Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
Читать онлайн книгу.dann in Anmerkungen integriert15, wenn sie für die im Gange befindlichen Ausführungen nützliche Einzelheiten und Präzisierungen boten.
Jacques Derrida besaß eine umfangreiche persönliche Bibliothek zur Todesstrafe; seine Anmerkungen in Büchern, wissenschaftlichen Aufsätzen, Zeitungsartikeln oder auch Publikationen von Amnesty International belegen eine umfassende und diversifizierte Dokumentation. In seinem Arbeitszimmer stehen diese Dokumente an passender Stelle, nämlich neben denjenigen, die die anderen Schreibprojekte betreffen, denen er sich zur selben Zeit widmete, insbesondere denen zu Berühren – Jean-Luc Nancy.16
Anders als bei einigen anderen Seminaren, die vor oder nach dem zur „Todesstrafe“ gehalten wurden, ist sehr wenig von Derridas eigenen Untersuchungen zu diesem Thema von ihm selbst in Frankreich veröffentlicht worden. Es sei jedoch festgehalten, dass er 1995, also vier Jahre vor Beginn des vorliegenden Seminars, das Vorwort zu < der französischen Ausgabe von > Live from Death Row von Mumia Abu-Jamal geschrieben hatte.17 Die einzige Publikation, die direkt mit diesem Seminar verbunden ist, war, wie bereits erwähnt, der Vortrag in Sofia, den Derrida der Zeitschrift Divinatio anvertraut hatte.
Man kann jedoch Derridas Ausführungen in Woraus wird morgen gemacht sein? Ein Dialog18 als eine regelrechte Synthese seines Seminars lesen; darüber hinaus sei darauf hingewiesen, dass Jacques Derrida einige Tage nach dem 11. September 2001 bei einer Zwischenlandung in Hong Kong (auf einem Umweg seiner China-Reise, wo es ihm nicht möglich war, sein Seminar offen zu präsentieren, zum einen aufgrund des Tabucharakters des Themas, aber auch aufgrund der Risiken, die seine Gastgeber und Freunde dadurch eingegangen wären19) es wagte, das Thema der Todesstrafe erneut zu diskutieren. Nach dem Zeugnis von Chan-Fai Cheung und Kwok-Ying Lau (Professoren des Philosophie-Departments der Universität, die für seinen Auftritt verantwortlich zeichneten) hielt Derrida dort über mehrere Stunden hinweg einen improvisierten Vortrag, in dem er die Frage der Globalisierung mit der der Todesstrafe kreuzte.
Wir danken Marguerite Derrida, die uns die Türen ihres Hauses öffnete und Zugang zu Jacques Derridas Bibliothek, seinen Büchern und seinen Arbeitsdokumenten gewährte. Ohne ihre warmherzige und aufmerksame Unterstützung hätte diese Arbeit nie vollendet werden können. Desweiteren danken wir Chan-Fai Cheung und Kwok-Ying Lau von der Chinesischen Universität in Hong Kong; François Borde und José Ruiz-Funes vom IMEC; den Herausgebern der beiden Bände des vorhergehenden Seminars, Séminaire La Bête et le Souverain, die Pionierarbeit leisteten und uns gleichsam als Führer dienten: Michel Lisse, Marie-Luise Mallet und Ginette Michaud; den jungen Forschern Delmiro Rocha, Federico Rodiguez Gomez und Beatriz Bianco sowie Cristina de Peretti für ihre Hilfe während der vergangenen vier Jahre; den zahlreichen Forschern des „Derrida Seminars Translation Project“ unter der Leitung von Peggy Kamuf; Eric Prenowitz für die Bereitstellung seiner Tonbandaufzeichnung des Seminars; Patrice Théry und Dominique Perrin vom Centre audivisuel et multimédia der Universität Lille 3 für die Digitalisierung der Audio-Dateien.
Geoffrey Bennington
Marc Crépon
Thomas Dutoit
Erste Sitzung
8. Dezember 1999
Was würden Sie jemandem antworten, der Ihnen gleich zu Beginn, wenn alles noch im Dämmer liegt1, sagen würde: „Wissen Sie, die Todesstrafe ist das Eigene des Menschen“?
(Langes Schweigen)
Ich meinerseits wäre versucht, demjenigen – allzu schnell – zu antworten: Ja, Sie haben recht. Wenn sie nicht das Eigene Gottes ist – oder ebendies nicht auf dasselbe hinausläuft. Dann, kraft einer anderen Versuchung – oder einer Gegen-Versuchung – der Versuchung widerstehend, wäre ich bei näherem Nachdenken versucht, nicht allzu schnell zu antworten und ihn warten zu lassen – Tage und Nächte lang. Bis der Morgen dämmert.
