Der Erzähler Rudolf Steiner. Ulrich Kaiser

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Der Erzähler Rudolf Steiner - Ulrich Kaiser


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oder gar zynischen Distanziertheit oder Teilnahmslosigkeit. Er unterscheidet sich genauso vom distanzlosen Zitat, blinder Bestätigung. Das Stichwort der Knechtschaft bezeichnet den nicht gewünschten dogmatisch-abhängigen Bezug.

      Dialogische Konstellation: Einen großen Teil seiner Aussagen trifft Steiner dezidiert in lauschender, antwortender, möglicherweise sogar responsiver80 Haltung gegenüber seinen Zuhörern. »Ich höre auf die Schwingungen im Seelenleben der Mitgliedschaft, und in meinem lebendigen Drinnenleben in dem, was ich da höre, entsteht die Haltung der Vorträge.« (GA 28, 444, vgl. 451). Vermutlich gilt diese Abhängigkeit vom Kontext weit mehr, als Steiner explizit deutlich macht. Viele, wahrscheinlich alle der praktischen Gründungen etwa in der Pädagogik, der Medizin oder der Landwirtschaft gehen auf die Initiative oder Anfrage anderer zurück, auf die Steiner dann erst »sprudelnd« antwortet. Selbst die theosophische Karriere Steiners ist ohne die Initiative und permanente Unterstützung von Marie von Sievers, später Marie Steiner oder anderer wie Michael Bauer oder Carl Unger nicht denkbar. Steiners Werk ist deshalb in eminenter Form eingelassen in sein Umfeld, Teil von persönlichen Konstellationen81 und weitgehend nur von da her verstehbar. Konstellationsforschung in diesem Sinn ist ein Desiderat, weil sie die Konstellationen aufzuweisen vermag, in welchen sich Steiner bereits befindet. Das gilt schließlich nicht nur auf Personen bezogen, sondern ebenso auf das kulturelle Umfeld und die Bildungsinfrastruktur (also Steiners Bibliothek zum Beispiel).

      Im Feld dialogischer Konstellationen allerdings, auf die es mir hier hermeneutisch ankommt, ist insbesondere der Situation Steiners als eines (je) Anderen Rechnung zu tragen. Jeder Andere nämlich, im Sinne der Philosophie von Emmanuel Levinas (1906–1995), steht hermeneutisch prinzipiell höher als ich, in Asymmetrie82 zu mir, insofern ich, was von ihm kommt, grundsätzlich nicht berechnen kann. In diesem Sinn bereits ist Steiner ein Anderer. Mit seinem starken Werk ist er das sogar in besonderer Weise. Der Andere im Sinne von Levinas freilich zeichnet sich nicht in erster Linie durch seine Stärke aus, sondern durch seine Verletzlichkeit. Die verletzlichen Seiten am Werk Steiners zeigen sich zwar in der möglichen Kritik, mehr aber noch in der allgegenwärtigen Möglichkeit des Nicht-Verstehens. Das Nicht-Verstehen kann darauf zurückgehen, sich nicht auf einen verwandelnden Standpunkt begeben zu wollen; es kann aber auch darin bestehen zu meinen, das Werk, die Worte, die Sätze in der bloßen Wiederholung verstanden zu haben. Die Worte Steiners dürfen nicht in der Art eines Echos wiederholt werden, das als Antwort leer bleibt. Sie müssen verantwortet werden, indem sie sich in der Antwort zu einem Eigenen verwandeln. Indem sie Möglichkeiten aktivieren. Auch Steiners Werk muss gegebenenfalls unbequem befragt werden. Es bedarf unserer Fragen. Es muss sich durch unsere Fragen weiterentwickeln.

      Auch insofern sind dialogische Konstellationen immer asymmetrisch strukturiert. Allerdings wechselweise asymmetrisch, nicht festgefroren. Steht das Ideal der Augenhöhe für den zwangslosen Zwang besserer Argumente und eines entspannten Austausches, für das gegenseitige sich frei lassen und sich frei fühlen im Gespräch, so birgt es die Gefahr der Nivellierung und des bequemen Einverständnisses. Tiefer und grundlegender als Augenhöhe liegt Asymmetrie. Vielleicht wird Augenhöhe durch Asymmetrie erst ermöglicht. Asymmetrie: das Bemerken des Andersseins, das Geltenlassen von Diversitäten, die Sphäre der Möglichkeiten, der Irritation und Anziehung, der allmählichen Entwicklung, der tastenden Suche, der Angewiesenheit auf Inspiration, der Mühsal des Verstehenwollens, der überraschenden Einsicht: der dialogischen Konstellation. Das freie und gleichwohl nicht willkürliche bilaterale Spiel83 dieser Konstellation lässt, wo es nicht festhakt, Dogmatisierungswirkungen nicht zu und löst, wo es kultiviert wird, die Verkrustungen vorhandener Dogmatisierung auf. Dann freilich ist es ein Feld der Konstellationen, in dem Steiner nicht der einzige Bezugspunkt sein kann und nicht die einzige Person ist, die erzählt.

