Die Siebte Sage. Christa Ludwig

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Die Siebte Sage - Christa Ludwig


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Sie musste durch das Haus eines Ministers gegangen sein, aber den Jungen war sie entwischt. Auf keinen Fall würde auch nur einer ihr auf diesem Weg folgen. Nur – sie war noch lange nicht zu Hause. Sie stellte sich dicht an die weiße Hauswand und trat mit dem Schuh über den bloßen Fuß. Wie sollte sie weitergehen? Hier rannte niemand, weder auf dem endlosen Platz noch auf den Wegen um ihn herum. Und – oh! – sie hatte jetzt nicht mehr die Jungen hinter sich, keinen Grund zu rennen, keine Möglichkeit vorzutäuschen, dies sei ein Spiel.

      Die Plaza de las Poemas war kein Ort der Hast, sondern eine Stätte des geruhsamen Schreitens. Nur den kleinen Kindern, die in den Bächen planschten, war das Laufen gestattet. Die Männer saßen auf den Steinbänken. Die meisten trugen das araminische Tuch um den Kopf gebunden, doch es waren auch bardische Gesichter darunter. Sie redeten, besprachen philosophische, mathematische und rechtliche Fragen, zwei spielten Schach mit lebendigen Figuren, der eine mit Dunkelleuten aus Afrika, der andere mit hellen Figuren aus dem Norden, die Dshirahs Volk ähnlich sahen. Auch die wenigen Frauen, die sich verhüllt und tief verschleiert am Rande bei den Kindern aufhielten, bewegten sich langsam und gemächlich. Dshirah schaute, ob sie eine Strecke fand, auf der niemand ging, eine Schlangenlinie quer über den Platz, immer weit genug entfernt von Augen, die ihr auf den nackten Fuß schauen konnten. Sollte sie sich in die Nähe der Philosophen begeben, die vielleicht darüber nachdachten, ob der Himmel oder ob das Wasser blau sei? Oder lieber an den Rechtsgelehrten vorbeigehen, die sich mit Sicherheit – wie immer – darüber stritten, ob man zum Tode Verurteilte köpfen sollte, wie es bei den Araminen üblich war, oder erhängen, wie die Barden verlangten?

      Sie schaute nach links.

      Da war die Fassade eines alten araminischen Gotteshauses, das gut gepflegt, aber seit der Zeit von Armei dan Hasud leer war. Sie schaute nach rechts. Da war das größte der prachtvollen Bäder dieser Stadt, in der es fast 800 öffentliche Bäder gab, und nicht eines hatte Dshirah jemals von innen gesehen. Nirgendwo ein Weg, frei von Menschen und deren Blicken. Und dann erkannte sie rechts neben sich auch noch das vergoldete mannshohe Gitter im Maul eines Mosaiklöwen. Hier endete der Löwengang, der bis zu dem Käfig mit den beiden Löwen oben im Palast von Kalif Hisham III. führte. Wenn sie nicht bald einen Fluchtweg fand, brauchten die Rechtsgelehrten nicht mehr über Schwert und Strick zu verhandeln. Wenn man sie so, wie sie hier stand, erwischte, würde man ihre Familie weder köpfen noch hängen, dann würden die Löwen endlich einmal wieder etwas zu jagen haben, bevor sie es fraßen.

      Von links kam Lärm, Unruhe, Bewegung. Rettung? Eine Gruppe kleiner Kinder, Dshirah sah das Zeichen der Bäcker und Köche auf ihren Hemden. Sie wurden vielleicht zum ersten Mal auf die Plaza geführt, der Lehrer gab ihnen ein Zeichen und sie stürmten los. Sie sollten hier lesen lernen. Denn der Platz war mit Buchstaben, Silben, Worten gepflastert. Die Dichter kamen hierher und erfanden im gemächlichen Schreiten hin und her, kreuz und quer über den Platz endlose Gedichte, die entstanden und vergingen und die außer der Sonne niemand las. Aber man glaubte in Al-Cúrbona, dass die kurzlebigen Gedichte die Luft durchtränkten, das Atmen würzten, die Lungen reinigten.

      «Ich helfe euch!», rief Dshirah und warf einen fragenden Blick auf den Lehrer. Der schaute auf ihre Schulter, sah den Pferdekopf, ja, sie war vom selben Rang wie die Kinder der Bäcker und Köche, und er nickte.

      So sprang Dshirah mit den Kindern über den Platz, von Buchstabe zu Buchstabe, sagte: «Gota, alef, fora …», die Kinder sprachen ihr nach und hüpften. Sie hatte keine Angst, dass die Kleinen ihr Geheimnis entdeckten, denn in Al-Cúrbona lernten alle immer zuerst lesen und dann zählen. So sprangen sie an dem Brunnen vorbei und um die große marmorne Statue von Armei dan Hasud herum. Der Gelehrte saß nachdenkend, den Kopf auf die rechte Hand gestützt, ein stilles, freundliches Lächeln lag auf seinem Gesicht. Dshirah blieb stehen und grüßte ihn mit einem leichten Neigen des Kopfes, und das taten auch die kleinen Kinder. Armei dan Hasud zu achten, lernte man in Al-Cúrbona so früh, wie den Kalifen zu ehren.

      Dshirah erreichte das südwestliche Ende des Platzes. Durch die anschließenden Straßen würde sie wieder rennen dürfen.

