Lebendigkeit entfesseln. Silke Luinstra
Читать онлайн книгу.Fehler, sich in einem System einzurichten, in dem Menschen ihre Verantwortung dauerhaft delegieren.
Mit der Verantwortung ist es wie mit Muskeln: Wird sie nicht trainiert, ist sie weniger stark.
Vor allem wegen dieser Konsequenzen ist mir die Lebendigkeit in Organisationen so wichtig. Nur die Unternehmen zu optimieren, das wäre mir zu wenig. Es ist vielmehr notwendig, dass wir die Wirkungen der in unseren Unternehmen herrschenden Systeme auf allen Ebenen betrachten. An der Stelle haben wir in der Vergangenheit doch das ein oder andere Auge zugedrückt oder uns gleich beide Augen fest zugehalten.
Wir feiern technischen Fortschritt und Innovationen – und übersehen die ungleiche lokale wie globale Verteilung der Gewinne aus diesen Errungenschaften. Wir feiern eine Vervielfachung der industriellen Produktivität – und übersehen die ökologischen Konsequenzen dieses Wohlstandsanstiegs. Wir feiern individuelle Leistung – und übersehen diejenigen, die unserer Unterstützung bedürften, weil sie aus welchen Gründen auch immer weniger zu leisten imstande sind. Wir feiern persönliche Freiheit – und übersehen die unterschwelligen Fesseln. Wir feiern freie Märkte und Konkurrenz – und übersehen ihr Versagen an wichtigen Stellen und den bisweilen belastenden Druck, den sie auf viele ausüben. Das sind nur einige Aspekte, die wir bisher ausblenden. Echte Lebendigkeit kann es nur geben, wenn wir beide Augen aufmachen.
Es geht um nichts weniger als die Frage, was für eine Welt wir unseren Kindern hinterlassen wollen. Das macht uns die nachfolgende Generation mit ihren Protesten mit einer Vehemenz deutlich, wie es junge Menschen zuvor selten getan haben. Sie fokussieren dabei vor allem auf die ökologische Katastrophe – doch ich fürchte, die soziale könnte mindestens genauso einschneidend werden.
Sollten Sie angesichts meiner letzten Zeilen einen Anflug von Frust erleben, so ist das weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidbar (frei nach Heinrich Böll). Frust ist natürlich nie angenehm, aber wichtig! Aus der empfundenen Diskrepanz zwischen Soll und Ist entsteht Tatkraft. Insofern nehme ich Ihren Frust an dieser Stelle billigend in Kauf. Doch wie kommen wir aus der Nummer raus? Wie können wir unsere Unternehmen und unsere Gesellschaft wiederbeleben? Was die Unternehmen betrifft, gibt es da nicht längst ermutigende Ansätze, die unter dem Stichwort »New Work« diskutiert und praktiziert werden? Ist das schon die Lösung? Lassen Sie uns genauer hinschauen!
Eine neue Neue Arbeit?
Wenn ich mit Gesprächspartnern über meine Arbeit und meine Gedanken spreche, höre ich oft: »Ach, Sie gehören also wohl auch zu dieser New-Work-Bewegung?«
Meine kurze Antwort ist dann meist: »Nein.« Die etwas längere: »Ich finde viele Diskussionen, die von New-Work-Aktivisten in den letzten Jahren angestoßen wurden, wichtig. Gleichzeitig fremdele ich sehr mit dem, was mir unter der Flagge ›New Work‹ alles so begegnet. Immer noch.«
Ernsthaft?
Ein kalter Januarabend im Jahr 2016 in Berlin, der Saal des Museums für Kommunikation ist festlich geschmückt, es leuchtet und glitzert. Ein Preis für »Neue Konzepte der Arbeit« wird verliehen. Drei Gewinner. Platz drei ging an ein Unternehmen, das die Arbeitswoche auf 36 Stunden verkürzt und auf vier Tage verteilt hat. Mein erster, spontaner Gedanke? »Ernsthaft? Ihr zeichnet ein Unternehmen aus, das die Arbeitszeit anders verteilt?« Ich fragte mich, ob ich es wirklich als Vorteil werten sollte, vier lange statt fünf kürzere Tage zu arbeiten.