      Gegen Lebendigkeit und Selbstverantwortung wirkend – einige Fundstellen dazu im Werk Steiners84:

      »Die Theosophie hat keine Dogmatik. Sie will nur spirituelles Leben sein.« (GA 34, 552); »Nicht ein Buch haben wir in der Hand und verkünden die Lehrsätze des Buches, Leben sind wir, und Leben wollen wir mitteilen. Und so viel Leben wir mitteilen, soviel wird die Theosophie wirken.« ( GA 52, 419); ähnlich (GA 53, 43 und 447); Gegenbegriffe zur Dogmatik (»mit ein paar Rezepten aus der Gedankenfabrik«): Hingabe, Erkenntnis, »gesundes, tiefes, eingehendes Denken« (GA 56, 232); Theosophie als positive Lebenshaltung, nicht kalter Dogmatismus ( GA 53, 86); »Vertiefung unseres ganzen geistigen Lebens«, nicht »Summe von Lehren und Dogmen« (GA 54, 334); Gegenbegriff: »Vertiefung«, bloße Dogmen ergeben »Phantasterei« (GA 101, 81); »ungeprüft soll nichts einfach wiederholt werden« (GA 126, 59), »individueller Einschlag« als Profil der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft (GA 126, 59); theosophische Lehren »nicht als Dogmen hinnehmen« sondern als »Anfeuerungsmaterial für die Seele« einsetzen (GA 127, 151); sie sind »Heizmaterial für den Menschen« (GA 106, 173); Theorien vs. geistiger »Lebenssaft, Lebenstrank, Lebenselixier« (GA 116, 53); statt Dogmen »fließendes Leben« (GA 109, 267); »Mitteilungen nicht wie Dogmen aufnehmen« (GA 60, 219); »festgestellte, starre, erstarrte Dogmen« (GA 168, 102); nicht »abgeschlossene Dogmen« ( GA 198, 91); »nicht bloß leere Dogmen, … sondern im eminentesten Sinn Leben« (GA 284, 125); gegenüber dem »Dogmengezänke … ins Leben eintreten« (GA 303, 10); eine faktische Schwierigkeit innerhalb der Theosophischen Gesellschaft sei gewesen: »ein großer Teil der Mitglieder schwor auf Dogmen.« (GA 28, 412); vgl. auch den Bericht von dem Kongress der Föderation europäischer Sektionen der Theosophischen Gesellschaft in Paris 1906: »Es wurde gesagt, dass vor allem eine gewisse Art des Denkens und Fühlens den Theosophisten [sic] mache, weniger aber die Aufnahme bestimmter Dogmen und Lehren« (GA 34, 581). – »Dem Okkultisten geht es niemals darum, Dogmen aufzustellen. Er erzählt, was er gesehen hat, was er erforscht hat …« (GA 94, 66).

      Vehikel der Erkenntnis und der Verwandlung des Lebens – weitere Fundstellen im Werk Steiners:

      Es käme darauf an, »zu verlernen, in der Anerkennung eines Lehrsatzes das Richtige zu suchen« (GA 52, 422, meine Hervorhebung). »Nicht bloß, um mit dem Verstande theosophische Dogmen zu begreifen, werden diese Lehren erteilt, sondern um mit dem Herzen sie zu erfassen« (GA 109, 249). Die Theosophische Gesellschaft sei »nicht nur Stätte der Verbreitung von diesen oder jenen Dogmen«, sondern wolle » tief ein[zu]greifen in das ganze Leben des Menschen « (GA 284, 89). Bemerkenswert ist der methodische Ansatz, »Dogmen und abstrakte Bilder … in Bilder [zu] verwandeln« (GA 98, 22 f.). Die Theosophie »predigt« nicht einzelne Dogmen (GA 34, 506), es geht nicht um »Propagierung irgendwelcher Dogmen« (GA 53, 43). Dogmatik »kann durchaus Wahrheit enthalten«, es komme allerdings darauf an, sie zu verstehen und erkennen (GA 97, 169). Von »großen Lehren der Anthroposophie« ist die Rede (GA 174b, 23). Es gibt auch die Vokabel »verkünden« – die verkündeten Lehren sollen aber vom Allgemeinen zum Besonderen hin verstanden werden, wozu auch gehört, dass »wir dann in gewisser Weise das modifizieren müssen, was … noch dahinter liegt« (GA 108, 318, meine Hervorhebung). Steiner erläutert unter dem Motto »unsere anthroposophische Überzeugung« die Devise, ins praktische Leben hineinzuwirken (GA 192, 12). Zentrale Aufgabe des Theosophen sei es, »Vernunft auf die Lehren an[zu]wenden, die ihm zufließen« (GA 264, 223). »Bei der theosophischen Bewegung handelt es sich darum, dass die Lehren, die wir verbreiten, das Mittel sind, um das innere Leben im Menschen zu entzünden« (GA 264, 370, meine Hervorhebung). Eine exoterische Lehrstunde unterscheide sich von einer esoterischen darin, dass in ersterer Lehren »aufgenommen« würden, in letzterer aber »erlebt« (GA 266/I, 251). Ein »gründliches Studium« der Lehren sei nötig, um »andere Menschen« zu werden (GA 266/II, 142). Es »können unsere Lehren nur geistig aufbauen« (GA 266/III, 56). Affirmativ erwähnt werden »unsere geisteswissenschaftlichen Lehren« auch in (GA 286, 70).

      Lob der Hypothese

      »Gewiss, jeder kann das nachprüfen … Da werden gewiss


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