Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Alfred Schmidt

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Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx - Alfred Schmidt


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geprägten Kategorien erfaßt, die sie auf die noch nicht angeeigneten Naturbereiche anzuwenden genötigt sind.

      Gerade am Darwinismus wird deutlich, wie außerordentlich voraussetzungsvoll alle Aussagen über die Natur und ihre Geschichte sind. Wie bewußt sich dessen Marx bei aller »naturgeschichtlichen« Betrachtungsweise der Gesellschaft ist, geht sehr schön hervor aus einem Brief an Engels, in dem es heißt: »Es ist merkwürdig, wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, ›Erfindungen‹ und Malthusschem ›Kampf ums Dasein‹ wiedererkennt. Es ist Hobbes’ ›bellum omnium contra omnes‹ und es erinnert an Hegel in der Phänomenologie, wo die bürgerliche Gesellschaft als ›geistiges Tierreich‹, während bei Darwin das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft figuriert ...«98

      In Übereinstimmung mit Marx zeigt Engels in einem Brief an P. L. Lawrow, daß bestimmte, den bürgerlichen Verhältnissen und ihrer gedanklichen Widerspiegelung entlehnte Lehren, nachdem sie auf die Entwicklung der organischen Natur angewandt worden sind, von den Sozialdarwinisten als angeblich reine Naturgesetze der Gesellschaft aufgenötigt werden: »Die ganze darwinistische Lehre vom Kampf ums Dasein ist einfach die Übertragung der Hobbesschen Lehre vom bellum omnium contra omnes und der bürgerlich-ökonomischen nebst der Malthusschen Bevölkerungstheorie aus der Gesellschaft in die belebte Natur. Nachdem man dies Kunststück fertiggebracht, ... so rücküberträgt man dieselben Theorien aus der organischen Natur wieder in die Geschichte und behauptet nun, man habe ihre Gültigkeit als ewige Gesetze der menschlichen Gesellschaft nachgewiesen.«99

      Innerhalb der Marxschen Schule spielt die sozialdarwinistische Betrachtungsweise der Geschichte eine große Rolle in Karl Kautskys Werk »Die materialistische Geschichtsauffassung«. Die Einheit der menschlichen mit der vormenschlichen Entwicklungsgeschichte verabsolutierend, gelangt Kautsky zu der Ansicht, »daß die Geschichte der Menschheit nur einen Spezialfall der Geschichte der Lebewesen bildet, mit eigenartigen Gesetzen, die aber in Zusammenhang stehen mit den allgemeinen Gesetzen der belebten Natur«100. Eben diese »eigenartigen Gesetze« der Gesellschaft sind es, die bei Kautsky unter den Tisch fallen. Während für Marx die kosmische und biologische Entwicklungsgeschichte nur die »naturwissenschaftliche Unterlage«101 seiner Geschichtsauffassung bilden, ihr Hauptanwendungsgebiet aber die Geschichte der Gesellschaft ist, stülpt Kautsky dieses Verhältnis um. Die menschliche Geschichte ist ein Anhängsel der Naturgeschichte, ihre Bewegungsgesetze bloße Erscheinungsformen biologischer. Karl Korsch, übrigens einer der wenigen Autoren in der umfangreichen Marxliteratur, bei denen sich ein Verständnis der komplizierten Dialektik von Natur und Geschichte findet, kritisiert nachdrücklich Kautskys Entstellung der Marxschen Geschichtstheorie: »Nicht die Natur oder die organische Natur und ihre Entwicklungsgeschichte im allgemeinen, und auch nicht einmal die menschliche Gesellschaft in ihrer allgemeinen geschichtlichen Entwicklung, sondern die moderne ›bürgerliche Gesellschaft‹ bildet für sie (Marx und Engels, A. S.) die wirkliche Grundlage, aus der alle früheren geschichtlichen Gesellschaftsformen materialistisch zu begreifen sind.«102 Die Frage nach dem Verhältnis von Natur- und Menschengeschichte hat für Marx auch einen ideologiekritischen Aspekt. In der Tat ist es bis heute ein festes Bestandstück der Verteidigung von Herrschaft gewesen, historisch-­gesellschaftlich bedingte Tatbestände wie Kriege, Verfolgungen und Krisen in unabwendbare Naturtatsachen umzufälschen. Marx hat zunächst die Klassenverhältnisse im Auge, wenn er sagt: »Die Natur produziert nicht auf der einen Seite Geld- oder Warenbesitzer und auf der andren bloße Besitzer der eignen Arbeitskräfte. Dies Verhältnis ist kein naturgeschichtliches und ebensowenig ein gesellschaftliches, das allen Geschichtsperioden gemein wäre. Es ist offenbar selbst das Resultat einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischer Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen der gesellschaftlichen Produktion.«103

