Lebendigkeit entfesseln. Silke Luinstra
Читать онлайн книгу.sich Entscheidendes geändert: Die Märkte sind in nahezu allen Branchen an ihre Grenzen gestoßen. Es ist jetzt auf ihnen wieder ganz schön eng, auch wenn sie den gesamten Globus umfassen. Jeder Konkurrent, der eine gute Idee hat und Kundenwünsche besser erfüllt, nervt die anderen. Unmittelbar und schnell. Marktanteile verschieben sich in Windeseile, Nokia und Schlecker sind nur zwei von vielen Beispielen. Beide hatten mit Apple bzw. dm in ihrer jeweiligen Branche Konkurrenten mit verdammt guten Ideen. Der Ausgang der Geschichten ist bekannt.
In globalen, engen Märkten brauchen Sie Ideen, Flexibilität und Kreativität. Blöderweise hat der Taylorismus aber diese menschlichen Fähigkeiten quasi stillgelegt. Das war in den trägen Märkten eine intelligente Vorgehensweise, weil es in erster Linie um Effizienz ging. In den dynamischen Märkten von heute ist das aber nun mal anders.
Übersehen wird beim Taylorismus auch, dass die materiellen Wohlstandsgewinne keineswegs als einziger Maßstab für ein gutes Leben gelten können und ein steigendes Bruttoinlandsprodukt nicht zwangsläufig zu einer höheren Lebensqualität führt. Zu sehr sind inzwischen die Nebenwirkungen dieser Art des auf Wachstum gerichteten Wirtschaftens deutlich, allen voran Ressourcenverbrauch und Umweltverschmutzung.
Neben dieser wirtschaftlichen Dynamik trägt zweitens auch die seit den 1990er-Jahren veränderte politische Weltordnung zur Steigerung der Komplexität bei. Diesen zweiten Grund höre ich in Diskussionen rund um die veränderten Umweltbedingungen in unseren Organisationen aber viel seltener. Wenn zum Beispiel über mögliche Folgen des EU-Austritts Großbritanniens gesprochen wird, dann geht es eher um konkrete Auswirkungen wie drohendes Datenchaos, lange Staus angesichts wieder notwendiger Zollabfertigungen oder verringerte Exportchancen für die deutschen Unternehmen. Dass durch Ereignisse wie den Brexit Unsicherheit und Komplexität insgesamt weiter steigen, taucht eher in Nebensätzen auf.
Wussten Sie, dass das heute vor allem in der Wirtschaft genutzte Akronym VUCA ursprünglich von der U.S. Army stammt? Dort beschrieb man damit, wie sich die Bedingungen in der multilateralen Welt im ausgehenden 20. Jahrhundert verändert hatten – wie volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig die Welt geworden war. Nach dem Ende des Kalten Kriegs gab es viel mehr unvorhersehbare Ereignisse und unvorstellbar viele Einflüsse, sodass alte Spielregeln militärischer Auseinandersetzungen nicht mehr galten. Das führte in der Army zu einem radikalen Umdenken – und zum Umbau in eine agile Organisation.
Interessant ist, dass eine der hierarchischsten und stark von »command and control« geprägten Organisationen zu einer der Vorreiterinnen in Sachen Agilität wurde. Doch nicht nur die Regeln auf dem politischen und militärischen Spielfeld haben sich durch die Umwälzungen in der Weltordnung der letzten gut 30 Jahre massiv verändert, sondern diese hatten natürlich auch Folgen für wirtschaftliches Handeln rund um den Globus – allein schon dadurch, dass es kaum noch einen Gegenentwurf zum kapitalistisch organisierten System gibt und so auf die soziale Marktwirtschaft immer weniger Druck ausgeübt wird, auf ihr Adjektiv wirklich zu achten.
Der dritte Aspekt ist nicht minder wichtig: Menschen wollen heute kein Produktionsfaktor mehr sein, der Anweisungen ausführt. In Zeiten des Taylorismus scheint es ein gesellschaftlicher Konsens gewesen zu sein, dass die Mitarbeiter x Stunden am Tag darauf verzichten, ihre Fantasie, ihre Ideen, ihre Kreativität zu nutzen, und stattdessen Ansagen ausführen. Das »x« wurde dabei immer wieder neu ausgehandelt und bessere Arbeitsbedingungen wurden erstritten. Im Wesentlichen blieb es aber dabei: Arbeitskraft und Aufgabenerfüllung gegen Gehalt. Heute wollen Menschen aber ihre Menschenwürde nicht mehr nur in ihrer Freizeit ausleben, sondern auch an ihrem Arbeitsplatz.
Immer festere Knoten
Leicht gemacht wird ihnen das oft noch immer nicht. Viel zu oft gelten Menschen in unseren Unternehmen als menschliche Ressourcen (Human Resources), noch immer werden Mitarbeiter programmiert, bevormundet und lediglich als Ausführende betrachtet. Übertrieben? Ich hoffe es, und gleichzeitig fallen mir leider (zu) viele Geschichten ein, die diese – zugegeben pointierte – Aussage unterstützen. So wie die der Personalleiterin eines großen Unternehmens im Gesundheitswesen, mit der ich am Rande einer Veranstaltung ein langes Gespräch führte.
