
»Das wäre also erledigt«, sagte Lysander. »Was hat ihnen denn zur Einsicht verholfen?«
»Ein beschämender Mangel an Beweisen. Dafür habe ich ihnen einen kleinen Denkanstoß verpasst. Der hat geholfen, den Verdacht vom verschlagenen Slowenen abzulenken.«
»Ach – und wie?«
»Im Regiment gibt es diesen Hauptmann, Frankenthal. Er kann mich nicht leiden. Ein arroganter Kerl. Irgendwie ist es mir gelungen, meine Vorgesetzten daran zu erinnern, dass Frankenthal ein jüdischer Name ist.« Wolfram zuckte mit den Achseln. »Frankenthal hatte den Schlüssel eine Woche lang in seiner Obhut, genau wie ich.«
»Aber was spielt es für eine Rolle, dass er Jude ist?«
»Ist er nicht – seine Familie hat sich schon vor einer Generation zum katholischen Glauben bekehrt. Und dennoch …« Wolfram grinste schalkhaft. »Sie hätten ihren Namen ändern sollen.«
»Mir ist nicht klar, warum.«
»Mein lieber Lysander – wenn sie das Verbrechen schon keinem Slowenen anhängen