      Marx kennt keine starren Gegebenheiten, weder solche der geistigen noch solche der biologisch-materiellen Natur des Menschen. In seiner Kritik an Max Stirner in der »Deutschen Ideologie« bemerkt er: »Wie Sancho bisher alle Verkrüppelungen der Individuen und damit ihrer Verhältnisse aus den fixen Ideen der Schulmeister erklärte, ohne sich um die Entstehung dieser Ideen zu bekümmern, so erklärte er diese Verkrüppelung jetzt aus dem bloßen Naturprozeß der Erzeugung. Er denkt nicht im entferntesten daran, daß die Entwicklungsfähigkeit der Kinder sich nach der Entwicklung der Eltern richtet und daß alle diese Verkrüppelungen unter den bisherigen gesellschaftlichen Verhältnissen historisch entstanden sind und ebensogut historisch wieder abgeschafft werden können. Selbst die naturwüchsigen Gattungsverschiedenheiten, wie Rassenunterschiede etc., von denen Sancho gar nicht spricht, können und müssen historisch beseitigt werden.«104

      Die hier behandelte Frage nach dem Verhältnis von Natur und Geschichte hat schließlich noch eine methodisch-­wissenschaftstheoretische Seite. Seit Dilthey und der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus ist es üblich geworden, historischen und Naturwissenschaften prinzipiell verschiedene Forschungsweisen zuzuordnen. Unterscheidet Dilthey zwischen kausal »erklärender«, den Naturwissenschaften eigentümlicher und intuitiv »verstehender« Methode der historischen Geisteswissenschaften, so zerschneiden Windelband und Rickert die Wirklichkeit noch radikaler in zwei schlechthin getrennte Bereiche. Natur wird kantianisch als das Dasein der Dinge unter Gesetzen gefaßt. Dem entspricht der »nomothetische« Charakter der Naturwissenschaften. Die Geschichte besteht aus einer Fülle wertbezogener, im Grunde unverbundener »individueller« Befunde, die nur einer beschreibenden, »idiographischen« Methode zugänglich sind, wodurch sie zu etwas jenseits aller rationalen Analyse wird105.

      Für Marx gibt es keine Trennung schlechthin von Natur und Gesellschaft, damit auch keinen grundsätzlichen methodischen Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und der Geschichtswissenschaft. So schreibt er in der »Deutschen Ideologie«: »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschheit abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.«106

      Ein »Gegensatz von Natur und Geschichte«107 wird von den Ideologen dadurch erzeugt, daß sie das produktive Verhältnis der Menschen zur Natur aus der Geschichte ausschließen. Natur und Geschichte, sagt Marx gegenüber Bruno Bauer, sind »nicht zwei voneinander getrennte ›­Dinge‹«108. Die Menschen haben immer eine »geschichtliche Natur und eine natürliche Geschichte«109 vor sich.

      Der Vorwurf, daß Marx allzu »naturalistisch« verfahre, wenn er im »Kapital« vom geschichtlichen Prozeß der ökonomischen Gesellschaftsformation als von einem naturgeschichtlichen spricht, kann ihn eben deshalb nicht treffen, weil in ihm dogmatisch die hier gerade kritisierte These vom prinzipiellen methodischen Unterschied zwischen dem Verhalten des Natur- und des Geschichtsforschers vorausgesetzt wird. Wissenschaftliches Denken kann keinen Bereich sui generis anerkennen, der gesetzmäßiger Erklärung absolut unzugänglich wäre.

      Der Methodendualismus bei Dilthey und Windelband-Rickert beruht bei allen Bemühungen dieser Autoren um die Geschichte auf geschichtsfremden Abstraktionen, die freilich zunächst auch den kritischen Sinn haben, daß der Geschichtsdeutung nicht dadurch Tür und Tor geöffnet werden sollte, daß beliebige Sinnschemata an sinnindifferente Befunde herangetragen werden. Das Kind wird mit dem Bade ausgeschüttet, und es sieht so aus, als sei der Geschichtsverlauf völlig strukturlos und bloß noch der Einfühlung und idiographischen Deskription zugänglich.

      Marx wendet sich in der Rezension »Die moralisierende Kritik und die kritische Moral« auf eine für das Verständnis seiner Methode höchst instruktive Weise gegen die undialektischen Alternativen, die, wie wir im erörterten Fall gesehen haben, entweder Natur und Geschichte ineinander aufgehen lassen oder aber ihre Differenz verabsolutieren: »Es bezeichnet den ganzen Grobianismus des ›gesunden Menschenverstandes‹, der aus dem ›vollen Leben‹ schöpft und durch keine philosophischen und sonstigen Studien sich seine Naturanlagen verkrüppelt, daß er da, wo es ihm gelingt, den Unterschied zu sehen, die Einheit nicht sieht, und daß er da, wo er die Einheit sieht, den Unterschied nicht sieht. Stellt er unterschiedene Bestimmungen auf, so versteinern sie sich ihm sofort unter der Hand, und er erblickt die verwerflichste Sophistik darin, diese Begriffsklötze so zusammenzuschlagen,


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