      «Geht denselben Weg zurück», sagte sie, winkte dem Lehrer auf der anderen Seite noch einmal zu, wollte in den Gassen verschwinden, hörte einen Schrei: «Dshirah!!!» Silbãos Stimme. «Warte! Warte doch! Dshirah!!!» Und sie rannte.

      Er wird mich einholen, dachte sie, er ist schneller als ich, er weiß ja, in welche Richtung ich laufe, ich muss nach Haus, wo soll ich sonst hin?

      Es war jetzt nicht mehr so voll in den Gassen. Die meisten, die nicht mehr arbeiten mussten, hatten sich schon mit ihren Freunden auf der Plaza oder auf den anderen Plätzen bei den Springbrunnen getroffen. Dshirah kam gut voran. Aber was nützte ihr das? Sie konnte versuchen, Silbão zu täuschen, und in die kleinen quer liegenden Gassen verschwinden, doch das würde ihr nicht helfen. Auch Silbão war klug genug, um zu wissen, dass er sie auf der weiten Ebene zu ihrem Elternhaus sehen und einholen konnte. Er musste sie nur überholen und dann am Stadtrand warten.

      Zaiira, dachte Dshirah, es tut mir leid, ich will dir das nicht antun, aber nur du kannst mich retten.

      Zaiira war ihre heimliche Freundin. Ihr Vater war ein adliger Aramine und der oberste Verwalter der Gestüte des Kalifen. Er hatte viel mit Dshirahs Vater zu besprechen, Zaiira begleitete ihn oft und Dshirahs Familie hatte nicht bemerkt, dass sich die beiden Mädchen mehr als nur vom Ansehen kannten. Zaiiras Haus war das letzte am Stadtrand vor den weiten Ebenen, in denen die halbwilden Sorraia-Pferde lebten.

      Dshirah lief in eine schmale Seitengasse, dort wohnten Sattler. Vor den Häusern lagen Berge von gegerbtem Leder. Sie verkroch sich darin, sie war zu erschöpft und musste verschnaufen. So wartete sie, bis sie Silbão vorbeilaufen sah. Jetzt erst merkte sie, wie sehr ihr der rechte Fuß wehtat. Sie ging ja niemals barfuß wie die anderen Kinder, nie. Auf dem glatten Pflaster in der Stadt würde sie schon noch laufen können, aber nicht über das Feld in der Ebene. Sie ging langsamer weiter, die Gassen waren leer und sie kannte jetzt ihren Weg.

      So erreichte sie Zaiiras Haus. Hier war sie ein gern gesehener Gast. Sie musste sich nur vor den Dienern verbergen, bis Zaiira ihr ein Hemd mit einem Schwert auf der Schulter brachte. Sobald sie das trug, war sie in diesem Haus die Tochter eines Offiziers. Zaiiras Eltern grinsten über den kleinen Betrug. Sie kümmerten sich wenig um die Rangordnung, sondern freuten sich mit ihrer einzigen Tochter an dieser Freundschaft. Zaiira war zwölf und das einzige Kind des Fürstenhauses Al-Antvari. Sidi Antvari hatte keinen Sohn. Seine Frau hatte nach Zaiira kein gesundes Kind mehr geboren. Ein Junge hatte drei Tage gelebt und war dann gestorben. Natürlich hätte Antvari sich eine zweite Frau nehmen können, eine dritte, eine vierte, aber er hatte sich entschieden, mit dieser und keiner anderen Frau zu leben. So war es Sitte gewesen im Volk der Barden, die meisten bardischen Familien hielten sich noch heute daran, und einige Araminen hatten sich ihnen angeschlossen.

      Dshirah trat durch den Haupteingang ein, ging die Stufen hinauf zu den Frauengemächern. Auf der Treppe war es dunkel. Sie stolperte über etwas Weiches, hörte ein Fauchen und sah Zaiiras Falbkatze die Stufen hinunterlaufen, ein heller Streifen, fahlgelb wie die halbwilden Sorraia-Pferde. Dshirah trat in Zaiiras Zimmer. Aber ihre Freundin war nicht dort. Sie hörte Stimmen auf der Treppe. Zwei Dienerinnen stritten. Das würden sie nicht wagen, wenn die Herrschaft im Haus wäre. War Zaiira mit ausgegangen? Oder war sie hinten bei den Stallungen? Oder unten im Patio? Dshirah schaute aus dem Fenster hinunter in den Innenhof. Sie sah niemanden. Wenn sie aus dem Fenster kletterte, am Weinlaub hinunter bis in den Patio, sich dann weiter schlich bis zu den Stallungen … Oder sollte sie hier warten? Aber es war sehr leicht möglich, dass eine Dienerin kam, um zu putzen. Sie blickte noch einmal über den Patio. War wirklich niemand da? Nein. Sie schwang sich aus dem Fenster, ließ sich an den Ranken hinunter und das letzte Stück fallen. Sie fiel Zaiira vor die Füße, die mit einem Buch auf einer Bank an der Hauswand saß und ihr nicht ins Gesicht schaute. Zaiira war so blass, wie ihr dunkles araminisches Gesicht überhaupt blass sein konnte. Sie starrte auf Dshirahs bloßen Fuß, dann hob sie den Kopf und sagte: «Du?»

      Dshirah verbarg den Fuß nicht mehr, sah der Freundin in die Augen und sagte: «Ja. Ich.»

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