Der Erzähler Rudolf Steiner. Ulrich Kaiser

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Der Erzähler Rudolf Steiner - Ulrich Kaiser


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Wenn wir in der Kunst lediglich einen Ort der Beliebigkeit sehen, stellt sich die Frage, wie diese ursprüngliche Verbindung mit dem Wissenschaftsanspruch vereinbar ist.

      Die Frage stellt sich umso mehr, als Steiner eine religiöse Vertiefung für seine Aussagen beansprucht, dass ihm in gewisser Weise die säuberliche Trennung zwischen Wissen und Glauben, eine Errungenschaft unserer Kultur, als zu einfach erscheint. Denn es gehört zum Beispiel für ihn zur spirituellen Entwicklung – sie soll zu »höheren Erkenntnissen« führen – die Pflege religiöser Gefühle wie Ehrfurcht oder Devotion.

      Eine weitere Grenzüberschreitung ist darin zu sehen, dass große Teile von Steiners Anthroposophie als Esoterik einzuordnen sind. Was den Wissenschaftsanspruch angeht, hätten wir es mit einem ähnlichen Verhältnis zu tun, wie es die Alchemie zur Chemie darstellt. Tatsächlich kann Steiner sowohl im Sinne der Chemie wie der Alchemie sprechen und tut dies auch.

      Auf diesem zweiten Feld haben wir es mit dem Thema der Gattungsgrenzen zu tun. Um was für eine Gattung von Diskurs handelt es sich bei der Anthroposophie? Ist sie eine Form des künstlerischen Ausdrucks, bei dem Wahrheitsfragen im Hintergrund stehen? Ist sie letztlich doch eine Religion? In welchem Sinn kann die neuere Esoterikforschung über ihre Besonderheiten aufklären? Immerhin sind es renommierte Vertreter der westlichen Esoterikforschung, nämlich Wouter J. Hanegraaff und Egil Asprem, die Vorworte zu der neuen Kritischen Ausgabe seiner Schriften schrieben.19 Wichtig bleibt, dass die Felder der Kunst, der Religion und der Esoterik nicht miteinander oder mit anderen verwechselt oder vermischt werden, sondern dass Klarheit über die jeweiligen Regeln bestehen bleibt und deutlich ist, in welchem »Wahrheitsprogramm«20 wir uns jeweils befinden.

      Der Althistoriker Paul Veyne versteht das von ihm vorgeschlagene Konzept der Wahrheitsprogramme analog zu Radioprogrammen, die auf einer bestimmten Frequenz gesendet werden im Unterschied zu anderen Programmen, die andere Frequenzen oder Wellenlängen benötigen. So kann er verständlich machen, dass die Griechen zwar an ihre Mythen glaubten, dass es ihnen aber niemals in den Sinn gekommen wäre, zu erwarten, dass einer der Götter ihnen leibhaftig auf der Straße begegnet wäre. Es geht um das kohärente Gespür für die Seinsebene (das Programm, die Wellenlänge) bestimmter »Wahrheiten«, die in einem Kontext richtig, in einem anderen aber falsch sein können. »Unser Alltagsleben besteht aus einer Vielzahl verschiedener Programme, […] unablässig gehen wir von einem Programm zum anderen über, so wie man im Radio die Wellenlänge wechselt, aber wir tun es, ohne es zu wissen. Die Religion ist nur ein einziges dieser Programme und wirkt sich kaum auf die anderen aus.«21 Das heißt, »dass die Wahrheit in der Mehrzahl existiert und analogisch ist. […] wir befinden uns immer im Wahren, selbst wenn wir, ohne es zu bemerken, die Wellenlänge wechseln […] Die verschiedenen Wahrheiten sind in unseren Augen alle wahr, aber wir denken sie nicht mit dem selben Teil unseres Kopfes.«22 Veynes Beispiel für die unkomplizierte Vereinbarkeit verschiedener Wahrheitssysteme ist ein mit ihm befreundeter Arzt, der sowohl begeisterter Homöopath ist, aber in schwierigen Fällen auch Antibiotika verordnet. Er vermag offenbar die verschiedenen Wahrheitsprogramme, mit denen er arbeitet und die sich eigentlich ausschließen oder jedenfalls nichts miteinander zu tun haben, so zu verbinden, dass er weiß, wann er in welches Programm wechseln muss. Eine Schwierigkeit bestünde nur, wenn er eines der Programme verabsolutieren würde.

      Veynes prägnant ausgearbeitete Idee der Wahrheitsprogramme hat zwei bemerkenswerte Seiten. Zum einen bietet es die Möglichkeit, unterschiedliche Aussagesysteme wie die Überzeugung des Virologen (er sendet auf einer teilchenorientierten Wellenlänge) und jene des Immunologen (seine Wellenlänge ist systembasiert) oder des Evolutionsbiologen und des Christen oder eines dezidiert fiktionalen und eines nüchtern faktualen Textes jeweils für sich gelten zu lassen, ohne sofort Einwände zu erheben, die aus einem anderen Programm sozusagen illegitim kommen. Es ist die Haltung des Zuhörers, der eine Erzählung aufmerksam verfolgt, um sie zunächst für sich zu verstehen, der sich für das Programm interessiert und sich auf es einlässt. Veyne unterlässt es aber zu fragen, welche Dynamik im Spiel ist, wenn wir zwischen den Programmen wechseln, ohne sie im selben Moment auch zu vergessen. Wo liegen die Berührungspunkte oder -flächen zwischen den Programmen und was passiert, wenn wir vom einen ins andere übergehen und dieses Übergehen denken und nicht ausblenden?