(Langes Schweigen)
Es dämmert, jetzt, wir befinden uns in der einsetzenden Dämmerung. Im ersten Licht der Dämmerung. Im weißen Licht der Morgendämmerung [aube] (alba). Noch vor dem Anfang, wollen wir beginnen. Würden wir beginnen.
Wir würden beginnen, indem wir so tun, als würden wir vor dem Anfang anfangen.
So als ob wir bereits das Ende hinauszögern wollten, da wir dieses Jahr, mit der Todesstrafe, eben gerade über das Ende sprechen werden. Es ist zwar ein Ende, aber ein beschlossenes Ende, beschlossen durch ein Verdikt, ein Ende, das durch eine Gerichtsentscheidung [arrêt de justice] festgelegt wurde [arrêtée], es ist ein beschlossenes [décidée] Ende, über das wir bestimmt [décidément] endlos sprechen werden, aber ein Ende, das vom Anderen beschlossen wurde, was nicht unbedingt, a priori, bei jedem Ende und bei jedem Tod der Fall ist, zumindest wenn man annimmt, diesmal in Bezug auf die Entscheidung, auf das Wesen der Entscheidung, dass sie überhaupt jemals anders getroffen wird als durch den Anderen. Und wenn man annimmt, dass die Entscheidung, über die zu sprechen wir uns gerade anschicken, die Todesstrafe, nicht der Archetyp selbst der Entscheidung ist. Wenn man also annimmt, dass jemals irgendjemand eine Entscheidung trifft, die die seine, für ihn selbst, seine eigene ist. Ich habe diesbezüglich schon oft meine Zweifel zum Ausdruck gebracht. Die Todesstrafe als souveräne Entscheidung einer Macht erinnert uns vielleicht, vor allem anderen, daran, dass eine souveräne Entscheidung immer eine des Anderen ist. Vom Anderen kommend.
Wir würden also so tun, als begännen wir nicht nach dem Ende, nach dem Ende der Todesstrafe, die heute nur in einer begrenzten Zahl von Nationalstaaten der Welt abgeschafft ist, einer zwar wachsenden Zahl, die aber noch begrenzt ist (vor zehn Jahren eine Minderheit – 58 Länder –, heute eine knappe Mehrheit2), sondern als begännen wir vor dem Anfang, am Vorabend des Anfangs, in der Morgendämmerung, am frühen Morgen, so als wollte ich, etwas pathetisch (aber wer würde wagen, ein nicht-pathetisches Seminar über die Todesstrafe zu halten) [so als wollte ich lieber, auf bewusst pathetische Weise] damit beginnen, Sie – noch bevor wir anfangen, noch in der Dämmerung – in jene frühen Morgenstunden der Gefängnisse, sämtlicher Inhaftierungsorte der Welt zu führen oder Sie dort mit mir festzuhalten, wo zum Tode Verurteilte darauf warten, dass man kommt, um ihnen entweder einen souveränen Gnadenerweis zu verkünden (jene Gnade, über die wir letztes Jahr im Zusammenhang mit der Vergebung viel gesprochen haben), oder sie abzuholen, wobei stets ein Priester anwesend ist (und ich insistiere darauf, denn ich werde heute vor allem über politische Theologie sprechen, und über die Religion der Todesstrafe, über die Religion, die bei der Todesstrafe immer präsent ist, über die Todesstrafe als Religion) [sie also abzuholen], um sie zu einer der zahlreichen Einrichtungen zur legalen Tötung zu bringen, die die Menschen einfallsreich erfunden haben, die gesamte Geschichte der Menschheit hindurch, als einer Geschichte der Techniken – Techniken im Bereich der Polizei, des Kriegswesens und des Militärs, aber auch auf dem Gebiet von Medizin, Chirurgie und Anästhesie –, um die sogenannte Kapitalstrafe3 zu verabreichen [administrer]. Mit der Grausamkeit, die Sie kennen, einer Grausamkeit, die immer dieselbe ist und von der Sie zumindest wissen, dass sie von der größten Brutalität des Abschlachtens bis zur perversesten Raffinesse, von der blutigsten oder brennendsten Folter bis zur höchst verleugneten, maskierten, unsichtbaren, überaus subtil bewerkstelligten Qual gehen kann, wobei die Unsichtbarkeit oder die Verleugnung niemals, in keinem Fall, etwas anderes sind als ein Teil der theatralischen, ja voyeuristischen Maschinerie des Spektakels. Per definitionem, ihrem Wesen nach sowie ihrer Berufung gemäß, wird es für eine legale Tötung, für eine Anwendung der Todesstrafe nie Unsichtbarkeit gegeben haben, für dieses Verdikt hat es prinzipiell nie eine geheime oder unsichtbare Vollstreckung [execution] gegeben. Schauspiel und Zuschauer sind unabdingbar. Das Gemeinwesen, die polis, die Politik