Meike war selbst gelernte Altenpflegerin und hatte gut 10 Jahre in dem Beruf gearbeitet, bevor sie in den Personalbereich wechselte. Weshalb sie gewechselt habe, fragte ich sie, denn sie hatte vorher erzählt, dass sie den Beruf der Altenpflegerin aus tiefster Überzeugung erlernt und ausgeübt hat. Der Job war schon immer schlecht bezahlt und wenig anerkannt, aber sie wollte dennoch genau das und nichts anderes tun. Was hatte ihr die Freude an ihrem Beruf genommen? Die Kurzfassung ihrer Antwort: »Ich war zu einem Roboter geworden, der Pläne erfüllt«, sagte sie. Jeden Morgen erhielt sie einen minutiös ausgearbeiteten Plan, der ihren Tagesablauf vorgab. Jede Tätigkeit war mit Minutenangaben hinterlegt: Verband bei Herrn Müller wechseln 5 Minuten, Frau Schulze waschen 10 Minuten, Herrn Clausen eine Spritze geben 7 Minuten. Die Fahrzeiten von der Wohnung eines Patienten zur anderen waren noch dazu offenbar abends um 22 Uhr mit Google-Maps kalkuliert worden, jedenfalls hatten sie mit den realen Fahrzeiten morgens um 8.30 Uhr in einer deutschen Großstadt nichts zu tun.
Die Folgen? Stress, Hektik, keine Zeit, mit den alten Menschen ein Wort zu wechseln, geschweige denn, mit Angehörigen und Nachbarn über kluge Möglichkeiten der Unterstützung zu sprechen. Das wäre aber nötig gewesen, um die pflegebedürftigen Menschen nicht nur zu versorgen, sondern ihnen trotz ihrer Krankheiten oder Gebrechen ein möglichst selbstständiges und würdevolles Leben zu ermöglichen. Und dazu wäre es gut, nicht nur Spritzen zu geben und die Wäsche zu wechseln, sondern auch die Zeit zu haben, bei den Nachbarn zu klingeln und um Unterstützung für den Einkauf zu bitten oder den Sohn der alten Dame zu bitten, mit ihr zum Frisör zu fahren. Dafür musste Meike aber erst einmal herausfinden, dass ihre Patientin niemanden mehr zu sich einlud, weil sie sich unansehnlich fühlte. Ein Frisörbesuch hätte also erheblich zum Wohlbefinden der alten Dame beitragen können.
Doch statt Raum für solche kreativen Lösungen gab es immer mehr Prozesse und festgelegte Abläufe – immer mehr Knoten. Dieses Phänomen ist in nahezu allen Organisationen zu beobachten, in denen nach wie vor tayloristische Prinzipien gelten – also in sehr vielen Unternehmen.
Menschen wollen spüren, dass sie zu etwas Relevantem beitragen. Das ist kein »nice-to-have«!
Da Frederik Taylor sein System aber für eine Welt geringer Komplexität entwickelt hat, wir es aber heute mit einer rapide gestiegenen Dynamik zu tun haben, geraten viele Organisationen unter Druck. Doch was tun Organisationen unter Druck? Sie tun mehr von dem, was sie schon kennen. Da unterscheidet sich ihr Muster nicht von dem von uns Menschen. Auch wir sind unter Stress geneigt, das zu tun, was wir schon immer gemacht haben, nur – vermeintlich – besser.
In Unternehmen heißt das in der Regel: Mehr und genauere Planung, akribische Kontrollen, verschärfte Regeln und immer genauer vorgegebene Prozesse. Mit diesen Maßnahmen verbindet sich die Hoffnung, möglichst effizient zu sein. Immer schlanker, kaum noch Redundanzen im System, alles muss laufen wie geplant. Selbst bei gut planbaren Prozessen wie in der Produktion kann es aber vorkommen, dass eine Maschine ausfällt, ein Mensch Fehler macht oder Kunden ungeplante Bedarfe anmelden. Schon fliegt ihnen der Plan um die Ohren. Wo immer Menschen involviert sind, zum Beispiel als Kunden, werden Pläne und Prozesse gar grotesk. Ich erinnere mich noch mit Schaudern an diverse Verkaufstrainings, in denen ich simulierte Kundengespräche anhand bestimmter Formeln und Leitfäden führen sollte. Das hat nicht einmal im Training geklappt, geschweige denn im echten Kundendialog.
Bei allem, was Flexibilität und Kreativität erfordert – wie Gespräche mit Kunden – weist »mehr vom Selben« in die völlig verkehrte Richtung. Und das nicht nur, weil es der steigenden Dynamik nicht gerecht wird, sondern auch, weil es Hoffnungen der Menschen wie den Wunsch nach Selbstwirksamkeit nicht erfüllt. Menschen wollen spüren, dass sie zu etwas Relevantem beitragen. Das ist kein »nice-to-have«, sondern essenziell für unsere psychische Gesundheit. »Sinn aktiviert überhaupt erst unsere Lebensenergie« formuliert der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi.
Meike probierte übrigens nach Kräften, dieses »mehr vom Selben« zu stoppen, die vorhandenen Knoten in den Fesseln zu lösen