Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
Читать онлайн книгу.zu weit voneinander entfernt. Ich wollte runter…«
»Ich will auch runter«, erwiderte er.
Er lachte, amüsierte sich über die Geschichten, ließ sie Unsinn reden, alle möglichen Kindereien und zärtliche Albernheiten schwatzen. Dieses alles fand er entzückend im Munde Madame de Marelles, während dasselbe im Munde Frau Walters ihn zur Verzweiflung gebracht hätte.
Clotilde nannte ihn auch: »Mein Liebling«, »mein Kleiner«, »mein Kätzchen«. Diese Worte schienen ihm süß und liebkosend zu sein. Wenn sie aber die andere vorhin gebrauchte, wurde er nervös und wütend. Denn Liebesworte, die stets dieselben sind, nehmen bekanntlich den Geschmack der Lippen an, die sie aussprechen.
Aber trotzdem ihn diese Tollheiten erheiterten, dachte er immerfort an die 70000 Francs, die er gewinnen sollte, und plötzlich unterbrach er das Geschwätz seiner Freundin, indem er ihr mit dem Finger zwei leichte Klapse auf den Kopf gab.
»Hör’ mal zu, mein Schatz, ich will dir einen Auftrag für deinen Mann geben. Sage ihm von mir, er solle sich morgen für 10000 Francs Marokkoanleihen kaufen. Sie steht auf 72; und ich kann ihn versichern, dass er binnen drei Monaten 60- bis 80000 Francs verdienen wird. Er soll darüber aber absolutes Stillschweigen bewahren. Sag’ ihm von mir, dass die Tangerexpedition schon beschlossen ist und dass der französische Staat die marokkanische Anleihe garantieren wird. Sag’ den anderen aber kein Wort. Es ist nämlich ein Staatsgeheimnis, das ich dir anvertraue.«
Sie hörte ernst zu, dann sagte sie leise:
»Ich danke dir, ich werde es meinem Manne heute Abend bestellen. Du kannst dich auf ihn verlassen, er wird nicht darüber schwatzen. Er ist ein sehr zuverlässiger Mensch. Du kannst ruhig sein.«
Inzwischen hatte sie alle Kastanien aufgegessen, zerknüllte die Tüte und warf sie in den Kamin. Dann sagte sie:
»Komm, wir wollen zu Bett.«
Und ohne aufzustehen, begann sie Georges Weste aufzuknöpfen.
Plötzlich hielt sie inne und zog mit zwei Fingern ein langes Haar aus seinem Knopfloch heraus. Sie lachte:
»Halt! Du hast ein Haar von Madeleine mitgebracht, du bist aber ein treuer Ehegatte.«
Dann wurde sie wieder ernst und prüfte lange auf der Hand den kaum sichtbaren Faden, den sie gefunden hatte.
»Es ist nicht von Madeleine, es ist schwarz.«
Er lächelte.
»Dann stammt es sicher von dem Stubenmädchen.«
Doch sie untersuchte die Weste mit dem scharfen Blick eines Polizisten und sie fand ein zweites Haar, das um einen Knopf gewickelt war, dann ein drittes; sie wurde bleich und rief zitternd aus:
»Oh, du hast mit einer Frau geschlafen, die dir ihre Haare um deine Knöpfe befestigt hat.«
Er war erstaunt und stammelte:
»Aber nein, du bist verrückt!«
Auf einmal fiel es ihm ein, er begriff es; nun wurde er verlegen, dann leugnete er lachend, denn er war im Grunde gar nicht böse, dass sie es ahnte, dass er Glück bei anderen Frauen hatte.
Sie suchte immer weiter und fand Haare, die sie mit einer schnellen Bewegung abwickelte und dann auf den Teppich warf.
Mit ihrem feinen, schlauen Fraueninstinkt hatte sie die Wahrheit erraten, und sie stammelte rasend vor Wut und mit Tränen in den Augen:
»Sie liebt dich, die da …, sie wollte, du solltest etwas von ihr herumtragen… Oh! Du bist treulos!«
Aber dann stieß sie einen Schrei aus, einen gellenden nervösen Freudenschrei:
»Oh! … Oh! es ist eine Alte … da ist ein weißes Haar … Ach, du nimmst dir jetzt alte Weiber? … Du lässt dich dafür bezahlen? Zahlen sie viel? Ha! Du bist auf alte Weiber scharf! … Dann brauchst du mich nicht mehr … Behalte dir die andere!«
Sie stand auf und griff nach ihrer Bluse, die auf einem Stuhl herumlag, und zog sie hastig an.
Er wollte sie zurückhalten; er fühlte sich beschämt und stammelte:
»Aber nein … Clo … du bist dumm … ich weiß nicht, woher es kommt … höre mal … bleibe doch hier … komm … geh nicht fort!«
Sie wiederholte:
»Behalte dein altes Weib … behalte sie … lass dir aus ihren Haaren einen Ring machen … aus den weißen Haaren … du hast genug davon da …«
Mit jähen und schroffen Bewegungen hatte sie sich schnell angezogen, den Hut aufgesetzt und ihren Schleier umgebunden. Er wollte sie festhalten; mit einem heftigen Schwung gab sie ihm eine Ohrfeige, und während er betört dastand, öffnete sie die Tür und eilte davon.
Sobald er allein, ergriff ihn eine rasende Wut gegen die alte Schachtel, die Mama Walter. Oh, jetzt würde er sie fühlen lassen, und zwar gründlich. Er kühlte sich seine rote Wange mit Wasser. Dann ging er auch hinaus und überlegte sich seine Rache. Dieses Mal würde er es ihr nicht verzeihen. Nie im Leben!
Er ging langsam den Boulevard herunter und blieb vor einem Juwelierladen stehen. Er betrachtete im Schaufenster einen Chronometer, den er sich schon lange wünschte. Er kostete 1800 Francs.
Plötzlich begann sein Herz vor Freude zu klopfen und er dachte: »Wenn ich die 70000 Francs verdiene, kann ich es bezahlen.« Und er begann zu träumen, was er alles mit seinen 70000 Francs tun könnte.
Zunächst würde er sich zum Abgeordneten wählen lassen, dann würde er sich den Chronometer kaufen, er würde an der Börse spielen und dann … und dann noch … Er wollte nicht auf die Redaktion gehen, er zog es vor, mit Madeleine die Sache zu besprechen, bevor er Walter wieder sah und seinen Artikel schrieb, und so schlug er den Weg nach Hause ein.
Als er die Rue Drouot erreichte, blieb er plötzlich stehen. Er hatte vergessen, sich nach dem Befinden des Grafen de Vaudrec zu erkundigen; er wohnte in der Chaussee d’Autin. Er kehrte langsam um und dachte in glücklicher Träumerei an tausend angenehme und schöne Sachen, an den kommenden Reichtum, an den Trottel Laroche und an die alte Hexe, die Frau Direktor. Übrigens machte ihm Clotildes Zorn weiter keine Sorge, denn er wusste wohl, dass sie ihm bald verzeihen würde.
Im Hause, wo Graf de Vaudrec wohnte, fragte er den Portier:
»Wie geht es dem Grafen? Ich hörte, dass er die letzten Tage krank war?«
»Dem Herrn Grafen geht es sehr schlecht, mein Herr«, bekam er zur Antwort. »Man glaubt, dass er die Nacht nicht überleben wird. Die Gicht ist ihm bis ans Herz gestiegen.«
Du