Himmel. Sandra Newman

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Himmel - Sandra  Newman


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allein nicht ausreicht!«

      So plapperte Mary immer weiter, beschrieb die Hölle und wie ihre eigene Mutter als Sünderin gestorben sei; und Mary würde dafür beten, dass ihre Mutter nicht in die Hölle gekommen sei, wenn es aber nun so wäre, sei es doch strittig, ob es ihre Pflicht als Tochter sei, gut zu sein oder zu freveln und zu sündigen, denn es heißt, man solle Vater und Mutter ehren, und es wäre doch der Ehre wenig, sie allein in der Hölle schmoren zu lassen. Und dies sei ein allgegenwärtiger Gedanke in dieser pestgeplagten Stadt, dieser Stadt, in der nur noch die Würmer frohlocken würden. Immerhin seien selbst die Katzen vor Londons Siechtum geflohen. So habe Mary es gehört, und sie hinterfrage es nicht, denn oft seien Tiere weise, wo die Menschen töricht seien. Mary redete immer weiter und Emilia hörte zu, mit dem nervösen Gefühl, dass sich ihr irgendein Hinweis offenbaren müsse, während das Feuer im Ofen kühn prasselte, Mary an ihrer Haube zupfte, und die Fensterläden mit jedem Windstoß klapperten. Einige Sätze aus Marys Erzählung lösten bei Emilia ein Kribbeln aus und verfingen sich in ihren Gedanken wie Kletten: Mein Vetter … weiser, zu fliehn … dass sie meinem Vater Hörner gab. Schließlich verstummte Mary, blickte ins Feuer, ihr Gesicht mahnend und düster, als sähe sie dort ihre zitternde Mutter. Sie nahm den Schürhaken und stieß ihn grollend gegen einen der Scheite, biss sich auf die Lippe.

      »Weshalb aber bin ich dann hier?«, fragte Emilia heiser. »Kannst du es mir nicht sagen?«

      Voller Hohn stieß Mary Luft zwischen den Zähnen hervor. »Wir sind hier, weil Euer Bauch zu groß zum Reisen ist. So sagtet Ihr. Doch ich sage, es wird dem Kind keine guten Dienste erweisen, wenn es seinen ersten Atemzug im Pesthauch Londons nimmt. Und meine Tante ritt einst fünf Tage lang, als ihr Bauch größer war, als –«

      Dann riss Mary sich zusammen. Sie stand mit der Steifheit aller Dreizehnjährigen auf, die ob der Dummheit der Erwachsenen störrisch werden, und wandte sich ab, um den Schürhaken zurück an seinen Platz zu hängen. Emilias Blick fiel auf den Griff des Hakens, der die Form eines Salamanders hatte, jedoch mit menschlichen Ohren. Einen Moment lang formten die Scheite und Flammen hinter Mary eine grässliche, gespenstische Silhouette. Es war der schartige Umriss einer Stadt aus Feuer und Asche, das sich windende Gespenst einer toten Welt.

      Ein stechender Ruck ging durch Emilias Bauch – das Kind reagierte auf Emilias Empfindung, bevor diese selbst sie wahrgenommen hatte. Es war Furcht. Draußen hatte der Hahn das Krähen aufgegeben, doch die Glocken schlugen immer weiter. Sie schlugen für die Pesttoten. Die Furcht durchfuhr sie wie ein Fanfarenstoß, wie ein Imperativ, der Emilia den Atem anhalten ließ. Im Feuer wurde der Umriss dunkler und deutlicher. Er war echt. Er war eine Vision, deutete jedoch auf etwas Echtes. Eine Stadt am Ende der Welt.

      Dann fühlte sie, was zu tun war. Es war da draußen. Wie ein Hund nahm sie die Witterung auf.

      Sie machte Anstalten, aufzustehen, und sagte zu Mary: »Es wird uns fern von London besser ergehn. Du tust weislich an deiner Furcht. Wir wollen zu meinem Vetter nach Horne fliehn.«

      Das Zimmer begann, sich in Grau aufzulösen. Sie schlief ein. Sie konnte nichts mehr sehen. Alles wurde schwarz.

      Sie erwachte in Bens Armen – sie fühlte sich fremd, sie fror und empfand zugleich eine freudige Erregung.

      Da war das Hotelzimmer: die weißen, anonymen Wände, der Fernseher, dessen Fernbedienung an einer Kette hing, die so kurz war, dass man neben dem Gerät stehen musste, um den Kanal umzuschalten, der Hinweis, keinen Strom zu verschwenden, mit einer Comiczeichnung der lächelnden Erdkugel. Kate war schweißgebadet. Das Bettzeug war klamm.

      O nein, dachte sie in froher Erregung. Ich muss zurück. Hier kann ich überhaupt nichts ausrichten.

       7

      Der nächste Tag war ein Sonntag, und Kate war mit ihren Eltern verabredet. Ben, so hatten sie es am Abend zuvor besprochen, würde mitkommen und sie kennenlernen.

