Die von Europa träumen. Melita H. Šunjić

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Die von Europa träumen - Melita H. Šunjić


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nach Frankreich kommen und eine freundliche Dame mit einem Hündchen treffen. Sie würde ihn aufnehmen wie einen Sohn. Er hätte ein Zimmer, könnte in die Schule gehen und einen Beruf erlernen. Dann würde er arbeiten, seine Schulden abbezahlen und ab und zu mit dem Hündchen spazieren gehen. Mit solchen Fantasiebildern überlagerte Berhane abends die Erinnerungen an die Schrecken des Tages.

      Schließlich hatte Berhane den Rest des Lösegelds abgearbeitet und konnte die Reise über das Mittelmeer antreten. Mit kleinen Booten brachten die Schlepper sie zu einem größeren Schiff. Vierhundertsiebzig Leute, darunter sechsunddreißig Kinder waren auf dem Boot. Sie kamen aus verschiedenen Ländern Afrikas, doch eines hatten sie alle gemeinsam: die Angst vor dem Meer. Sie wurden auf zwei Decks untergebracht, Berhane kam auf das obere Deck. Das Unterdeck war nur durch eine kleine Luke zu erreichen und er dachte bei sich, dass sich von den Passagieren wohl kaum einer retten würde können, falls das Boot sank.

      Sechzehn Stunden fuhren sie über das Meer. Was als mondhelle und windstille Nacht begonnen hatte, wurde zu einem stürmischen und regnerischen Vormittag. Das Boot schlingerte auf den Wellen und die Menschen schrien vor Angst. Einmal zog ein großes Schiff an ihnen vorbei, aber es half ihnen nicht. Nach einer weiteren Stunde tauchte aus dem Grau des Unwetters ein Fischerboot auf, nahm sie in Schlepptau und brachte sie nach Lampedusa.

      Italien! Endlich! Die meisten Menschen auf dem Boot weinten vor Erleichterung, auch Berhane rannen die Tränen übers Gesicht, als sie ausstiegen.

      Sie bekamen zu essen und zu trinken. Menschen in orangefarbenen Westen versorgten die Kranken und registrierten die Namen der Neuankömmlinge. Sie hatten freundliche Augen, mehr sah Berhane nicht von ihren Gesichtern, denn sie trugen Mundschutz. Angesichts des Gestanks konnte er es ihnen nicht verübeln.

      Noch am selben Tag wurden die meisten Neuankömmlinge aufs Festland gebracht, auch Berhane. Mit Bussen transportierte man sie in eine nahe gelegene Stadt, zu einem Aufnahmelager. Dort mussten sie sich anstellen, um registriert zu werden. Bald machte unter den Wartenden das Gerücht die Runde, dass man ihnen hier die Fingerabdrücke abnehmen würde. Das war nicht gut und Berhane begann vor Angst zu schwitzen. Er wusste, dass man in Italien bleiben musste, wenn sie die Fingerabdrücke einmal hatten. Wer weiterzog, wurde angeblich wieder nach Italien zurückgeschickt. Davon hatten viele Mitreisende auf dem Schiff gesprochen. Einige sagten sogar, man sollte sich am besten die Fingerkuppen verbrennen oder mit einer Rasierklinge abschneiden. Berhane würde so etwas nicht über sich bringen, das wusste er. Allerdings wollte er auch nicht in Italien bleiben. Er wollte doch unbedingt nach Frankreich, dieses Land, das er sich seit dem Selfie auf Facebook so schön vorstellte.

      Zusammen mit zwei anderen Eritreern, die er auf der Bootsfahrt kennengelernt hatte, fasste Berhane einen Entschluss. Man würde einen günstigen Moment abwarten und sich aus dem Staub machen. Als dann am Beginn der Warteschlange ein Geschrei ausbrach und das Aufsichtspersonal nach vorne eilte, schlichen sich etliche Wartende davon, so auch er und seine Freunde. Sie mussten nach Norden, er nach Frankreich, die anderen beiden wollten in die Schweiz beziehungsweise nach Deutschland, weil sie dort Verwandte hatten.

      Einer der Burschen besaß ein Smartphone und hatte Landkarten von Italien heruntergeladen, die man offline benutzen konnte, und so marschierten sie entlang einer Hauptverkehrsstraße los. Es war unglaublich. Sie kamen durch Dörfer, wo die Menschen sie freundlich grüßten. Eine alte Frau winkte sie zu sich und gab ihnen einen warmen Laib Brot, den sie wohl gerade aus dem Backofen genommen hatte, sowie eine Flasche Wasser. Wie wunderbar doch die Menschen in Europa waren, dachte Berhane. In der nächsten Stadt fanden sie die Busstation und fuhren los. Gemeinsam reisten sie nach Bologna, dort trennten sich ihre Wege. Berhane wollte über Genua zum Grenzübergang Ventimiglia. Das sei der beste Weg nach Frankreich, stand auf den eritreischen Facebook-Seiten.

