Behemoth. Franz Neumann

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Behemoth - Franz Neumann


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      Franz Neumann hat diese defensive Haltung in wirtschaftspolitischen Dingen lange beibehalten, während sich Kirchheimer bekanntlich seit 1930 daran machte, das ganze Ausmaß der antidemokratischen Reaktion zu dokumentieren: In der Justizpraxis ebenso wie im akademischen Staatsrecht, in der Verselbständigung der Bürokratie gegenüber dem Parlament ebenso wie im Notverordnungsregime des Reichspräsidenten sah er Kräfte am Werke, die das Legalitätsgerüst der Weimarer Republik unterminierten und auf einen autoritären Staat hinarbeiteten.10 Erst als Neumann 1932 neben seiner Gewerkschaftsarbeit zusätzlich als Syndikus der SPD tätig wurde, positionierte er sich in der größeren politischen Öffentlichkeit und ergriff Partei z.B. gegen die Einschränkungen der Pressefreiheit.11

       II. Im Exil: Radikalisierung der Theorie und Analyse des Nationalsozialismus

      Die Machtergreifung Hitlers erlebte Franz Neumann als Schock. Jetzt war er so exponiert, dass er sofort in den Fokus der nationalsozialistischen Verfolgung geriet: Als am 2. Mai 1933 SA-Schergen sein Büro im Kreuzberger Gewerkschaftshaus stürmten, entging er nur knapp der Verhaftung und machte sich wenig später auf den Weg nach London. Wieder ist es erstaunlich, wie schnell er sich im englischen Exil zurechtfand: Neumann hielt sich nicht lange mit der schmerzlichen Zerstörung seines beruflichen Wirkungsfeldes auf, vielmehr nutzte er seine wohl schon vorher bestehenden Beziehungen zur englischen Labour-Party, um sich neu zu orientieren. Durch die Vermittlung von Harold Laski erhielt er ein Stipendium und begann ein Promotionsstudium an der London School of Economics, in dem sich seine bisherigen Erfahrungen in Deutschland im angelsächsischen Wissenschaftssystem sozusagen zu spiegeln begannen. Vorher Gegner jedes politischen Radikalismus, verwandelte sich der deutsche Gewerkschaftsjurist nicht nur in einen fulminanten Kritiker des Hitler-Regimes, sondern stürzte sich atemlos in die theoretische Arbeit. Er nutzte das Exil für eine grandiose Ausweitung der theoretischen Perspektive.

      Bereits im Herbst 1933 war Neumann mit einem englischen Aufsatz hervorgetreten, der den „Decay of German Democracy“ mit dem Ausdruck der Verzweiflung konstatierte und dabei sowohl analytisch aufs Ganze ging als auch mit herber Selbstkritik nicht sparte. Es folgte eine Reihe von Interventionen und Pamphleten, die unter dem Pseudonym „Leopold Franz“ nach Deutschland eingeschmuggelt wurden, um den Widerstand gegen Hitler zu unterstützen. Das interessanteste von ihnen ist eine kleine, aber scharfgeschnittene Geschichte der deutschen und europäischen Gewerkschaftsbewegung, die mit einer knappen eigentumsrechtlichen Grundlegung beginnt und dann ihre Etappen – von der Entstehung über die rechtliche Anerkennung im Liberalismus bis zur Instrumentalisierung durch die fortschreitende Monopolisierung des Kapitals – im Einzelnen schildert. Am Ende dieser Entwicklung steht die schrittweise und schließlich die völlige Vernichtung der freien Gewerkschaften, die der totalitäre Staat und besonders seine extreme Ausformung im Nationalsozialismus durchgesetzt haben. Geradezu diabolisch stieß Neumann dabei die Tatsache auf, dass dieser Destruktionsprozess noch mit denselben theoretischen Mitteln analysiert werden konnte wie die Zukunftsversprechungen, die vorher damit verbunden gewesen waren.12

      Es war also ein Selbstzerstörungsvorgang allergrößten Ausmaßes, der sich als der eigentliche Schock entpuppte, und er wirkte umso nachhaltiger, als die daraus entspringende Selbstreflexion die theoretische Anstrengung befeuerte. Vielleicht muss man einen krassen Widerspruch dieser Art ins Zentrum rücken, um die Ausrichtung und Reichweite, aber auch die Wucht und den inneren Widerstreit zu verstehen, die sich in Neumanns theoretischem Denken in den 1930er Jahren Ausdruck verschafften. Er folgerte daraus einerseits entschieden die notwendige Rückkehr zur marxistischen Gesellschaftstheorie, differenzierte diesen Schritt aber andererseits durch Annahmen aus der zeitgenössischen soziologischen und politischen Theorie, für die Harold Laski und Karl Mannheim Pate standen. Die Dissertation, mit der Neumann 1936 an der London School of Economics promoviert wurde, orientiert sich ganz an diesem zweifachen Methodenprogramm und entwirft eine großflächige Strukturgeschichte der Rule of Law bzw. des Rechtsstaates in der bürgerlichen Gesellschaft:

      Beginnend mit einer pointierten Methodenkritik des Weimarer Staatsrechts, wird in einem weit ausgreifenden Exkurs die „Entzauberung des Rechts“ (Max Weber) an der Ideengeschichte des abendländischen Rechtsdenkens von Thomas von Aquin bis zu Hegel durchdekliniert – mit dem lapidaren Ergebnis, dass der Konflikt zwischen Recht und Macht, zwischen Freiheitssphäre und Staatsouveränität zwar jeweils verschieden artikuliert wurde, aber theoretisch durchgehend ungelöst blieb. Der zweite, der Hauptteil der Arbeit konzentriert sich auf die neuere Entwicklung seit dem Liberalismus und entwirft ein Theoriemodell, das speziell dem Gesetzesrecht drei Hauptfunktionen zuweist: Das Gesetz (definiert durch Allgemeinheit, Bestimmtheit und Nicht-Rückwirkung) ist staatlich gesetztes Recht (im Gegensatz zum Naturrecht) und garantiert erstens die Berechenbarkeit der Ökonomie, es sorgt zweitens politisch für die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Eigentumsordnung und verdeckt dies gleichzeitig, und es steht drittens für ein ethisches Minimum, das im individuellen Rechtsschutz kristallisiert ist.

      Dieses Konstrukt aber, so wird unmissverständlich behauptet, ist selber nur ein Idealtypus, eine theoretische Abstraktion, die zwar im englischen Parlamentarismus und im deutschen Rechtsstaatsverständnis eine gewisse Realisierung erreichte, deren wirkliche Geschichte aber anders verlief und anders verlaufen musste – zum einen, weil schon der liberale Staat sich seines irrationalen Machtüberschusses niemals entledigt hatte, und zum andern, weil dieser Staat und sein Recht im Zuge der Industrialisierung zunehmend unter das Diktat des Kapitals und seines inneren wie äußeren Expansionsstrebens gerieten. Das Letztere wird besonders deutlich greifbar an der jüngsten Entwicklung in Weimar-Deutschland, in dem das Gesetzesrecht zunehmend nicht nur für die Aufrechterhaltung des Monopolkapitalismus instrumentalisiert, sondern damit auch seiner formalen Eigenschaften beraubt wurde, um schließlich, mit dem Übergang vom autoritären zum totalitären Staat, ganz kassiert zu werden.13 Diese Diagnose war sicherlich einigermaßen grobmaschig gewebt, aber sie hielt auch ein ganzes Arsenal scharfgeschliffener analytischer Instrumente bereit, um zu verstehen, was die politische Stunde geschlagen hatte.

      Jedes politische Exil ist per se oder zumindest in den meisten historischen Fällen eine schwierige, wenn nicht ruinöse Konstellation, was erfolgreiches politisches Handeln betrifft, ebenso oft erweist es sich für viele intellektuelle Leistungen, für künstlerische oder wissenschaftliche Ideen zumal als eine Wüste der Sprach- und Wirkungslosigkeit. Für Franz Neumann trifft das nur teilweise zu: Da er in England keine Perspektive mehr für sich sah, wanderte er 1937 in die USA weiter und erhielt in New York, vermittelt durch Harold Laski, eine Anstellung in Max Horkheimers Institute of Social Research. Zwar ist es von einiger Aussagekraft, dass Neumann seine Londoner Dissertation weder in den 1930er Jahren noch später publiziert hat, als er selbst Professor an der Columbia University geworden war – immerhin hat er in gekürzter Form einige ihrer Ergebnisse in der Zeitschrift für Sozialforschung publiziert, auch wenn dabei der aufreizende Theorieimpuls und seine methodischen Folgerungen deutlich abgeschwächt wurden.14 Das aber hinderte Neumann nicht daran, sein ureigenes Projekt weiterzutreiben. Obwohl er hauptsächlich für die Finanzangelegenheiten engagiert worden war, verstand er es, die Kontaktmöglichkeiten des Instituts zu nutzen und in eine lebhafte Forschungs- und Diskussionsgemeinschaft vor allem mit Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse einzutreten, die schon vorher zum Institut gestoßen waren.

      Trotzdem ist es nach wie vor ein Geheimnis, wie es für Neumann in so kurzer Zeit möglich war, das Werk zu schreiben, das die erste große Publikation des Instituts für Sozialforschung in den USA werden und sein eigenes „magnum opus“ bleiben sollte: Das Buch trug, in gleichzeitiger Anspielung auf das Alte Testament und auf Thomas Hobbes, den Titel „Behemoth“ und erschien 1942 bei Oxford University Press.15 Es versprach eine kompakte Darstellung von Politik und Gesellschaft des Nationalsozialismus, löste diesen Anspruch auch voluminös ein und wurde daher in der amerikanischen Öffentlichkeit sofort als Standardwerk über die neueste Entwicklung in Deutschland begrüßt. Und da die USA gerade der Anti-Hitler-Koalition beigetreten waren, stand das Buch eines bislang unbekannten Exilanten aus Deutschland auch für eine politische Botschaft, die ebenso klar war, wie sie mit bemerkenswerten Ambivalenzen aufwartete: Neumann gab sich wenig Mühe, seine marxistische Grundorientierung zu verbergen, modifizierte diese lediglich durch neuere Theorien aus Soziologie, Rechtswissenschaft und Ideengeschichte und behauptete


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