      Ihre Eltern wohnten in Low Droit, einer Migrantenenklave am East River, die von großen Wohnungsbauprojekten aus den Fünfzigern dominiert wurde, über denen die schwärzlichen Schornsteine des Con-Ed-Kraftwerks aufragten, die im Zuge der Proteste von 98 in Brand gesetzt worden waren. Unten in den Straßen waren die Wände mit dem für niedrigpreisige Stadtviertel typischen Patchwork überzogen: Ankündigungen politischer Debatten, Les Girafes-Graffitis – der Slogan QUI VOIT, enigmatisch und bedrohlich, mit der schablonierten Cartoongiraffe, die mit ihrem emporgehobenen Kopf den Weitblick hat. Darunter Schichten von alten Plakaten und Kritzeleien samt eines abblätternden Wandbilds zu Ehren der Marslandung, auf dem die drei todgeweihten Astronauten die UN-Flagge auf einem öden rosafarbenen Mars aufstellen. Auf dem Weg von der U-Bahn hörte man nur Arabisch und Französisch; die Leute auf der Straße sahen so aus, als befänden sie sich in einem Prozess zwangloser Verwahrlosung. Gezeitenströme von Kindern kamen und gingen, Trauben von Frauen hielten die Parkbänke besetzt, die meisten von ihnen waren auf beeindruckende Weise fett, alle rauchten. Einige Passanten gingen am Stock oder auf Krücken; es gab viele gescheiterte Existenzen. Dennoch war die Szenerie friedlich, strahlte den Müßiggang eines angenehmen Nachmittags in einer Nachbarschaft aus, die mit sich zufrieden war, in der die Menschen gut gefüllte Kühlschränke und keine Angst hatten.

      Ben war spät aufgewacht, mürrisch und mit dem Bedürfnis, allein und in Ruhe die Entscheidung zu durchdenken, mit Kate zusammenzuziehen. Stattdessen hatte er hastig duschen und in die Klamotten vom Vorabend schlüpfen müssen. Auf dem Weg hatten er und Kate kein Wort miteinander gewechselt – ein schreckliches Vorzeichen, ein schreckliches Gefühl, dazu die zahnschmerzartige Beleuchtung in der U-Bahn. Nun gingen sie sehr langsam die Straße entlang, voll schlimmer Vorahnungen, die behandschuhten Hände ineinander verschränkt, während Ben sich am liebsten aus dieser Situation befreit hätte. Er überlegte, wie er ihr sagen könnte, dass er heute nicht dazu imstande war, dass sie mit dem Zusammenziehen noch warten sollten. Doch er liebte Kate. Oder etwa nicht? Bis zu diesem Moment hatte er Kate geliebt.

      Sie betraten den Hof des Gebäudes, in dem Kates Eltern wohnten, und fanden dort ein Holzbläserquartett vor; die Musik klang dünn, entkräftet von dem feuchten Luftzug, der vom Fluss hinaufzog. Die Musiker hatten lange genug an Ort und Stelle verharrt, sodass der Wind einen kleinen Blätterhaufen vor ihren Füßen aufgestapelt hatte. Ben und Kate waren eine Viertelstunde zu früh, und sie blieben unschlüssig stehen, setzten sich auf eine Bank. Kates Gesicht strahlte von der Kälte, rote Flecken auf den Wangen. Sie war klar und wunderschön.

      Und sie sagte, vorsichtig, behutsam, als hätte sie das lange Schweigen genutzt, um darüber nachzudenken, wie sie es sagen sollte: »Letzte Nacht hatte ich einen Traum.«

      In dem Traum sei sie hochschwanger gewesen und habe in dem von der Pest geplagten London des sechzehnten Jahrhunderts gelebt. Sie habe gewusst, dass sie eine entscheidende Aufgabe zu erfüllen habe. Aus diesem Grund sei sie dorthin geschickt worden. Und im Feuer (in dem Zimmer sei ein Kamin gewesen) habe sie die Apokalypse gesehen, die das Resultat ihres Scheiterns gewesen sei, die Erscheinung einer verbrannten, toten Welt.

      »Verstehst du, in dem Traum war ich wichtig«, sagte Kate mit scherzhafter Schwermut. »Ich war der wichtigste Mensch auf der Welt.«

      »Ich hatte früher auch solche Träume«, sagte Ben. »Sie basierten hauptsächlich auf Comicheften.«

      Kate lachte kurz auf, sah aber ein wenig befremdet aus. Die Comichefte waren gerade nicht erwünscht. Sie nahm den Traum ernster, als sie vorgab. Sie sah zu dem Holzbläserquartett, das zu spielen aufgehört hatte. Die Musiker massierten ihre frierenden Hände. Sie sagte: »Tja, ich weiß, dass es außer mir niemanden interessiert.«

      Dann war es an der Zeit, zu ihren Eltern hinaufzugehen; nun behielten sie ihre Hände in den Taschen. Der Aufzug war kaputt, also gingen sie durchs Treppenhaus, das trostlos und dreckig war. Die Tür der Eltern sah aus wie alle anderen Türen: klumpiger roter Anstrich, ein schmutziger Türspion, ein Werbeaufkleber vom Schlüsseldienst. Hinter der Tür waren murmelnde Stimmen zu hören, ein fremdartiges Murmeln, das Ben nervös machte. Was, wenn er ihre Eltern nicht mochte? Er war in der falschen Stimmung. Das Ganze war keine gute Idee gewesen.


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