Ja, das war 2016, da hat sich doch viel getan, mögen Sie denken. Nun, 2017 gewann ein großes, international tätiges Unternehmen denselben Preis dafür, dass die Mitarbeiter »überall gleichermaßen gut arbeiten« können und 70 Prozent der Belegschaft mindestens einmal pro Woche unterwegs oder zu Hause arbeiten. 2018 war wieder ein Unternehmen mit 4-Tage-Woche und Sommer-Sabbatical dabei, 2019 gab es den Preis für ein Unternehmen, das Fünf-Stunden-Tage eingeführt hatte. Jeden Tag Arbeit von 8 bis 13 Uhr. Alle Mitarbeiter arbeiten in diesen Stunden selbstorganisiert, Meetings gibt es kaum oder nur kurz und »Störfaktoren wie Smalltalk werden vermieden«, wie es in der Laudatio hieß. Dieses Beispiel hat inzwischen international Resonanz erfahren, bis hin zu einem Artikel in der »New York Times«. Und jedes Jahr dachte ich wieder: »Ernsthaft?«
Nun ist es natürlich nicht falsch, sich über intelligente Arbeitszeitmodelle Gedanken zu machen und da neue Wege zu erproben. Was mich aber dennoch daran stört? Mir geht es weniger darum, dass solche Ansätze nicht für alle Unternehmen oder Aufgaben anwendbar sind. Es geht nicht um die viel zitierte Pflegekraft, die ihre Arbeit nicht mit nach Hause nehmen kann, oder den Polizisten, der kein Homeoffice machen kann. Das ist mit jedem Konzept so, nichts passt immer. Was mich wirklich stört, ist die Verkürzung von New Work auf »mobil und flexibel«. Da bin ich raus, um den Designer Guido Maria Kretschmer zu zitieren.
Manchmal erzeugen Medikamente erst den Schmerz, den sie zu bekämpfen versuchen.
Ich bin raus, weil wir mit »Zeit und Ort« an Symptomen unserer Arbeitswelt herumdoktern und nicht an dem arbeiten, was diese Arbeitswelt zentral ausmacht. Und das sind eben vielfach noch hierarchische Strukturen, Fremdbestimmung, Beschäftigung statt Arbeit und einseitige Bevorzugung der Shareholder gegenüber anderen Stakeholdern. Nun ist es natürlich manchmal sehr hilfreich, ein Symptom zu kurieren. Das ist bei Kopfschmerzen nicht anders. Kurzfristig hilft die Tablette, doch die Ursache für die Schmerzen verschwindet meistens nicht und kann sich sogar unbemerkt verschlimmern. Und manchmal erzeugen Medikamente erst den Schmerz, den sie zu bekämpfen versuchen.
Ich befürchte, dass eine so verstandene »Neue Arbeit« weder für mehr Kreativität, Produktivität und Innovationen in unseren Unternehmen sorgen noch uns Menschen zufriedener machen wird. Das wurde mir neulich wieder sehr bewusst, als ich bei einem Vortrag eines Kollegen im Publikum saß. Engagiert hatte er über New Work und dabei besonders über flexible Arbeit in Zeit und Raum gesprochen. Applaus, kurzer Dialog mit dem Publikum. Dann die letzte Frage eines Zuhörers: »Aber guter Mann, wird uns dieses New Work glücklicher machen?« Der Redner schwieg lange und sagte dann: »Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht.« Die Stille im Raum nach seiner Antwort war ergreifend und zugleich die wichtigste Botschaft des Vortrags.
Was wollen Sie wirklich, wirklich tun?
Wenn Sie ein bisschen tiefer in das Thema »New Work« eingetaucht sein sollten, haben Sie vermutlich während der letzten zwei Seiten gedacht: »Aber das ist doch viel mehr als flexible Arbeitszeiten und Homeoffice.« Definitiv ist es das – oder sollte es zumindest sein. So zumindest war es auch im ursprünglichen Konzept von Frithjof Bergmann angelegt. Für ihn war und ist Neue Arbeit nicht nur einfach eine bessere, andere, freiere Art zu arbeiten. Bergmanns Buch »Neue Arbeit, Neue Kultur« habe ich vor einigen Jahren an einem einzigen Tag durchgelesen. Es hat mich gefesselt, vor allem wegen des Geistes, in dem es geschrieben ist.
Der inzwischen über 90-jährige austro-amerikanische Philosoph beschreibt darin, wie er mit seinem Team schon Ende der 1970er-Jahre in der Automobilstadt Flint in den USA vor der Frage stand, wie mit den Folgen der zunehmenden Automatisierung in der Automobilindustrie umgegangen werden könnte. Massenentlassungen, so die Befürchtungen, standen unmittelbar bevor. Die Ähnlichkeiten mit der heutigen Diskussion um die Auswirkungen der Digitalisierung sind frappierend. Der durchaus radikale Vorschlag Bergmanns, wie Massenentlassungen zu vermeiden seien, lautete: Die Menschen arbeiten ein halbes Jahr am Fließband und tun ein halbes Jahr etwas anders. Etwas, was sie »wirklich, wirklich tun wollen«. »Wie bitte?«, mögen Sie jetzt denken. »Die Menschen sollten ein halbes Jahr lang auf dem Sofa herumliegen und warten, dass sie wieder arbeiten können?« So haben Bergmann und seine Leute das nicht gemeint. Sie haben mit ihren »Zentren der Neuen Arbeit« Menschen unterstützt, herauszufinden, was es ist, das sie »wirklich, wirklich tun wollen« – und Wege aufgezeigt, damit Teile ihres Lebensunterhalts zu bestreiten. Das, so die Idee, sollten die Menschen in der anderen Hälfte ihrer Zeit tun.
Von diesen Erfahrungen hat Frithjof Bergmann 2017 anlässlich der Veranstaltung »New Work