      In Genua hatte Berhane kein Geld mehr, doch am Bahnhof traf er Landsleute, die ihm erzählten, wo er am Markt Kisten schleppen und etwas verdienen konnte. So arbeitete er am Tag und schlief nachts im Park, bis er das Geld für die Busfahrkarte beisammenhatte. Ein Eritreer riet ihm, es erst mit Autostopp zu versuchen, um Geld zu sparen. Und tatsächlich blieb ein Lastwagen stehen und der Fahrer nahm ihn mit. Diesmal musste er nicht unter Schafen kauern wie in Libyen, sondern durfte neben dem Fahrer in der Kabine sitzen. Berhane war in Hochstimmung. Ein Gespräch scheiterte an Sprachbarrieren, doch der Fahrer schenkte ihm eine Flasche Mineralwasser.

      Einige Kilometer vor der Grenze bedeute ihm der Fahrer, dass er nun aussteigen müsse, und wies ihm die Richtung und sagte etwas von Polizei. Berhane bedankte sich und stieg aus. Wie gut sich Europa doch anfühlte, dachte er wieder und ging los.

      Je näher er zur Grenze kam, desto mehr wuchsen seine Bedenken. Er sah viele Afrikaner in den Straßen, in den Parks stehen und sitzen, dann sogar in Zelten und unter Planen. So einfach, wie er sich das vorgestellt hatte, würde es wohl doch nicht werden, dachte Berhane bei sich. Als er zwei Männer Tigrinya sprechen hörte, wandte er sich an sie und fragte nach, was hier los sei. Was er hörte, stimmte ihn nicht froh. Die zwei Eritreer waren schon seit mehreren Monaten in Ventimiglia. Beide hatten schon mehrmals versucht, über die Grenze zu gelangen, und waren jedes Mal von der französischen Polizei aufgegriffen und zurückgebracht worden. Die Polizisten waren nicht brutal, »im Vergleich zu Libyen sind sie nett«. Aber sie gingen entschlossen und kompromisslos gegen illegale Grenzübertritte vor.

      Wie ihnen beiden gehe es allen hier, berichteten ihm seine neuen Bekannten. Sie lebten in einem improvisierten Zeltlager und wurden von NGOs mit dem Nötigsten versorgt. Keiner wollte aufgeben. Diese beiden Männer wollten eigentlich nur durch Frankreich durchreisen, um nach Großbritannien zu gelangen, und sie waren zuversichtlich, dass sie es eines Tages schaffen würden.

      Auch Berhane suchte sich einen Schlafplatz unter Bäumen. Er ergatterte einen Schlafsack von einer Hilfsorganisation und blieb den ganzen nächsten Tag darin liegen, um über seine Zukunft nachzudenken. Er hatte so viel erlitten und doch durchgehalten, weil er überzeugt gewesen war, dass in Europa alles schlagartig besser sein würde. Was nun? Warten? Worauf und wie lange? Er war mittlerweile neunzehn Jahre alt und hatte in den beiden letzten Jahren so viel Schreckliches gesehen und erlebt, dass er sich nichts anderes wünschte als ein ruhiges Leben und einen Job, der es ihm erlaubte, seine Schulden zurückzuzahlen und seine Familie zu Hause zu unterstützen. Er wollte so gerne seine Schulausbildung beenden und einen Beruf erlernen.

      Ob man nicht einfach in Italien bleiben könnte, fragte er sich. Das war doch auch Europa und es war ein schönes Land mit vielen freundlichen Menschen. Er beriet sich mit seinen Landsleuten, doch die teilten seine Meinung nicht. Andere Länder seien viel besser als Italien, sagten sie. Da gebe es mehr Arbeit und mehr Verdienstmöglichkeiten. Da beschloss Berhane, noch zu warten. Immer wieder gab es Gerüchte, dass die Grenze geöffnet würde. Ab und zu schaffte es einer nach Frankreich und schickte dann Fotos und kurze Videos an seine zurückgelassenen Weggefährten. Die schöpften dann wieder Hoffnung und harrten weiter unter ihren Zeltplanen aus.

      Auch Berhane verbrachte mehrere Monate in diesem Schwebezustand zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Als der Herbst ins Land zog und es kalt und regnerisch wurde, boten die Planen keinen Schutz mehr. Er hatte keine Lust, länger sein Leben so zu vertrödeln. Mittlerweile kannte er die Helfer aus den NGOs und wusste, dass sie auch Rechtsberatung anboten. In Europa war es eben nicht so, dass man sich einfach eine Arbeit und eine Wohnung suchen und bleiben konnte. Er musste Asyl beantragen, erklären, warum er gekommen war, und hoffen, dass man ihm Glauben schenkte. So ein Asylverfahren konnte viele Jahre dauern und erst am Ende würde Berhane wissen, ob er bleiben durfte oder ob sie ihn zurückschicken würden. Er schauderte bei dem Gedanken, dass er umsonst so viel gelitten haben könnte. Wie würde er seine Schulden bezahlen, wenn sie ihn zurückschickten? Er würde Schande über die ganze Familie bringen.

      Doch die Rechtsanwältin überzeugte ihn, dass es keine andere Möglichkeit gab. Würde er sich bis Frankreich durchschlagen, dann müsste er eben dort so ein Asylverfahren durchlaufen. Das war in ganz Europa so. Erst wenn sein Antrag angenommen wurde, konnte er an Ausbildung oder Arbeit denken.

      Weder zu Hause noch unterwegs hatte er je daran gedacht, dass das Leben in Europa schwierig sein könnte. Er hatte sich das so schön ausgemalt, mit seiner Adoptivmutter und ihrem Hund, dachte er wehmütig, wenn er eine Frau mit Hund sah.

      Er


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