      Paul Veyne hat seine Idee vom Anfang der 1980er-Jahre später eingeschränkt und als unausgereift bezeichnet23 und er ist gerade jüngst kritisiert worden dafür, dass er Wahrheitsansprüche aufgebe und keine qualitativen Unterschiede im Sinne von faktual und fiktional zwischen den Programmen mache.24 Die Kritik ist richtig, sofern sie sich auf sein überzogenes Phantasma der »Paläste der Einbildungskraft«25 richtet, in dem alle Diskurse fiktiv wären. Wertvoll aber sind die Wahrheitsprogramme als heuristische Idee, durch die wir bemerken, wie wir mit unterschiedlichen Wahrheitssystemen umgehen; so sind sie klare Vorübungen zu ungetrübter Ambiguitätstoleranz und zum Verstehen unterschiedlicher Denksysteme. Eine besondere Bedeutung erhalten sie dann, wenn wir die Übergänge, die möglichen Interdependenzen und Analogien und die Dynamiken zum Thema machen, die sich in den Rand-, Konflikt- und Schwellenbereichen zwischen Denksystemen zeigen.

      Rudolf Steiners vielleicht prägnanteste Adaption der Wahrheitsprogramme avant la lettre ist seine Unterscheidung zwischen sinnesbasierter und übersinnlicher Wissenschaft in der Schrift »Von Seelenrätseln« (GA 21, 32 f.). Beide Wissenschaften – es geht in der Konsequenz um das Verhältnis der Anthroposophie zu den Naturwissenschaften bzw. den akademischen Wissenschaften im Allgemeinen – verhielten sich zueinander, wie das Positiv und das Negativ einer Fotoplatte. Diese Idee, dass sie vollkommen identisch seien, nur auf verschiedenen Wellenlängen liefen, ist eine Utopie, sofern sie ganz wörtlich genommen wird. Es kann sich nicht um zwei gleich große Landkarten handeln, die nur übereinanderzulegen wären. Die Analogie ist anders gemeint.26 Aber auch hier hat die Idee der Wahrheitsprogramme ihren heuristischen Wert und wie Steiner im Kontext auch ausführt, gewinnt gerade die Übergangsdynamik zwischen den Feldern die eigentlich forscherische Bedeutung.

      Drittens tritt uns die Anthroposophie Steiners gesellschaftlich nicht in jener Form entgegen, wie wir es von Wissenschaften gewohnt sind, auch wenn Steiner sich konzeptuell um eine Hochschul-Struktur bemüht hat. Die Anthroposophie ist nicht – oder höchst selten – Teil jener akademischen und öffentlichen Institutionen, in welchen die Lehrpersonen auf der Grundlage von Expertise prinzipiell austauschbar sind. Vielmehr treffen wir auf eine Institution (und auf Institutionen), in der sich von Anfang an Menschen um ihren Lehrer Rudolf Steiner herum gruppiert haben, dessen Wort nach ihrer Entscheidung den Maßstab der Erkenntnissuche darstellt. Auch in rein gesellschaftlicher Hinsicht bleibt Steiners Wissenschaft zentriert auf seine Person. Faktisch ist hier zwar stark zu differenzieren, gleichwohl entspricht das nicht grundlos dem starken äußeren Bild. Steiner sprach in erster Linie zu seinen Schülern und er sprach selten von Gleich zu Gleich und wurde wohl noch seltener so angesprochen. Insofern ist für das in Frage stehende Wissenschaftsverständnis seine Rolle als charismatischer Lehrer zu reflektieren, eines Lehrers, der von seinen damaligen Schülern schon rein erkenntnisökonomisch als überragende Gestalt gesehen wird und unter dessen Führung als Generalsekretär die Theosophische Gesellschaft als Organisation entschieden wächst und unter dessen Anleitung ein wunderbarer Bau wie das erste Goetheanum entsteht – finanziert und aufwändig erbaut durch eine größere Gruppe von Menschen. Können die Schüler eines stark charismatischen Lehrers frei sein? Oder stehen sie lediglich unter seinem Einfluss, dem es wesentlich darum geht, seine Machtposition zu erhalten? Das Moment der Erzählung, wie auch immer erfolgreich, war für Steiner das Mittel, unangemessene Einflüsse des Charismas zu brechen.

      Der Historiker Helmut Zander hat in einer der umfangreichsten Studien, die zum Werk Steiners bisher vorliegen, Steiner im Sinne von Max Webers Konzept der charismatischen Herrschaft verstanden und damit seiner Untersuchung starke und nicht angemessen reflektierte Grenzen gezogen.27 Zwar ist Steiner eindeutig eine charismatische Gestalt. Zander reduziert aber Steiner auf dessen herrschaftssoziologische Effekte. So untersucht er – um ein Beispiel zu nehmen – die Bedeutung des Geheimnisses lediglich unter machtpolitischen Vorzeichen, sieht in der »vereinskonstitutiven Funktion die zentrale Bedeutung des theosophischen


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